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Erschienen in: Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) 4/2023

Open Access 25.09.2023 | Hauptbeiträge – Thementeil

Agiles Arbeiten und Gruppendynamik

Ein Expertengespräch mit Oliver König, Roswita Königswieser, Karl Schattenhofer und Fritz Simon moderiert von Thomas Bachmann

verfasst von: PD Dr. Thomas Bachmann, Dr. Oliver König, Dr. phil. Roswita Königswieser, Dr. Karl Schattenhofer, Prof. Dr. med. Fritz B Simon

Erschienen in: Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) | Ausgabe 4/2023

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Zusammenfassung

In dem vorliegenden Expertengespräch in der Zeitschrift Gruppe – Interaktion – Organisation (GIO) befassen sich Thomas Bachmann, Oliver König, Roswita Königswieser, Karl Schattenhofer und Fritz B. Simon mit der Rolle von Gruppendynamik bei der Agilen Transformation. Zunächst werden Agilität und New Work als aktuelle Phänomene diskutiert und eingeordnet. Dabei wird die Abgrenzung zu schon bekannten Konzepten und Modetrends thematisiert. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird untersucht, welche Rolle Konzepte der Gruppendynamik zum Verständnis von New Work und Agilität beitragen können und inwieweit Gruppendynamiktrainings für Personen im agilen Kontext einen Kompetenzgewinn ermöglichen.
Thomas Bachmann: Willkommen zu unserem Experten-Gespräch „Agiles Arbeiten und Gruppendynamik“! Beginnen möchte ich mit der Frage: Gibt es die agile Transformation überhaupt oder ist das nur so ein LinkedIn-Berater-Hype? In einer Studie der Hochschule Karlsruhe von 2022 wird gefragt, inwieweit in Unternehmen agil gearbeitet wird (Kinkel et al. 2022). Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland ca. die Hälfte aller produzierenden Unternehmen agile Methoden einsetzt. Deutschland hinkt aber anderen Ländern wie z. B. China, USA oder Indien hierbei deutlich hinterher, also ähnlich wie in der Digitalisierung. Laut dieser Studie könnte man sagen, ja da passiert etwas, die agile Transformation scheint es wirklich zu geben. Liebe Teilnehmende dieses Panels, wie sehen Sie diese Entwicklung? Steckt da mehr Euphorie drin als Substanz? Was passiert wirklich?
Fritz Simon: Ich versuche mal einen Aufschlag zu machen, da du gerade eine Studie zitiert hast. Thorsten Groth und eine größere Gruppe von Kollegen, die in oder mit diversen Großunternehmen in Deutschland arbeiten, haben untersucht, welcher Unterschied zwischen dem, was geredet und getan wird, besteht (Groth et al. 2021). Das Ergebnis ist ein wenig desillusionierend: Viele Leute bemühen sich sehr und jeder hat das Wort „agil“ oder „New Work“ auf den Lippen, und was dann umgesetzt wird, ist auch in der Tat nicht zu vernachlässigen. Aber es ist auch nicht so grandios und fantastisch, wie es propagiert wird. Das hat meiner Meinung nach damit zu tun (und damit kommen wir zu den Inhalten), dass die theoretischen Vorannahmen, die den New-Work-Konzepten zugrunde liegen, relativ schlicht sind. Sie beruhen zum großen Teil auf einer antiorganisationalen und antihierarchischen Ideologie, die nicht sieht, worin die Funktionalität von Hierarchien besteht und Organisationen etwas Anderes als Gruppen sind. Organisationen sind nicht – wie unterstellt – in kleine selbstorganisierte Gruppen auflösbar. Das ist ein Irrtum, der vor 50 Jahren auch schon mal weit verbreitet war …
Karl Schattenhofer: Also, ich würde sagen, es ist keinesfalls eine geschlossene Szene, auch in unserer Untersuchung (Brinkmann und Schattenhofer 2022) sind die Teams, die wir befragt haben, völlig unterschiedlich. Und nach dem, was ich sonst so mitkriege, ist das ein zentrales Merkmal dieser Art von Arbeiten, dass es überall irgendwie anders ist. Und es gibt von den Teams her gesehen, eine neue Welle von Teamarbeit. In den 90er-Jahren gab es auch so eine Welle von Teamarbeit in der Produktion. Da gab es auch Umfragen, inwieweit beziehen Sie Team-Arbeit in ihre Organisation mit ein. Also diese Umfragen folgen immer dem Trend, würde ich sagen. Es ist jetzt im Gespräch und da machen wir es irgendwie, aber ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, was man da eigentlich macht, oder man hat ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was man da macht.
Roswita Königswieser: Das gilt ja für alle Ansätze, auch für den systemischen Ansatz, da gibt es ja nicht den einen, sondern sehr verschiedene Schulen und Ausprägungen. In den Projekten, in die ich Einblick habe, merke ich, dass das einerseits wertvoll ist, dass die Leute auf einer sehr breiten Basis mit der Anforderung nach Innovation, nach Selbstorganisation konfrontiert werden. Das haben wir in dieser Breite nicht geschafft, finde ich. Es ist wirklich salonfähig geworden, sich darüber Gedanken zu machen und möglichst radikal zu agieren. Das hat aber auch, was ich in der Praxis erlebe, ein unheimliches Überforderungspotential in sich. Die Leute werden einfach hineingestoßen ohne Vorbereitung, ohne dass sie wirklich reife Gruppen sind, ohne dass sie reflexionsfähig sind. Das fehlt alles, und dann werden sie damit quasi ab Stufe fünf konfrontiert.
