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16.02.2024 | Arbeitsrecht | Interview | Online-Artikel

"Streikrecht wird irgendwann infrage gestellt"

verfasst von: Andrea Amerland

4 Min. Lesedauer

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Deutschland wird von einer Streikserie gebeutelt. Das Verständnis für den Arbeitskampf sinkt. Springer Professional sprach mit Jurist Alexander Bourzutschky über die Rechtsgrundlagen - auch in Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit.

Springer Professional: In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich Deutschland zu einer Streikrepublik entwickelt. Was sind hierzulande aktuell die rechtlichen Grundlagen für Streiks? Wann darf wer überhaupt streiken?

Alexander Bourzutschky: Das Recht zum Streiken wird indirekt aus Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes hergeleitet. Es handelt sich dabei um die von einer Gewerkschaft organisierte, gemeinsame Einstellung der Arbeit durch eine größere Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb eines Betriebes oder eines Gewerbezweiges. Der sogenannte Arbeitskampf wird zu einem bestimmten Zweck geführt oder soll einen anderweitigen Arbeitskampf unterstützen. Nicht gestreikt werden darf, solange die sogenannte Friedenspflicht gilt oder wenn der Arbeitskampf auf unzulässige Streikziele gerichtet ist, die nicht in einem Tarifvertrag regelbare Forderungen umfassen.

Gibt es auch es eine rechtliche Grundlage, die die Verhältnismäßigkeit von Streiks definiert? Gerade diese Frage hat beim Lokführerstreik die Gemüter erhitzt …

Zunächst muss man feststellen, dass die Ziele und Mittel eines Arbeitskampfes nicht im Gesetz geregelt sind. Daher entscheidet allein die Rechtsprechung darüber, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten ist. In der Folge sind Streiks, mit denen nicht tariflich regelbare Forderungen durchgesetzt werden sollen, stets und ausnahmslos rechtswidrig. Zudem muss eine Arbeitskampfmaßnahme nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes geeignet sein, dass durch ihren Einsatz die Durchsetzung des Kampfzieles gefördert werden kann. Auch muss ein Ausstand verhältnismäßig im Sinne des mildest möglichen Mittels gewählt werden, dem sogenannten Ultima-Ratio Grundsatz. Daher sind Arbeitskämpfe grundsätzlich erst nach Ausschöpfung aller anderen Verständigungsmöglichkeiten verhältnismäßig.

Der wirtschaftliche Schaden durch Streiks ist groß. In Krisenzeiten geraten Unternehmen dadurch gegebenenfalls ins Straucheln. Hat das Einfluss auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Streiks?

Gegeneinander abgewogen werden zur Bewertung der Verhältnismäßigkeit die Arbeitskampffreiheit und die verfolgten Tarifforderungen auf der einen Seite und die Rechtsgüter und Interessen der vom Arbeitskampf betroffenen auf der anderen Seite. Eine Unverhältnismäßigkeit kann sich daher nur ergeben, wenn die Interessen des Kampfgegners, der Allgemeinheit oder sonstiger Dritter in unangemessener Weise beeinträchtigt werden. Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner jüngeren Rechtsprechung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als zentralen und angemessenen Maßstab für die Beurteilung eines Arbeitskampfes bestätigt, gleichzeitig aber klargestellt, dass sich aus Art. 9 Abs. 3 GG eine freie Wahl der Arbeitskampfmittel ergebe. Unverhältnismäßig ist ein Arbeitskampfmittel demnach nur, wenn ein Verstoß gegen kollidierende Rechte mit Verfassungsrang besteht.

Was heißt das in der Praxis?

Ein Streik ist nicht allein dann unverhältnismäßig, wenn teilweise erhebliche Schäden entstehen. Es liegt nach Auffassung der Arbeitsgerichte im Wesen eines jeden Ausstands, dass der bestreikte Arbeitgeber Schäden erleidet. Lediglich bei unmittelbar existenzgefährdenden Auswirkungen wird von einer Verletzung des sogenannten Übermaßverbotes ausgegangen.

Eine weitere Einschränkung ist dort vorzunehmen, wo Arbeitnehmergruppen besonders wichtige Funktionen ausüben, was beispielsweise im Gesundheitswesen der Fall ist. Hier müssen auch während des Arbeitskampfes notwendige Notdienste und Erhaltungsarbeiten gewährleistet werden. Diese Rechtsprechung sollte jedoch auch dann Anwendung finden, wenn mehrere Gewerkschaften bewusst zeitgleich gesamte Bereiche einer Infrastruktur zum Erliegen bringen und der Gesamtwirtschaft einen irreparablen Schaden zufügen.

Der Ruf nach einem Arbeitskampfrecht wird in letzter Zeit immer lauter. Aktuell gibt es vor allem Gerichtsurteile zum Thema. Braucht es ein solches Gesetz? Wo stoßen die einzelnen Richtersprüche vor der aktuellen Entwicklung gegebenenfalls an Grenzen?

Für Streiks und Arbeitskämpfe gibt es bisher außer der oben aufgeführten Norm des Grundgesetzes keine gesetzliche Rechtsgrundlage. Schon vor Jahrzehnten wurde der Entwurf eines Arbeitskampfgesetz von einer Gruppe Arbeitsrechtler vorgelegt. In einem solchen Gesetz könnten klare Regelungen getroffen werden, die allen Beteiligten mehr Rechtssicherheit verschaffen könnte. Bis dahin bleibt das Streikrecht im Wesentlichen Richterrecht und wird weiter durch einzelne Gerichtsentscheidungen geprägt werden.

Wo sehen Sie rund um das Thema Streik und Arbeitskampf noch Reformbedarf?

Das Streikrecht hat auch in Deutschland eine lange Tradition und eine wichtige Funktion innerhalb des Gefüges zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Tarifparteien sollten jedoch ihre Arbeitskämpfe auch dahingehend prüfen, inwieweit deren Auswirkungen der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft schaden. Die Akzeptanz des Streikrechts wird irgendwann infrage gestellt werden, wenn Streiks gezielt und koordiniert zu einem Totalausfall unserer Wirtschaft führen. In anderen europäischen Ländern, allen voran Frankreich, sind Generalstreiks mittlerweile häufig. Dies sollte sich in Deutschland nicht auch dergestalt entwickeln. Ansonsten wird die Zivilgesellschaft das Streikrecht irgendwann in Gänze als unverhältnismäßig ansehen und es abschaffen.

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