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03.01.2023 | Biowerkstoffe | Schwerpunkt | Online-Artikel

Warum der NS-Staat auf einen Biokunststoff baute

verfasst von: Thomas Siebel

4:30 Min. Lesedauer

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Das nationalsozialistische Deutschland strebte nach einer rohstoffautarken Wirtschaft – unter anderem mithilfe der cellulosebasierten Vulkanfiber. Wirtschaft und Bevölkerung hatten sich frühzeitig umzugewöhnen.

Eines der ältesten industriell hergestellten Biopolymere ist Vulkanfiber. Seit über hundert Jahren produzieren deutsche Unternehmen den Kunststoff, der ausschließlich aus Cellulose besteht und vollständig biologisch abbaubar ist. Er ist leicht und zugleich mechanisch hoch belastbar. Aus heutiger Perspektive ist Vulkanfiber ein Nischenwerkstoff: Als flexibles Trägermaterial für Schleifscheiben findet er seine Hauptanwendung; auch Dichtungsringe und Stanzteile für den Maschinenbau und die Elektroindustrie finden sich hier und da. Vor diesem Hintergrund mag es verwundern, welche volkswirtschaftliche Bedeutung dem Werkstoff dereinst beigemessen wurde.

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2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

Die Vulkanfiber als „Ersatzstoff“ im NS-System

„Eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen Merkmale des NS-Staates war zweifellos die starke Abschottung der deutschen Volkswirtschaft gegenüber dem Ausland […]. Ergänzt wurde diese Politik durch den Versuch, die deutsche Wirtschaft hinsichtlich ihrer Rohstoff- und Güterversorgung weitgehend autark zu machen […].“

Zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs bot die Vulkanfiber Anlass zur Industriespionage, der Abbruch der Handelsbeziehungen zu den USA im Ersten Weltkrieg initiierte schließlich den Aufbau einer heimischen Vulkanfiberproduktion, im nationalsozialistischen Deutschland sollte Vulkanfiber die Abhängigkeit von ausländischen Rohstoffimporten mindern, bevor BRD und DDR mit ihren unterschiedlichen Wirtschaftssystemen jeweils eigene Entwicklungspfade für den Werkstoff einschlugen. In seinem Buch Werkstoff zwischen den Systemen – Eine Stoffgeschichte der Vulkanfiber im 19. und 20. Jahrhundert gibt der Historiker Simon Große-Wilde einen umfassenden Einblick in die Entwicklung und die Rolle des Werkstoffs, der vor dem Hintergrund unsteter politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen immer wieder aufs Neue angepasst wurde.

"Deutsche Heimstoffe" sollten positives Image erhalten

In einem eigenen Kapitel widmet sich der Autor dabei der Vulkanfiber als "Ersatzstoff" im NS-System. Als Vorbereitung auf den Kriegsfall verfügten die Nationalsozialisten bereits 1934 mit dem zweiten "Vierjahresplans", dass die Wehrmacht binnen vier Jahren "einsatzbereit" und die deutsche Wirtschaft "kriegsfähig" sein müsse. Allerdings war das rohstoffarme Deutschland weiterhin auf den Import von Materialien wie Kupfer, Zinn, Messing oder Bronze angewiesen. Im Rahmen der sogenannten Ersatzstoffwirtschaft sollte deswegen ein möglichst großer Teil dieser sogenannten Sparstoffe durch Roh- und Werkstoffe "deutschen Ursprungs" ersetzt werden. Angesichts jüngster Erfolge in der synthetischen Fabrikation von Roh- und Werkstoffen gerieten dabei Kunststoffe verstärkt in den Fokus der NS-Wirtschaftspolitik.

Entwicklung und Produktion entsprechender Werkstoffe wurde gefördert, während die NS-Propaganda der Bevölkerung ein positives Image von den "deutschen Heimstoffen" zu vermitteln versuchte, wie Große-Wilde schreibt. In wissenschaftlichen Fachzeitschriften wurden die Vorzüge und Vorteile "deutscher Kunststoffe" breit propagiert; Werkstoffschauen wurden einerseits als Leistungsschau der deutschen Industrie aufgezogen, während Besucher andererseits über den richtigen Umgang mit den neuen Werkstoffen und Produkten belehrt wurden.