Oliver König: Ich möchte mich noch einmal beziehen auf die Empirie, die Sie genannt haben, Herr Bachmann. Die ist für mich weniger eine Untersuchung als ein Teil des Phänomens. Das, was abgefragt wird, ist das, was Stephan Kühl die „Schauseite der Organisation“ nennt. Da hat Fritz Simon gerade darauf hingewiesen, dass es eine systematische Diskrepanz gibt zwischen dem Diskurs und dem, was auf der Handlungsebene tatsächlich passiert. Das andere ist eben die Frage, ob das Agile und New Work, – das ist nochmal ein anderer Begriff, der eigentlich mit Agilität erstmal nichts zu tun hat – gekapert worden ist durch die Szene. Ich habe versucht, in der Zeitschrift „Familiendynamik“ diesen Kaper-Prozess ein bisschen zu rekonstruieren (König 2023). Bei der Agilität stellt sich für mich die Frage: ist es eigentlich etwas Neues, oder ist es das, was seit den 1970er-Jahren immer neu angewandt auftaucht, nämlich Ent-Hierarchisierung, Flexibilisierung, Team-Arbeit, Selbstorganisation usw., wechselt das nur die Begriffe oder gibt es tatsächlich etwas, was innovativ ist? Also ich selber habe damit nichts zu tun, ich arbeite auch nicht im produzierenden Gewerbe, davon krieg ich gar nichts mit. Ist es mehr eine Art internes Marketing, um die Mitarbeiter bei der Stange zu halten und denen das Gefühl zu geben, „wir sind innovativ und herausfordernd und da muss man dabei sein“?
Thomas Bachmann: Das knüpft an meine nächste Frage an, die geht nämlich genau in diese Richtung: Was ist eigentlich der Kern? Gibt es da etwas wirklich Neues? Oder ist das wieder so eine Welle, die halt kommt, so eine dieser zyklischen Mode-Welle von Management-Methoden oder spiegeln sich in den ganzen Themen von New Work und der agilen Transformationen auch große gesellschaftliche Trends wider, die Organisation zwangsläufig aufgreifen müssen, weil sich Arbeitszusammenhänge ändern, weil die Mitarbeitenden andere Ansprüche, andere Werte haben, weil die Welt komplexer und undurchsichtiger wird? Ist New Work und Agilität also vielleicht das Abbild großer gesellschaftlicher Umbrüche? New Work wird ja auch vom Zukunfts-Institut als Mega-Trend genannt, der mit anderen Trends zusammengeht. Aus Ihrer Sicht: Ist es nur eine Wiederholung des Gleichen, der alte Wein im berühmten neuen Schlauch oder passiert da wirklich etwas, zu dem wir sagen können: Okay, da transformiert sich gerade die Arbeitswelt, und zwar umfassend und wir sehen nur die Mode-Labels und können das, was darunter liegt, nur nicht gut beschreiben?
Fritz Simon: Ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir hier jetzt nicht als Dinosaurier-Runde darauf hinweisen, alles sei eh schon mal da gewesen. Das stimmt zwar in gewissem Maße, aber trotzdem ist es nicht wirklich dasselbe, was früher schon mal da war. Zum Beispiel – worauf Oliver König gerade hingewiesen hat – waren die Ent-Hierarchisierungs-Themen schon Teil dieser alten Agenda. Das war damals aber, denke ich, ideologisch begründet. Ich schaue heute anders auf dieses Phänomen und behaupte: Offenbar ist der New Work-Trend, wie Du, Thomas, ihn beschrieben hast, eine Antwort auf eine gegenwärtige Entwicklung. Die Frage ist also: Was ist die Frage, auf die New Work die Antwort verspricht? Die Welt hat sich im Vergleich zu den 70er- und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ziemlich verändert. Organisationen sind ja generell so etwas wie „geronnenes Wissen“ bzw. „geronnenes Knowhow“. Damit überleben Organisationen immer dann gut, wenn die Welt, in der sie überleben müssen, sich nicht oder nicht schnell ändert. Das scheint mir der Kernpunkt zu sein: Die Veränderung von Märkten erfolgt heute erheblich schneller als früher. Nehmen wir die Autoindustrie: Früher kam alle paar Jahre ein neuer Mercedes raus, es gab drei Versionen und dann fuhr man den etliche Jahre. Jetzt kommen z. B. neue Handys alle halben Jahre heraus und sind da schon veraltet. Auch wenn die alten Modelle noch funktionieren, schmeißt man sie weg und kauft neue. Und ganze technologische Paradigmen werden obsolet, wie der Verbrenner in der Autoindustrie. Die Entwicklung hat sich ungeheuer beschleunigt. Organisationen als „geronnenes“, d. h. altes, Wissen sind im Prinzip immer innovationsfeindlich, denn sie verlassen sich auf das, was sie können. Was früher funktioniert hat, machen sie weiter. Und damit meine ich nicht, dass keine neuen Produkte entwickelt würden, sondern die Bewahrung der alten organisationalen Strukturen. Strukturen, die früher funktioniert haben, leiten auch heute noch die Entscheidungen. Die Überlebensfrage für Organisationen lautet: Können sie sich an sich rasch verändernde Umwelten anpassen? Agilität und New Work-Trends sind meiner Meinung nach Versuche, darauf zu antworten; Versuche, die allerdings oft auf einem Auge blind zu sein scheinen: Sie sehen nicht, worin die Funktionalität von Organisation besteht. Daher landen sie dann bei selbstorganisierten Gruppen. Dass es ein langwieriger Prozess ist, eine Gruppe funktions- bzw. arbeitsfähig zu machen, wird dabei oft überhaupt nicht gesehen. So wird oft beschlossen: Ihr seid jetzt ein Team, und morgen müsst ihr zusammenarbeiten! Man ist sich dabei meist gar nicht bewusst, was für eine komplexe soziale Form eine Gruppe ist. Gleichzeitig – und hier liegt der Hase im Pfeffer – müssen sich diese Gruppen und Teams noch in eine Organisation integrieren. Dadurch werden Widersprüche produziert, da Gruppen und Organisationen einer prinzipiell anderen Logik der Entscheidungsfindung folgen. Die so entstehenden, grandiosen pragmatischen Paradoxien überfordern die Beteiligten immer etwas, manchmal auch sehr; vor allem, wenn sie denken, es gebe die eine richtige Lösung – the One best way –, die darin besteht, es so zu machen, wie vermeintlich all die anderen, die vermeintlich ja so erfolgreich sind.
