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2023 | Buch

Agenda-Cutting

Wenn Themen von der Tagesordnung verschwinden

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Über dieses Buch

Wenn von Nachrichtenauswahl und Thematisierungsfunktion der Medien die Rede ist, fällt schnell das Fachwort Agenda-Setting. Der gegenteilige Begriff, das Agenda-Cutting, ist dagegen viel seltener Gegenstand von wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Diskussionen. Dabei ist das Agenda-Cutting eine weitflächig geübte Praxis in Medien, Politik und Gesellschaft, bei der Themen bewusst oder unbewusst aus den gesellschaftlichen Diskursen entfernt oder herausgehalten werden. Die Initiative Nachrichtenaufklärung beschäftigt sich schon lange intensiv mit der Frage der Vernachlässigung von Themen und Nachrichten. Mit diesem Sammelband wird erstmals das Thema wissenschaftlich tiefgehend von verschiedenen Seiten aus betrachtet.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Wie die Agenda gecuttet wird: Eine Einführung in den Sammelband Agenda Cutting
Zusammenfassung
Das Phänomen Agenda Cutting ist bislang selbst eher ein blinder Fleck in der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Forschung. Das ist durchaus überraschend, da Journalistinnen und Journalisten neben der Auswahl jener Ereignisse, die sie als relevant ansehen, auch entscheiden (müssen), welche Themen sie nicht behandeln wollen oder können. Die Analysen und Diskussionen über die Nachrichtenselektion und -präsentation, wie sie die Initiative Nachrichtenaufklärung seit nunmehr 25 Jahren unternimmt, münden in einer Kritik an der Nachrichtenwert- wie auch der Agenda Setting-Theorie. Nachrichtenaufklärung reagiert auf die Informations- und Verschleierungsumbrüche und stellt sich auch den neuen medialen Herausforderungen durch die Globalisierung einerseits und die Algorithmisierung andererseits. Die im Band versammelten theoretischen Reflexionen und empirischen Untersuchungen, die dieser einleitende Aufsatz Revue passieren lässt, liefern zahlreiche Gründe und Beispiele für das Agenda Cutting und problematisieren dessen Mechanismen. Darüber hinaus wird auch aufgezeigt, wie investigative journalistische und zum Teil auch wissenschaftliche Recherche Agenda Cutting entgegenwirken und somit die Nachrichtenaufklärung vorantreiben kann.
Hektor Haarkötter, Jörg-Uwe Nieland
Agenda Cutting und Nachrichtenaufklärung
Theoretische Überlegungen zu einem problematischen Begriff
Zusammenfassung
Agenda Cutting leitet sich aus einem Groß-Theorem der Kommunikationswissenschaft ab, dem Agenda Setting. Agenda Cutting lässt sich aber auch auf einige andere Theoreme beziehen, etwa die Nachrichtenwerttheorie (Galtung & Ruge), die Theorie der medialen Mediatisierung (Colistra) oder die Nachrichtengeographie (McBride; Kamps). Alle theoretischen Annäherungen leiden unter dem „epistemischen Dilemma“, Nicht-Vorhandenes nachweisen zu müssen. Dennoch gibt es eine ganze Reihe empirischer Untersuchungen, die Agenda Cutting (oft auch ohne explizite Nennung des Terminus) zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Medienkanälen unter spezifischen gesellschaftlichen, medialen und geographischen Bedingungen nachweisen. Um Agenda Cutting theoretisch dingfest zu machen, ist es notwendig, einen wissenschaftlich haltbaren Begriff von Thema und Thematisierung zu entwickeln. Erweist sich die Kommunikationswissenschaft als „Themenforschung ohne Thementheorie“ (Kuhlmann), können doch Nachbardisziplinen wie die strukturalistisch orientierte (Medien-)Linguistik mit Thema-Definitionen aufwarten, der hilfreich sein können (Quaestio-Ansatz; Thema-Rhema-Hypothese). Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff Relevanz, der bei allen Annahmen über Nachrichtenselektion eine Rolle spielt, ohne recht theoretisch reflektiert zu sein. Hier erleichtern Rückgriffe auf die Soziologie (Schütz) und die Handlungstheorie (Handlungsrelevanz) den Zugriff. Agenda Cutting als redaktionelle und mediale Praxis ist etwas, was Menschen in einem gesellschaftlichen Kontext tun. Entsprechend müssen auch die Akteure des Agenda Cutting für die theoretische Reflexion in den Blick genommen werden, und zwar sowohl auf der Produktions- wie auf der Rezeptionsseite. Dann lassen sich auch Handlungsempfehlungen aussprechen, wie einem intentionalen Agenda Cutting entgegengewirkt werden kann, um das Publikum aus einer auch selbstverschuldeten Medienunmündigkeit zu befreien.