Roswita Königswieser: Schön ausgedrückt. Das habe ich ja vorher auch erzählt. Für mich ist Agilität schon auch eine innovative Antwort auf die Komplexität von Projekten, von der IT-Welt, von den Aufgaben her, und das ist eine Möglichkeit, mit dieser Komplexität anders umgehen zu können indem man in dieser agilen Welt denkt: die Ziele sind nicht fix, die sind dynamisch und der Kunde ist einfach sehr wichtig und wir müssen prozesshaft vorgehen. Also dieses Denken, das wir von unserer Arbeit her kennen, in die Breite zu bringen, in viele Organisationen, finde ich sehr funktional. Dass es nicht den Tiefgang hat, werden wir vielleicht noch später besprechen.
Karl Schattenhofer: Wenn wir jetzt fragen, was ist da innovativ dran, dann würde ich sagen, eher ganz praktische Dinge. Also dass z. B. mit Scrum oder mit Holacracy oder mit den verschiedenen Verfahren, wie Entscheidungen getroffen werden, ganz konkrete Vorgehensweisen in Teams eingeführt werden, wie Zusammenarbeit im Team überhaupt geht. Ob das dann gut funktioniert oder nicht, ist eine ganz andere Frage, und woran das dann scheitert. Aber dass es zumindest eine Vorstellung davon gibt, aha, da braucht es unterschiedliche Führungsrollen, aha, da braucht es Reflexion, also dass man sich damit beschäftigt, nicht nur was man macht, sondern auch wie man es macht, und das möglichst an der Basis, wo die Arbeit geschieht, finde ich, das ist das Neue. Da würde ich Ihnen zustimmen, Frau Königswieser, da ist viel passiert. Wie gut die Betroffenen damit umgehen können, darüber können wir nachher reden, aber dass eine konkrete Vorstellung von Zusammenarbeit entsteht, aha, so kann das praktisch aussehen – die gab es früher in der Konkretisierung nicht. Da ist so etwas wie eine Kontextbewusstheit entstanden.
Thomas Bachmann: … da ist Kontextbewusstheit entstanden, was Team-Arbeit bedeutet.
Oliver König: Karl, so wie Du das gerade geschildert hast, ist das so, als ob in den Unternehmen eine Art Grundschulwissen von Team-Arbeit eingeführt wird. Wo man denkt, wo haben die die letzten 30, 40, 50 Jahre zugebracht. Es wäre so, als ob man die für blöd erklärt, das würde ich so nicht machen. Wie gesagt, ich kann von der Praxis her gar nichts dazu sagen, weil ich nicht in Bereichen arbeite, in denen behauptet wird, es würde agil gearbeitet. Aber ich arbeite in Bereichen, in denen das immer schon passiert. Z. B. in der Jugendhilfe muss man flexibel sein, es geht gar nicht anders, aber die steigen nicht auf diese Diskurse ein. Das Agile, vor allem das „Scrum-mäßige“, ist für mich eine ähnliche Entwicklung wie die Manualisierung in der Gruppenpsychotherapie. Es ist eine Entsprechung, weil es wird einerseits flexibilisiert, das ist vielleicht eine der Paradoxien, von denen der Fritz Simon spricht, und andererseits wird es durchdekliniert, also mit einem festen Regelwerk. Ich krieg das nicht mit, wie das in der Praxis so ist. Ich habe einzelne Fälle in der Supervision gehabt. Da hat man natürlich eher Fälle, wo etwas nicht gut geht und wo das gegen die Wand fuhr.
Fritz Simon: Die Ver-Regelung scheint mir eher ein Versuch, diese Paradoxien zu lösen. Denn in selbstorganisierten Gruppen ist ja zu beobachten, dass sie Hierarchien nicht gut aushalten. Es gehört zu ihrer Interaktionslogik, dass zwar kurzzeitig einzelne Personen aufgrund ihrer aktuellen Funktion für die Gruppe in eine hierarchische Position gelangen, aber es wird gleich darauf wieder für die Resymmetrisierung der Beziehungen gesorgt. Im Gegensatz dazu gewinnen Organisationen ihre Funktionalität zu einem guten Teil durch die Etablierung und Nutzung von Hierarchien. Sie sorgen dafür, dass im Konfliktfall Entscheidungen nicht blockiert werden. In den New Work-Modellen hat man Regeln der Entscheidungsfindung an die Stelle von Hierarchen bzw. hierarchischen Strukturen sowie Rollen und Personen, die übergeordnete Positionen innehaben, gesetzt. So wird quasi eine Art der Hierarchie genutzt, um zu Entscheidungen zu kommen, die nicht an Personen gebunden ist. Auf der interpersonellen Beziehungsebene hat dies u. a. die Funktion, Symmetrie in diesen selbstorganisierten Gruppen aufrechtzuhalten oder zumindest zu simulieren und suggerieren. Es ist m. E. ganz intelligent, durch die Etablierung von Regeln dafür zu sorgen, dass immer wieder Entscheidungen zustande kommen, obwohl alle möglichen interpersonellen oder sachlichen Konflikte im Raum sein können. Denn sich einer Regel unterzuordnen, fällt den meisten Menschen heute – das war nicht immer so – einfacher als sich anderen Menschen unterzuordnen.
Karl Schattenhofer: Das finde ich auch. Man soll Grundschulwissen nicht abwerten. Also, weil ich finde tatsächlich, dass es oft daran fehlt. Da habe ich auch Beispiele dafür, wie hochtechnisierte Unternehmen überhaupt kein Grundschulwissen haben, wie sie ihre Projekte auflegen. Das soll man nicht geringschätzen.
Thomas Bachmann: Ich finde das einen sehr spannenden Beitrag, diesen Blick: Entsteht ein neues Bewusstsein „methodisches Bewusstsein“ für Gruppen- und Team-Arbeit? Lernen Organisationen da anders hinzugucken und sagen: okay, damit müssen wir uns richtig beschäftigen? Und gleichzeitig, gibt es da große blinde Flecken? Weil einfach mal irgendwie 30–40 Jahre Gruppenforschung dann offensichtlich ignoriert werden und gar nicht präsent sind. Es gibt ja unendlich viel, was aber interessanterweise in der Anwendung gar nicht zu erleben ist. Umgekehrt erlebe ich oft, dass manche schon von der agilen Bürokratie sprechen. Also, dass es so viele Regeln und so viele Vorgehensweisen erfunden werden müssen, um das Agile irgendwie lebbar und funktionsfähig zu machen. Also wer einmal in einer holakratischen Organisation war, der weiß, die stöhnen vor lauter Regeln, Prozessen und Rollenmodellen, sodass manchmal eine klassische hierarchische Organisation einfacher strukturiert erscheint. Also da entstehen wieder ganz merkwürdige Schräglagen zwischen Überforderung, Überbürokratisierung und gleichzeitig, aber auch fehlendem Wissen, was nicht genutzt wird, wo ich mich frage, was könnten da vielleicht Gruppendynamiker beitragen, oder welche Perspektiven fehlen da vielleicht in Organisationen, um diesen Prozess vielleicht ein bisschen zu unterstützen oder zu ordnen?
Roswita Königswieser: Was Sie jetzt ansprechen, also diese Art des agilen Arbeitens mit Retrospektiven – das ist ja eigentlich eine sehr gute Geschichte: dass man sich zusammensetzt und sagt, schauen wir mal hin, was können wir besser machen. Aber genau da erlebe ich ein Unterschied zwischen Gruppendynamik oder im systemischen Vorgehen und dem agilen Ansatz: nämlich, dass die Reflexivität in unserem Sinne selten vorhanden ist. Also 30 min alle drei Wochen hinzuschauen und zu sagen, was können wir besser machen – im Sinn von Problemlösung und Effizienz – und nicht im Sinne von Mustererkennung, Latenzen erkennen und auf einer Meta-Ebene Zusammenhänge sehen, und aus diesen Erkenntnissen heraus die Muster zu verändern. Es geht um die unterschiedliche Haltung. Das ist für mich der zentrale Unterschied.
Thomas Bachmann: Also, dass es auf so einer methodischen Ebene bleibt, oder oberflächlichen Ebene.
Karl Schattenhofer: Da würde ich mal sagen, für viele Projekte ist das schon Fortschritt. Es reicht auch manchmal aus, wenn die auf so eine Art reflektieren. Es ist schon mal ein Schritt zu überlegen: aha, es wäre gut, wenn wir reflektieren würden. Dass es dann ein sehr technischer Prozess wird und ein ganz formaler. Wir haben auch retrospektiv angeschaut, wie die das machen, und oft ist es gruselig, weil da sitzt ein SCRUM Master da und frägt: Du, du und du, und was sagst ihr jetzt, und dann ist gleich Schluss. Also die Reflexion kann ziemlich enttäuschend sein. Ich glaube, dass die mögliche Reflexivität in Arbeitsteams sowieso begrenzt ist und dass vieles ohne externe Hilfe gar nicht möglich ist in dem Sinne, wie Frau Königswieser Reflexion sieht. Das ist eine Überforderung für Teams. Die Organisationen müssen lernen, dass es professionelle Unterstützung braucht, um diese Art von Reflexivität überhaupt herzustellen. Wir haben unsere Teams gefragt, worüber redet ihr und worüber redet ihr nicht. Und dann ist die erste Antwort, alle Teams haben gesagt: Wir können über alles reden. Und danach beim genaueren Nachfragen kommt eben raus: Kritisieren können wir uns nicht, oder unterschiedliche Leistungen sprechen wir natürlich nicht an. Dieser ganze kritische, schwierige Bereich bleibt ausgeklammert. Das halte ich aber nicht für Unvermögen, sondern für eine Schutzfunktion. Die Teams wissen, dass das ihren Zusammenhalt infrage stellt. Und daher kommt meine Meinung, wenn man so etwas von den Teams erwartet, müsste man sie schon dabei unterstützen und ihnen von außen helfen, solche Reflexionsprozesse zu gestalten, ohne dass es zu großen Verwerfungen kommt.
Thomas Bachmann: Jetzt sind wir ja schon bei so gruppendynamischen Phänomenen, die vielleicht das agile Arbeiten unterwandern oder erschweren könnten. Vielleicht könnten wir in die Richtung weitergehen …
Fritz Simon: Ich würde diese Art der Reflexion nicht von vornherein disqualifizieren, denn man muss sich immer klar sein: Diese Teams sind immer noch Teil von Organisation, und Organisation greifen nur hochselektiv auf ihre Mitarbeiter und deren Kompetenzen zu. Da wird darauf geschaut: Was ist ihre Funktion? Was ist ihr Job? Und in den meisten Organisationen wird auf diese personenorientierte Beziehungsebene nicht geschaut. Dies kann manchmal sehr destruktive Wirkungen haben, und irgendwann leidet dann die Organisation darunter. Spätestens dann sollte man schlauerweise auch hinschauen. Aber bis dahin werden die Beziehungen eher als selbstverständlich vorausgesetzt, und dieses „wir können über alles reden, aber wir reden nicht über was Negatives“ – das erinnert ja sehr an manche Familien von Familienunternehmen. Die vermeiden auch Konflikte, weil sie denken: Wenn wir erst einmal offene Konflikte zulassen, dann fliegt uns der ganze Laden um die Ohren. Das, glaube ich, ist in diesen Teams eben auch oft eine funktionelle Vermeidung. Die Frage ist ja, was wäre das Ziel des genauen Hinschauens? Woran merkt man dann, dass ein Team funktioniert? Ich würde gern unterscheiden, ob man irgendwelche Leitungsteams hat, die dann überlebenswichtige Entscheidungen treffen müssen, die hoch brisant sind. Bei denen ist es unverzichtbar, dass sie konfliktfähig sind. Wenn die sich immer nur Nettes sagen, sind sie nicht auf Krisen vorbereitet. Dann gehen sie sich im Ernstfall an die Gurgel und es knallt … Daher ist es vorteilhaft, schon vor potenziellen Krisen – und die kommen ja sicher irgendwann – die Beziehungen zu klären, um dann sachorientiert gemeinsam um Lösungen ringen zu können. Das funktioniert aber nur, wenn auf der Beziehungsebene nicht latente Konflikte mitgeschleift werden, die dann zum offenen Ausbruch kommen. Aber ob das in all diesen agilen Teams in diesem Maße nötig ist, würde ich erstmal in Frage stellen.