Hektor Haarkötter
Erratum zu: Schweigekultur, Tabus und der öffentliche Diskurs: Agenda Cutting in Japan
Yosuke Buchmeier

Was Agenda Cutting ist … Grundlagen und theoretische Positionen

Frontmatter
Agenda Cutting: An Update on the Phenomenon and its Importance
Abstract
Much research on how “the agenda is set” has arisen in communications studies, over the last half century. A counterpart phenomenon to be called “agenda cutting” was then proposed—first in a book published in 1988; it is now substantiated with evidence from many countries. The essence of the phenomenon is that it is NOT censorship—imposed ‘vertically’ by institutions with authority, upon those who elaborate the news agenda, but it is a ‘horizontal’ phenomenon in which practitioners omit what are otherwise important stories and topics, for various reasons of their own accord. The article discusses possible causes.
Joseph Mallory Wober
Vom Filter in die Arena
Das Propagandamodell als Schlüssel für die Agenda Cutting-Forschung
Zusammenfassung
Dieser Beitrag schlägt vor, das Propagandamodell von Herman und Chomsky neu zu denken. Statt strukturelle Einflüsse auf die Agenda der Leitmedien mit einer Filtermetapher zu erklären, wird hier davon ausgegangen, dass die Medienrealität umkämpft ist und dass diese Kämpfe in Arenen ausgetragen werden, die sich beschreiben und analysieren lassen. Agenda Cutting ist aus dieser Perspektive ein komplexer Prozess, der erstens mit jeweiligen Diskursordnung zu tun hat, zweitens mit der Organisation des Mediensystems, drittens mit den Ressourcen, die Behörden, Parteien, Unternehmen oder andere Organisationen in ihre öffentliche Wahrnehmung stecken, und viertens mit den Strukturen eines journalistischen Feldes, das von Akademisierung (und damit einem eingeschränkten Zugang) sowie von Lohnabhängigkeit geprägt ist.
Michael Meyen
Wenn Information gecancelt wird – Nachrichtenjournalismus und „Agenda Cutting“
Zusammenfassung
Eine verlässliche und vertrauenswürdige Nachrichtenversorgung ist Grundlage jeder funktionierenden demokratischen Öffentlichkeit. Freien Gesellschaften droht schwerer Schaden, wenn wichtige Nachrichten fehlen. „Agenda Cutting“ im Sinne von Unterdrücken, Verdrängen, Marginalisieren oder Entstellen von relevanter Information verdient nicht nur unsere Beachtung, sondern auch unseren Widerstand. Agenda Setting und Agenda Cutting sind zwei Seiten einer Medaille. Die individuelle, mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit sind jeweils begrenzt. Wer Themen gezielt setzt, der verdrängt andere – und umgekehrt. Angemessenes Gehör für Inhalte zu finden, das ist nicht nur ein vordringliches Interesse des Nachrichtenjournalismus. Die Frage beschäftigt genauso Marketing, Politik und weitere Bereiche. Kein Wunder, denn in der digitalen Ära ist der Faktor Aufmerksamkeit noch einmal wichtiger, knapper und umkämpfter geworden. Mein Blick auf das „Agenda Cutting“ gilt zunächst den gesellschaftlichen Kräften, die den Spielraum des Informationsjournalismus definieren und bedingen. Danach geht es um das Handlungsfeld der Redaktionen im engeren Sinn. An diese Problembeschreibung schließen sich Lösungsvorschläge an.