Thomas Bachmann: Ist es in einem agilen Team innerhalb einer Organisation schwieriger als bei einer sagen wir mal freien Gruppe, die sich zu einem gruppendynamischen Training trifft?
Karl Schattenhofer: Natürlich.
Thomas Bachmann: Also die Organisation schränkt die Reflexionsbereiche ein?
Karl Schattenhofer: In den 70er-Jahren haben wir uns mit internen gruppendynamischen Trainings mit Unternehmen blutige Nasen geholt …
Thomas Bachmann: Was kann man jetzt daraus lernen für die agile Welt?
Roswita Königswieser: Also, meine Resonanz auf Dich, Fritz: ja, kann ich hören. Auf der anderen Seite ist es schon mein Erleben, dass Projektleiter zum Beispiel, die gruppendynamische Erfahrung haben, und dann etwas gekonnter, ohne jetzt Gruppendynamiker zu sein, diese Reflexionen miteinander durchführen und das Projekt leiten, schon einen großen Vorteil haben gegenüber Projektleitern oder Führungskräften, die diese Erfahrung nicht haben. Ich kenne zum Beispiel ein Unternehmen, das alle Führungskräfte in Gruppendynamik schickten. Es ist wirklich ein anderes Klima zu spüren, eine andere Fähigkeit zu reflektieren, eine andere Lösungskompetenz. Für mich ist nach wie vor Gruppendynamik die Königsdisziplin. In dem Sinne, dass dieses Wissen, dieses Knowhow wirklich eine vielfältige Chance bietet, in verschiedensten Kontexten kompetenter zu agieren, gerade was diese Dimension der Zusammenarbeit betrifft, das Ermöglichen von Transformation usw.
Fritz Simon: Roswita, Du musste mich gar nicht überzeugen, dass das sozusagen die Königswiese ist, auf der wir stehen. Also ich glaube schon, dass gruppendynamische Trainings zu Kompetenzen verhelfen, die viel weiter verbreitet sein sollten. Und ja, Organisationen sollten ihre Leute in Gruppendynamik-Trainings schicken, gerade jetzt in Zeiten, wo Agilität, Team-Arbeit und Selbstorganisation auf ihrem Programm stehen. Es ist m. E. eine der besten Weiterbildungsmethoden und ein sehr gutes Investment. Trotzdem glaube ich nicht, dass das passieren wird und alle analog zur Grundschulpflicht qualifiziert werden. Daher sollte man die Messlatte nicht zu hoch legen. Wenn man schaut, was in Unternehmen alles abläuft, wundert man sich ja sowieso, dass die in der Lage sind, überhaupt irgendwas auf den Markt zu bringen. Sicher auch nur durch Selbstorganisation zu erklären. Ich würde daher keine Idealforderung stellen, sagen wir das mal so.
Oliver König: Ich finde unsere Diskussion hat jetzt gerade einen interessanten Schwenk gemacht, weil wir sind von Agilem und Gruppe hin zu Führung gekommen. Ich würde natürlich auch sagen, dass Führungskräfte, die in Reflexivität trainiert sind, sei es durch gruppendynamische oder durch andere Methoden, die haben einen relativen Vorteil. Aber es ist eine große Investition, die wird immer nur für ein kleines Personal getätigt, wenn überhaupt. Aber der Start unserer Diskussion war ja eigentlich, von der Arbeitsform zu reden, die eben gerade nicht so eine klare Führung hat, sondern bei Scrum z. B. die Führung in verschiedene Funktionen aufgeteilt wird, und dann kommen diese Funktionen miteinander in die Dynamik hinein. Das würde für mich eher heißen, dass wir es im Stillen anzweifeln, dass es funktioniert, ohne auf Führung zu gucken.
Karl Schattenhofer: Das glaube ich nicht. Ich glaube die Führung wird nach unten weitergereicht und verteilt, es gibt viel Führung ohne irgendwelche Personalverantwortung, es wird also viel auf horizontaler Ebene geführt. Wir haben übrigens die Beobachtung gemacht, dass da in IT-Firmen die Entwickler meistens Männer sind, die die fachliche Arbeit machen. In diesen Teams arbeiten oft Scrum-Masterinnen. Die Frauen sind speziell gefordert, die manchmal etwas schwergängigen Männer in Zusammenarbeit zu bringen. Eine unserer Scrum-Masterinnen, die Sozialpädagogik studiert hat, nennt es eine Sozialpädagogisierung der Arbeitswelt. Ganz viele von den Methoden, die sie als Sozialarbeiterin kennt und im Studium gelernt hat, bringt sie da ein. Das finde ich eine interessante Entwicklung.
Fritz Simon: Ich möchte gerne das, was Karl Schattenhofer gesagt hat, unterstreichen. Führung ist nicht mehr etwas, was einer Person oder einer Rolle zugewiesen ist, sondern es ist eine Funktion, die auf unterschiedliche Personen verteilt wird. Man sieht auch im gruppendynamischen Training sehr gut, dass solche Funktionen zwischen unterschiedlichen Leuten wechseln. Wenn da eine Scrum-Masterin agiert, dann hat sie wahrscheinlich die Funktion, für die Integration dieser verschiedenen Funktionen zu sorgen. Das finde ich ziemlich pfiffig.
Thomas Bachmann: Das heißt dann auf Neu-Deutsch shared leadership, also die gemeinsam geteilte Führung in selbstorganisierten Teams. Ich kann das auch beobachten, in unseren Coaching-Ausbildungen sitzen natürlich viele Agile Coaches oder Scrum-Master, und die sind interessanterweise oft weiblich und haben genau diese Rolle, also die Beobachtung von Herrn Schattenhofer kann ich auch teilen. Und die haben meist in sehr IT-lastigen nerdigen Umgebungen mit Entwicklern zu tun, die da vor sich hin coden und denen sie sozusagen ein bisschen Sozialkompetenz in die Teams mithineinliefern, so dass das Ganze funktionieren kann. Das ist eine genderstereotype Beobachtung, die ich auch teilen kann.
Oliver König: Die Kooperationsanforderungen steigen natürlich dadurch enorm. Ich habe hier auch nicht über den hierarchischen Teil von Führung reden wollen, sondern tatsächlich über diesen funktionalen. Es wird ja dann komplizierter und die Investitionen dafür, diese höhere Komplexität zu regeln, die steigt dann halt ebenfalls. Da bezweifle ich, dass die tatsächlich auf Dauer gemacht wird von den Firmen. Es muss ja auf Dauer gestellt werden, denn Organisation bedeutet ein Auf-Dauer-Stellen von etwas. Die Idee der Agilität unterläuft eigentlich dieses Moment des Auf-Dauer-Stellens. Da entsteht eine Spannung und Gegensätzlichkeit, die sich in Richtung der Organisation auflösen wird. Karl, Du hast ja auch erzählt, dass die Verweildauer dann auch relativ kurz ist. Und die Frage ist, was passiert auf die Dauer mit den Projekten? Wie lange geht das gut, zumal in großen Organisationen? In kleineren Organisationseinheiten, auch in Gründerfirmen oder Familienunternehmen, da ist es wahrscheinlich immer schon ein Arbeitsprinzip gewesen, auch dieses Hyper-Engagement, was damit einhergehen muss, auch zeitlich, emotional usw. Aber für eine größere Organisation das auf Dauer zu stellen, halte ich nicht für möglich.
Thomas Bachmann: Nach dem Motto „Man kann nicht immer agil sein. 24 h am Tag, 7 Tage die Woche. 365 Tage im Jahr“.
Fritz Simon: Die Anforderungen sind schon sehr hoch. Ich sehe das bei einem jungen Mann, den ich ganz gut kenne, der bei WhatsApp in London arbeitet, und er ist, glaube ich, 12 h am Tag beschäftigt, und natürlich nur am Bildschirm. Die KI hat ihm schon ausgerechnet und vorhergesagt, dass er im April 2024 kündigen wird.
Roswita Königswieser: Ich dachte schon, sterben wird!
Thomas Bachmann: Das ist dann die nächste Generation von KI, die das ausrechnet. Spannend wäre noch die Frage nach Kosten und Nutzen. Was gewinnen Organisationen durch diese Transformationsprozesse, aber was bleibt eben auch auf der Strecke? Oder wie Herr König das beschreibt, kann das immer so weitergehen, oder ist es eher nur in bestimmten Phasen lebbar oder machbar? Inwieweit werden Organisationsmitglieder überfordert und müssen dann immer wieder wechseln? Da stecken eine Menge Folgekosten drin, die vielleicht mit dem Nutzen gar nicht so gut korrespondieren.
Karl Schattenhofer: Ich will noch zur Haltbarkeit und Nachhaltigkeit dieser Veränderungen etwas sagen. Die Teams, die wir befragt haben, arbeiten in Großunternehmen, und das sind normalerweise so agile oder selbstorganisierte Inseln. Da gab es einzelne Führungskräfte, die sagten: Bei uns führen wir das jetzt ein. Es kam meistens nicht von oben, sondern es wurde vom höheren Management eingeführt. Die haben dann ihre Insel ausgebreitet, und das hält so lang, wie diese Leute da sind. Ob die das in die nächste Generation überführen können, ist ziemlich fraglich. Ein Risiko ist vor allem ihr Erfolg, wenn nämlich die anderen Organisationsteile merken: Super, bei denen klappt es aber gut, das müssen wir auch einführen, dann fängt die Organisation an, es zu institutionalisieren und zu verregeln, irgendwelche IT-Tools einzuführen, mit denen man sehr gut selbstorganisieren kann, und das ist eine Gefahr. Weil dann der Schwung verloren geht.
Fritz Simon: Mich verwundert es nicht, dass das mit den Leuten dann aufhört. Es ist eine sehr personenorientierte Art der Kommunikation, die da stattfindet. Und in dem Moment, wo man versucht, die Personenorientierung zu institutionalisieren, läuft man in eine Sackgasse.
Roswita Königswieser: Ohne strukturelle Konsequenzen.
Thomas Bachmann: Wie muss man denn sein, um agil zu arbeiten? Braucht es irgendwie besondere Kompetenzen oder ein besonderes Mindset, oder kann das prinzipiell jeder?
Fritz Simon: Man muss halt agil sein. Ich habe den Begriff übrigens zuerst in der Gerontopsychiatrie gehört. Es war eine positive Diagnose, wenn jemand als „noch sehr agil“ bewertet wurde, d. h. noch nicht so verkalkt.
Thomas Bachmann: „Agil“ heißt eigentlich nur „beweglich“, mehr eigentlich nicht. Und gibt es Organisationen, für die sich agiles Arbeiten gar nicht eignen würde, also geht das eigentlich überall oder ist das beschränkt auf Start-Ups oder die Tech-Szene?
Fritz Simon: Mir scheint, je kleiner der Laden ist und je weniger er schon organisationale Strukturen besitzt, umso eher entwickeln sich selbstorganisierte Strukturen. Wenn man aber auf Behörden schaut oder, zum Beispiel, ein Gericht, das Justizsystem, wo es auf zuverlässige Verfahrensweisen ankommt – die sind ja darauf ausgelegt, Agilität zu verhindern. Andernfalls bringen sie keine gerichtsfesten Entscheidungen zustande. Man muss hier genau verstehen, für welche Umwelten die Organisationen gebaut sind und was ihr Ziel und Zweck ist. Überall dort, wo die überlebensrelevanten Umwelten sich schnell ändern, macht es natürlich keinen Sinn, Strukturen zu schaffen, die zur Verkalkung neigen.