Marco Bertolaso

Wie Agenda Cutting erfolgt … Empirische Untersuchungen

Frontmatter
Thema abgelehnt – Wie relevante Storys im Mülleimer landen
Empirische Analyse einer Kommunikator-Befragung zu Agenda Cutting in Redaktionen
Zusammenfassung
Journalistinnen sehen sich jeden Tag aufs Neue der Entscheidung gegenüber, welches Ereignis Einzug in das jeweilige Medium erhält und welches Ereignis unter den Tisch fallen muss. Der Beitrag erörtert, welche entscheidungstheoretischen Ansätze den täglichen innerredaktionellen Verfahren zugrunde liegen und welche möglichen Schwierigkeiten die Journalisten selbst bei diesen Entscheidungen haben. Zur Erklärung der innerredaktionellen Verfahren nehmen die Autoren die Hypothese vom Journalisten als „homo oeconomicus“, ein modifiziertes Rational Choice-Modell aus der Politikwissenschaft und das sogenannte Mülleimer-Modell der Organisationstheorie in den Blick. In einem zweiten Teil folgt die Analyse einer Kommunikator-Befragung, die, wenn auch bei einer recht kleinen Stichprobe von 43 Interviews, deutlich macht, dass Agenda Cutting in Redaktionen existiert und auch der Einfluss externer Akteure auf die Themenauswahl eine Rolle spielt. Ein besonderes Augenmerk gilt auch den Unterschieden in den öffentlich-rechtlichen und den privaten Medienhäusern.
Hektor Haarkötter, Filiz Kalmuk
Nur die halbe Wahrheit?
Wie alternative Onlinemedien in der Coronapandemie berichten. Eine empirische Untersuchung
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag gibt Aufschlüsse darüber, wie Autor:innen alternativer Onlineplattformen den Diskurs zu Beginn der Coronapandemie im Frühjahr 2020 gestalten. Hierfür werden die Ergebnisse einer Diskursanalyse präsentiert, wobei sich der Fokus auf die Verwendung von Quellen in der alternativen Berichterstattung richtet. Es zeigt sich, dass die Auswahl von Quellen und Zitate äußerst selektiv erfolgt, weshalb es letztlich nur bestimmte Themen und Aussagen in die Nachrichtenagenda schaffen, während andere wiederum, die nicht ins eigene Weltbild zu passen scheinen, außer Acht gelassen werden. Die Strategie, unliebsame Quellen außen vor zu lassen, kann auch als Agenda Cutting verstanden werden.
Kathrin Keller
Der Fall Corona: Journalismus im Dienste des Social Engineering am Beispiel der Anti-Masken-Linie der US-amerikanischen und deutschen Medien im Frühjahr 2020
Zusammenfassung
Agenda Cutting ist ein komplexes Konzept. Wer sind diejenigen (Personen oder Institutionen oder Strukturen), die Dinge „von der Tagesordnung streichen“, „aus der Agenda herauskürzen“? Am Beispiel der journalistisch-massenmedialen Kommunikation in den ersten Monaten der Corona-Krise in Bezug auf die Sinnhaftigkeit des Maskentragens (in den USA und in Deutschland) will der Beitrag darauf hinweisen, dass es oft genug der Journalismus selbst ist, der wichtige Dinge verschwinden lässt, insbesondere dann, wenn die Gesinnung der maßgeblichen Journalistinnen und Journalisten derjenigen der Mächtigen entspricht. So polemisierten journalistische Medien im Frühjahr 2020 fast unisono und im Einklang mit Politik und Gesundheitsbehörden gegen das Maskentragen, obwohl sie es besser hätten wissen müssen und z. T. auch später einräumten, es besser gewusst – und also im Dienst der guten Sache gezielt gelogen – zu haben. Das hat in Zeiten, in denen der „Haltungsjournalismus“ derjenigen, die sich mit scheinbar guten Sachen gemein machen, ebenso modern ist wie eine wahnhafte und zum Hass gesteigerte Skepsis gegen die „Mainstream-Medien“, eine Bedeutung, die über das Beispiel hinausweist.