Oliver König: Ich würde auch sagen, je mehr die Organisation von Routine-Tätigkeiten geprägt ist, oder je mehr Teile der Organisation, und es gibt ja immer große Teilbereiche, desto weniger passt das da rein. Es gab ja mal auch die Versuche – vor einigen Jahren war das die Diskussion – Sachen auszulagern aus der Organisation, um Entwicklungsteams zu schaffen, die vor dieser Versteinerungstendenz der Organisation in Sicherheit gebracht werden. Die kriegen bestimmte Ressourcen, Zeit usw. und sollen dann da was Innovatives machen. Da hört man auch nichts mehr von. Das bezieht sich auf das gleiche Problem, nämlich diese Verfestigungstendenz von Organisationen. Die müssen halt immer wieder neu in Schwung gebracht werden und aufgelöst werden. Das halte ich schon für ein reales Problem. Je größer die Organisation, desto schwieriger wird das, in kleineren Organisationseinheiten ist das ohnehin Tagesgeschäft.
Thomas Bachmann: Also muss man sozusagen immer wieder Gruppendynamik ermöglichen und immer wieder in Schwung bringen, bevor sich feste Strukturen oder Rollen herausbilden, oder feste Muster, wie auch immer man das nennen möchte.
Oliver König: Im sozialen Bereich im Gesundheitswesen, NGOs usw. ist das eher so, dass die quasi der Entwicklung hinterherlaufen. Nicht weil sich die Produktionsbedingungen ändern, sondern wegen Krankheit, wegen Kündigung, wegen veränderten Gesetzesbedingungen, wegen fehlendem Personal usw. – das sind die Probleme, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen und immer wieder neu reagieren. Es gibt viele Einrichtungen, die sind quasi in einem Dauerkrisenzustand, weil der Krankenstand immer hoch ist, dann kam Corona, jetzt sind andere Krisen da und Ressourcen müssen in die Stromrechnung verlagert werden usw. Und da wird nicht von Agilität geredet. Da ist Dauerkrise, man muss dauernd neu reagieren und supervisorisch ist die Frage: wie kriegt man da irgendwie ein bisschen Beruhigung und Ruhe rein, und nicht weitere Beschleunigung und Aufregung, sondern eher „Entregung“.
Thomas Bachmann: Das kam ja 2021 auch bei Untersuchungen heraus während der Corona-Krise zutage, dass das alles ziemlich wieder runterging mit den New-Work Aktivitäten, dass alles sich wieder beruhigte und die gute alte Hierarchie wieder in vielen Organisationen Einzug hielt, weil einfach entschieden werden musste und man irgendwie Strukturen brauchte, was mich nochmal zu so einem letzten Aspekt in der Diskussion: Ist das vielleicht einfach ein Schönwetter-Konzept, das ganze Agile? Wenn es wirklich ernst wird und wenn wirklich Krise ist, ist es dann tauglich oder ist es mehr so ein Spielwiesen-Phänomen für irgendwelche hippe Entwickler, die sich da tolle Sachen ausdenken können?
Karl Schattenhofer: Ich glaub schon, dass es auf die Aufgabe ankommt, also was tun die tatsächlich. Bei einem gewissen Grad an Standardisierung hat es keinen Sinn, Agilität einzuführen.
Fritz Simon: Ich glaube auch nicht, dass es ein Hype ist, sondern dass es wirklich etwas mit der Beschleunigung von Entwicklung überlebensrelevanter Umwelten zu tun hat. Man muss sehen, und das Stichwort ist schon mehrfach gefallen, die Rationalität von Organisationen besteht darin, dass sie bestimmte Problemlösungen routinisieren. Daher ist Organisation und Innovation ein Widerspruch. Organisationen sind per se innovationsfeindlich. Doch wenn sie sich nicht der Notwendigkeit der Innovation stellen, dann überleben sie nicht, oder zumindest nicht alle. Schule hat sich z. B. über die Jahrhunderte nicht riesig verändert, sie funktioniert wie ein Durchlauferhitzer: Vorne schickt man Kinder rein, hinten kommen sie raus und können im Idealfall lesen und schreiben – da ändert sich nicht so viel – leider, muss man sagen, aber das ist ein anderes Thema. Doch es gibt Organisationen, die sich ändern müssen, und die stehen vor der permanenten Aufgabe, ihre eigenen Strukturen reflektieren zu müssen, welche sie behalten müssen, wo Routine und Routinisierung noch rational sind und wo man auf gar keinen Fall routinisieren darf, weil man sonst die notwendige Veränderung verschläft. Die deutsche Autoindustrie hat sie offenbar verschlafen, weil sie dachte, sie können mit CSU-Verkehrsministern dafür sorgen, dass Deutschland nie E‑Autos braucht. Da sieht man, wie Innovation verpasst wird, weil man daraus setzt, dass die Welt sich nicht ändert. Da ist das Problem.
Karl Schattenhofer: Und dann wird es immer agile Inseln geben, die für spezielle Aufgaben zuständig sind.
Thomas Bachmann: Ich würde mir noch ein Abschluss-Statement von jedem wünschen, so als Resümee, 1 oder 2 Sätze in denen auf jeden Fall „agiles Arbeiten“ und „Gruppendynamik“ vorkommen muss.
Oliver König: Ich habe mir angewöhnt, auch in Teams häufig zu sagen: „Wissen Sie, wir können es jetzt gruppendynamisch oder effektiv lösen“. Was mich Jahrzehnte Trainingserfahrung gelehrt hat, ist dass die Reflexionsarbeit der Gruppendynamik schon auch sehr viele Ressourcen verbraucht. Sie produziert eine Eigendynamik, die es erschwert, sie ausgerichtet zu halten auf etwas Drittes: auf Arbeitsprozesse, auf ein Produkt usw. Von daher gibt es quasi eine immanente Schwierigkeit oder Spannung zwischen der Einführung von gruppendynamischen Vorgehensweisen in Arbeitsprozesse, die eben nur bedingt Ressourcen investieren können zur Reproduktion ihrer selbst, sondern ihr Primärzweck ist eben etwas Drittes. Es gibt Arbeitsbereiche, in denen das stärker in Deckung kommt und es gibt andere, in denen ganz wenig in Deckung kommt und da sollte man es dann auch lassen. Das sind zum Beispiel diese routinisierten Bereiche oder eben Bereiche, wo „Legitimation über Verfahren“, wie das Luhmann schön gesagt hat, im Vordergrund steht.