Daniel Müller
Cutting Africa
Über die mediale Vernachlässigung eines Kontinents
Zusammenfassung
Da die meisten Europäer*innen kaum Primärerfahrungen auf dem afrikanischen Kontinent sammeln, ist es umso wichtiger, dass die Massenmedien möglichst vielfältig über Afrika, seine Menschen und Staaten berichten. Wie umfassend und mit welchem thematischen Zuschnitt Afrika in den Medien erscheint, wurde bislang allerdings nur sehr eingeschränkt untersucht. Kaum Analysen lagen bislang über das Afrikabild deutscher Fernsehnachrichten vor. Dieser Text beleuchtet die Afrikaberichterstattung der ARD-Tagesschau zwischen 1952 und 2018. Im Rahmen einer quantitativen Inhaltsanalyse wurden 1685 Beiträge aus sieben Jahrzehnten Tagesschau untersucht. Dabei zeigt sich, dass über die allermeisten afrikanischen Staaten kaum, über einige sogar überhaupt nicht berichtet wird. Vor allem in Zentral- und Westafrika ist diese Form des Agenda Cuttings evident. Thematisch liegt der Fokus klar auf politischen, militärischen und gesellschaftlichen Perspektiven, wobei negativ gerahmte Nachrichtenthemen (Krisen, Kriege, Konflikte) im Vordergrund stehen – und mit der Zeit immer präsenter werden. Zwar bestehen diesbezüglich von Land zu Land Abstufungen, insgesamt aber ist der Negativfokus ein allgegenwärtiges Merkmal des Tagesschau-Afrikabildes.
Fabian Sickenberger
Vergessene Welten und blinde Flecken
Die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens
Zusammenfassung
Die Länder des Globalen Südens werden in den Nachrichten der Tagesschau und anderer Leitmedien stark marginalisiert oder sogar ignoriert. Soziopolitische Entwicklungen und Katastrophen im Globalen Süden werden, bis auf wenige überwiegend militärische Ausnahmen, kaum wahrgenommen. Dies dokumentiert die Langzeitstudie Vergessene Welten und blinde Flecken, die u. a. 5100 Sendungen der Tagesschau aus den Jahren 1996 und 2007–2019 sowie verschiedene in- und ausländische Leitmedien untersucht hat. Im „Pandemiejahr“ 2020 hat sich diese Situation sogar noch zugespitzt.
Ladislaus Ludescher

Wie Agenda Cutting strategisch eingesetzt wird … Der Blick auf die andere Seite

Frontmatter
Wie legitim ist Agenda Cutting? Medienethische Überlegungen zu einem Verfahren der Organisationskommunikation
Zusammenfassung
Agenda Cutting wird der Organisationskommunikation häufig als Verfahren zur Behinderung der journalistischen Berichterstattung vorgehalten. Doch trifft das tatsächlich zu und welche Formen der strategischen Dethematisierungsleistungen durch Organisationskommunikation lassen sich unterscheiden? Der vorliegende Beitrag differenziert verschiedene Arten der Dethematisierung, ordnet sie medienethisch ein und diskutiert, ob sich hinter Agenda Cutting tatsächlich eine Täuschung oder Manipulation verbirgt.
Lars Rademacher
Die Dethematisierung der Dethematisierung: Was sagen die Lehr-, Hand- und Praxisbücher der PR über Agenda Cutting?
Zusammenfassung
Das Fernhalten relevanter Themen von der Medienagenda kann auf das Einwirken von Akteuren der PR, Öffentlichkeitsarbeit und Strategischen Kommunikation zurückgehen. Dieser Beitrag sichtet die deutschsprachigen Praxis-Leitfäden, Ratgeber, Hand- und Lehrbücher der PR, die zwischen 2000 und 2021 erschienen sind, auf Aussagen zu Agenda Cutting als Ziel von PR und zu entsprechenden Techniken und Instrumenten. Es zeigt sich, dass das Thema keinen prominenten Stellenwert in der Literatur hat: In mehr als der Hälfte der 56 untersuchten Bücher fanden sich keine Aussagen zum Thema; in den 27 Büchern, die Aussagen dazu enthielten, war das Thema fast nie im Inhaltsverzeichnis zu erkennen. Aussagen zum Thema fanden sich auf nur 0,4 % aller Textseiten des Korpus. Bei der Betrachtung der Autor*innen zeigte sich, dass vor allem Wissenschaftler*innen Agenda Cutting als mögliches Ziel von PR nennen, während Praktiker*innen eher entsprechende Techniken zur Zielerreichung nennen, und zwar meist nur kurz. Teilweise werden diese Techniken empfohlen (etwa: negative Themen durch positive überlagern, wohlwollende Expert*innen aus dem eigenen Netzwerk in Stellung bringen, rechtliche Schritte gegen Veröffentlichungen androhen), teilweise wird von ihnen abgeraten (Lügen, Bagatellisieren, Verwirren). Der Beitrag erörtert zudem mögliche Gründe für die mangelnde Prominenz des Themas und macht Vorschläge für Ergänzungen der Literatur bezüglich realer Dethematisierungstechniken.
Uwe Krüger
Dürfen Anwälte die Agenda beschneiden?
Medienrechtliche Aspekte des Agenda Cutting
Zusammenfassung
Das Medienrecht steht im Spannungsfeld zwischen der Presse- und Meinungsfreiheit auf der einen und dem Schutz des Persönlichkeitsrechts auf der anderen Seite. Medien haben ein großes Interesse daran, über Verfehlungen von Politikern, berühmten Personen oder Unternehmen zu berichten. Das ist auch eine ihrer Aufgaben in einer freien Demokratie. Die Menschen, über die sie berichten, sehen das natürlich meist anders. Sie versuchen, mithilfe ihrer Anwälte eine solche kritische Berichterstattung zu unterbinden. Dieses Agenda Cutting – im PR-Jargon auch beschönigend „Krisen- bzw. Reputationsmanagement“ genannt – nimmt teilweise missbräuchliche Formen an: Von unberechtigten Drohschreiben über juristisch haltlose Klagen, die einzig den Zweck haben, Medienvertreter mundtot zu machen. In anderen Fällen kann es aber durchaus berechtigt sein, das eigene Persönlichkeitsrecht mit juristischer Hilfe gegen eine anprangernde, vorverurteilende Berichterstattung etwa eines Boulevardblatts zu schützen. Teilweise ist die Grenze zwischen Rechtsmissbrauch und berechtigter Rechtsausübung fließend.