Karl Schattenhofer: Also ich finde, diese agilen Team-Sachen sind für die Gruppendynamik eine aufregende Entwicklung, eine der vielen Entwicklungen, die Gruppendynamiker auch gerne vorüberziehen lassen und sagen, kennen wir alles schon. Es wäre, glaube ich, ganz gut, sich damit zu beschäftigen. An manchen Stellen entstehen mehr Verbindungen. So kommen Leute auf Trainings, die in dem Bereich arbeiten. Aber ich finde auch, die Gruppendynamiker:innen könnten sich schon mal einen Schritt auf die Agilen zubewegen. Viele gruppendynamische Modelle wie die Phasen oder die Rollen sind aus therapeutischen Selbsterfahrungsgruppen gewonnen und im Arbeitsleben nicht sehr passend. Da könnte man einiges tun, um mehr Verbindungen herzustellen zwischen dieser neuen Szene und dem, was in der Gruppendynamik passiert, auch sprachlich braucht es da einige Übersetzungsarbeit.
Roswita Königswieser: Also, wenn es um mein Abschluss-Statement geht, fällt mir das nicht so leicht. Aber vom Prinzip her, finde ich das agile Arbeiten als Prinzip und damit das „Salonfähig-Machen“ von Selbstorganisation, Komplexitätsmanagement, Innovation und Prozessorientierung und alle damit einhergehenden Dimensionen sehr wertvoll. Gruppendynamik gibt es immer dabei, und sie in einer bestimmten Qualität bewusst zu machen oder zu nutzen, das, was man lernen kann in der Gruppendynamik, ist für mich eine schöne Symbiose von diesen beiden Konzepten, die wirklich helfen, Zukunftsfähigkeit von Unternehmen zu stärken.
Fritz Simon: Aus meiner Sicht gibt es keinen besseren Ort als das gruppendynamische Labor, um soziale Selbstorganisationsprozesse zu beobachten und zu studieren. Es ist zur Etablierung selbstorganisierter Teams in Organisationen höchst relevant, diese grundlegenden Prozesse zu verstehen. Aber, und das gehört für mich dazu, das reicht nicht, denn man braucht daneben auch ein Konzept bzw. ein Verständnis von Organisation und darf nicht denken, dass Organisationen einfach eine Zusammensetzung vieler Gruppen sind. Denn Organisationen sind soziale Systeme, die einer ganz anderen Logik folgen als Gruppen. In Gruppen ist Hierarchie ein Problem, vor allem, wenn versucht wird, sie auf Dauer zu stellen. In der Organisation ist Hierarchie hingegen höchst funktionell. Und das wahrzunehmen und damit umgehen zu können, ist eine Kompetenz, die heute jeder, der in einer Organisation eine verantwortliche Position innehat, besitzen sollte. Und das kann man am besten in einem Gruppendynamiktraining lernen und auch reflektieren.
Thomas Bachmann: Ich bedanke mich sehr herzlich für dieses wunderbare Gespräch.
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Literatur
Zurück zum Zitat Brinkmann, B., & Schattenhofer, K. (2022). Erfolgreiche Teams in der Selbstorganisation. Sechs Aufgaben, damit Teams arbeitsfähig werden – und welche Rolle Führung dabei spielt. München: Vahlen. Brinkmann, B., & Schattenhofer, K. (2022). Erfolgreiche Teams in der Selbstorganisation. Sechs Aufgaben, damit Teams arbeitsfähig werden – und welche Rolle Führung dabei spielt. München: Vahlen.
Zurück zum Zitat Groth, T., Krejci, G. P., & Günther, S. (2021). New Organizing: Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann. Heidelberg: Carl-Auer. Groth, T., Krejci, G. P., & Günther, S. (2021). New Organizing: Wie Großorganisationen Agilität, Holacracy & Co. einführen – und was man daraus lernen kann. Heidelberg: Carl-Auer.
Zurück zum Zitat Kinkel, S., Cherubini, E., Kopp, T., & Beiner, S. (2022). Nutzung und Nutzen agiler und offener Methoden für die Entwicklung digital vernetzter Produkte und Geschäftsmodelle. Hochschule Karlsruhe Technik und Wirtschaft. Kinkel, S., Cherubini, E., Kopp, T., & Beiner, S. (2022). Nutzung und Nutzen agiler und offener Methoden für die Entwicklung digital vernetzter Produkte und Geschäftsmodelle. Hochschule Karlsruhe Technik und Wirtschaft.
Zurück zum Zitat König, O. (2023). Beschwörung des Imaginären. Zur Gemeinschafts- und Familienrhetorik im Beratungsdiskurs zu „New Work“. Familiendynamik, 2, 136–148.CrossRef König, O. (2023). Beschwörung des Imaginären. Zur Gemeinschafts- und Familienrhetorik im Beratungsdiskurs zu „New Work“. Familiendynamik, 2, 136–148.CrossRef
Metadaten
Titel
Agiles Arbeiten und Gruppendynamik
Ein Expertengespräch mit Oliver König, Roswita Königswieser, Karl Schattenhofer und Fritz Simon moderiert von Thomas Bachmann
verfasst von
PD Dr. Thomas Bachmann
Dr. Oliver König
Dr. phil. Roswita Königswieser
Dr. Karl Schattenhofer
Prof. Dr. med. Fritz B Simon
Publikationsdatum
25.09.2023
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
DOI
https://doi.org/10.1007/s11612-023-00707-3

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