Christian Solmecke

Was Agenda Cutting konkret bedeutet … Fallgeschichten

Frontmatter
The true story
„Unheimlich und gefahrvoll“: Wie Bertelsmann und Familie Mohn hinter den Kulissen Recherchen und ihre Veröffentlichung behindern
Zusammenfassung
Dieser Aufsatz handelt vom Umgang des Medienkonzerns Bertelsmann und der Eigentümer-Familie Mohn mit unliebsamen Recherchen. Es geht um Missbrauch von Medienmacht und fragwürdige Praktiken der PR, um unliebsame Recherchen und deren Veröffentlichung zu verhindern. Die Familie Mohn und Bertelsmann probierten eine ganze Reihe von Strategien des Agenda Cutting aus, darunter: Ihre Pressesprecher sortierten nach kritischen Berichten aus und verweigerten Antworten; nach unliebsamen Anfragen versuchten sie in vertraulichen Gesprächen mit Redaktionen, diese zu manipulieren, bestellte Artikel wegen angeblicher Fehler oder falscher Recherche-Ansätze nicht zu veröffentlichen. Von Presse-Terminen hielten sie den Autor mit fragwürdigen Ausreden fern und verweigerten den Zugang; sie forderten Autorisierung von Zitaten, obwohl sie nie vereinbart war; Interviews mit Vorstandsmitgliedern verweigerten sie – während sie stattdessen zugleich anderen (genehmen) Journalisten solche exklusiven Interviews anboten. Wiederholt drängten Pressesprecher (teilweise mit falschen Vorwürfen) Redaktionen, Recherchen zu verhindern oder Berichte nicht zu veröffentlichen – ohne, dass sie Fehler nachweisen konnten. Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung kündigte in einer Pressemitteilung eine juristische Prüfung an, die allerdings folgenlos blieb. An Redaktionen verschickte Bertelsmann Warnungen vor einer Buchveröffentlichung, man könne juristisch gegen Falschbehauptungen über Interessenskonflikte vorgehen. Das beiliegende Gutachten war nicht unabhängig erstellt. Doch teilweise hatten Bertelsmann und die Mohns damit Erfolg.
Thomas Schuler
Schweigekultur, Tabus und der öffentliche Diskurs: Agenda Cutting in Japan
Zusammenfassung
Dieser Beitrag gibt einen Überblick zu Agenda Cutting in der japanischen Nachrichtenberichterstattung. Dabei werden die systemischen, historischen und kulturellen Hintergründe der Medienlandschaft Japans analysiert. Diese haben ein Umfeld geschaffen, das eine uniforme Berichterstattung, Tabuisierungen und unterschiedliche Formen von Themenunterdrückung begünstigt. Im Beitrag werden ausgewählte Fallbeispiele von Agenda Cutting vorgestellt: Zum einen in der Nachrichtenberichterstattung zur Atomkatastrophe von Fukushima, zum anderen während der landesweiten Proteste gegen die Sicherheitsgesetze im Sommer 2015 und schließlich im Zusammenhang mit der ersten Welle von Covid-19-Erkrankungen in Tokio vor der Verlegung der Olympischen Spiele im März 2020. Mit der Kontextualisierung des noch jungen Konzepts Agenda Cutting in einer außereuropäischen Mediendemokratie möchte der Beitrag auf die potentiellen Implikationen für den öffentlichen Diskurs hinweisen und gleichzeitig die Bedeutung einer transnationalen Perspektive für die künftige Agenda Cutting-Forschung unterstreichen.
Yosuke Buchmeier
Über Diktaturen (nicht) berichten. Der Fall Belarus
Zusammenfassung
Über Diktaturen zu berichten, bedeutet über eine Welt zu berichten, in der es weder Öffentlichkeit noch eine öffentliche Meinung gibt: Totales Agenda Cutting. Über Diktaturen nicht zu berichten, bedeutet zu vergessen, dass nicht die Menschenrechte und Freiheiten in der modernen Welt grenzenlos geworden sind, sondern der Einfluss der russischen Propaganda und die Akzeptanz der autoritären Regierungen: Globales Agenda Cutting. Im Folgenden werden Herausforderungen reflektiert, auf die der in demokratischen Mediensystemen verankerte Journalismus noch keine zufriedenstellenden Antworten hat.
Katja Artsiomenka
Das Missing white woman-Syndrom: Agenda Cutting in der Gewaltberichterstattung
Zusammenfassung
Worüber nicht oder wenig berichtet wird, lässt sich vor allem bei gesellschaftlichen Phänomenen nachweisen, die statistisch vertieft und konstant erfasst werden, etwa bei der Gewaltkriminalität. Da die Polizei die zentrale Informationsquelle ist und Medien kaum jemals über polizeilich nicht erfasste Delikte berichten, ist aus dem Abgleich von polizeilicher Kriminalstatistik und Berichterstattung empirisch zu belegen, wie Medien das Bild verzerren und was sie nicht auf die Agenda setzen.
Thomas Hestermann
Agenda Cutting in der Terrorberichterstattung
Reflexionen über verkürzte Fall-Darstellungen und ihr Wirkpotential
Zusammenfassung
Bei Agenda Cutting als Gegenkonzept zum Agenda-Setting denkt man vermutlich zunächst an zwei Dinge, nämlich dass ganze Themen ausgeblendet werden, und dass dies in vollem Bewusstsein und Absicht geschehe. In diesem Beitrag wird es weder um die Frage gehen, ob ein Sachverhalt überhaupt berichtet wird oder nicht, sondern das Second-Level Agenda Settting in den Blick genommen – also die Frage nach dem Shaping von Themen, dem Framing, der Rahmengebung also; hier durch Weglassen relevanter Aspekte. Und es wird dabei nicht von intentionalem Handeln ausgegangen, sondern eher davon, dass gerade ein nicht vorhandenes Bewusstsein für die eigenen Wahrnehmungsfilter, bei gleichzeitiger Gestaltungsmacht des Journalismus, durch sprachliches und bildliches Zeigen und Ausblenden für das Setting oder eben auch Cutting von Fakten sorgt. Die weitreichende These, dass Vorgewusstes das Wahrnehmen des Folgenden bestimmt, kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht ausreichend erörtert werden. Damit beschäftigt sich die Priming-Forschung, nämlich mit der Verarbeitung von Assoziationsketten beim Aufrufen bestimmter Reize, die im Diskurs geprägt werden (s. u.). Ziel dieses Beitrags ist es, Indizien für das Phänomen und seines Wirkpotentials anhand ausgewählter qualitativer Fallanalysen aufzuzeigen und damit gleichzeitig das Bewusstsein für die Beschränktheit eigener Neugier und grenzenlos offener Recherche zu schärfen. In quantitativen Folgenanalysen wäre dann zu klären, wie verbreitet das Phänomen ist und ob es dabei bestimmte wiedererkennbare Muster bzw. etwaige stereotype Zuweisungen gibt.
Sabine Schiffer
Agenda Cutting im Sportjournalismus – Anmerkungen zu einem strukturellen Problem
Zusammenfassung
Der Beitrag beleuchtet das Agenda Cutting im Sportjournalismus. Angesichts der enormen Bedeutung des Sports für den einzelnen, die Gesellschaft und auch die Medien wird die kontroverse Debatte über die Qualität des Sportjournalismus aufgegriffen und um den Aspekt des Agenda Cutting erweitert. Anhand von ausgewählten Beispielen wird gezeigt, dass es sich beim Agenda Cutting um ein strukturelles Problem handelt. Angesprochen werden die Schwierigkeiten, die sich aus der „klebrigen Nähe“ zwischen Sportjournalist*innen und ihrem Gegenstand, dem zunehmend erschwerten Zugang der Sportredaktionen zu den Akteuren des Sports und die Kompetenzprobleme einiger Sportjournalist*innen. Im Anschluss werden die speziellen Chancen und Herausforderungen des Sportjournalismus im öffentlich-rechtlichen Rundfunkt diskutiert. Hier plädiert der Beitrag für eine selbstbewussten Ausbau eines vielfältigen und kritischen Sportjournalismus dieser Anbieter und erinnert an die – fast vergessenen – Leitsätze des Sportjournalismus. Dem Agenda Cutting im Sportjournalismus so das Fazit, sollte sowohl von den Sportjournalist*innen als auch von der Sportkommunikationsforschung mehr Beachtung geschenkt werden.
Jörg-Uwe Nieland
Metadaten
Titel
Agenda-Cutting
herausgegeben von
Hektor Haarkötter
Jörg-Uwe Nieland
Copyright-Jahr
2023
Electronic ISBN
978-3-658-38803-4
Print ISBN
978-3-658-38802-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-38803-4