Vulkanfiber war höherwertiger als andere Kunststoffe

Durch die frühzeitige Ausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft auf den Gebrauch neuer Werkstoffe sollten schlechten Erfahrungen mit Ersatzstoffen wie zur Zeit des Ersten Weltkriegs unbedingt vermieden werden. Damals wurden plötzlich ausbleibende Materialimporte mit minderwertigen Ersatzstoffe kompensiert, weswegen der Begriff Ersatzstoff seither negativ konnotiert war. Mit verschiedenen Hinweisen und Vorschriften wollte der NS-Staat nun sicherstellen, dass die Qualität eines Produkts durch den ausgetauschten Werkstoffe nicht vermindert, sondern im besten Fall verbessert wird. Zugleich wurden Konstrukteure ermuntert, anstelle von bekannten Baustoffen wie Eisen oder Stahl neue Werkstoffe zu nutzen.

Vulkanfiber fiel in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Die Industrie hatte bereits Erfahrung mit dem Kunststoff und vielen Deutschen war die Vulkanfiber bereits bekannt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kunststoffen hing ihr laut Große-Wilde nicht mehr der Makel eines minderwertigen Ersatzstoffs oder eines "Kind des Krieges" an.

Statt Baumwolle soll Holz als Rohstoff dienen

Was der Bevölkerung allerdings als veredelter "deutscher Kunststoff" aus "deutschem Holz" präsentiert wurde, stellte die Industrie vor Herausforderungen. Als Rohstoff nutzte sie bislang nämlich nicht Holz, sondern Baumwolllumpen. Die Vulkanfiberindustrie musste nicht nur ihre Rohstoffversorgung umstellen und dabei ihre Produktionskapazität deutlich ausweiten, sondern sie musste auch damit umgehen, dass zu diesem Zeitpunkt kein gesichertes Wissen darüber vorlag, ob Cellulose aus Holz und Baumwolle überhaupt über die gleichen Eigenschaften verfügen.

Letztlich gelang der Umstieg auf Baumzellulose aber innerhalb kürzester Zeit, maßgeblich unterstützt durch wissenschaftliche Fortschritte in der Cellulose- und der Kunststoffchemie. Innerhalb von vier Jahren steigerten die deutschen Vulkanfiberhersteller ihre Produktion um mehr als das Dreifache, ebenfalls stiegen Umsätze und Gewinne.

Hersteller setzten Zwangsarbeiter ein

Ursprünglich sollte die Vulkanfiber helfen, die Verfügbarkeit knapper Materialien für die Rüstungsindustrie zu strecken. Mit der Zeit wurde die Rüstungsindustrie aber selbst zum größten Abnehmer für Vulkanfiber. Produktionsanfragen von ziviler Seite wurden seitens der Hersteller teilweise zurückgewiesen. Als wichtigste Anwendung für Vulkanfiber entwickelten sich dabei Treibstofftanks für die Luftwaffe. Daneben kam Vulkanfiber unter anderem als Leichtbauwerkstoff in Fahrzeugen oder als Werkstoff für Patronenhülsen oder Helme zum Einsatz.

Abgesehen davon, dass die Vulkanfiberhersteller sich damit zunehmend in den Dienst eines verbrecherischen Staats stellten, zeigte der ökonomische Erfolg noch eine weitere menschenverachtende Facette: Um die Produktion auch nach Kriegsbeginn noch weiter zu steigern, wurden zum Kriegsdienst einberufenen Mitarbeiter in den Vulkanfiberfabriken Martin Schmid, DAG und der Monitwerke GmbH in unterschiedlichem Ausmaß durch Zwangsarbeiter ersetzt. Wie hoch die Zahl der eingesetzten Zwangsarbeit genau war, lässt sich laut Große-Wilde aufgrund der fragmentarischen Quellenüberlieferung allerdings schwer abschätzen.

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Die Hintergründe zu diesem Inhalt

2018 | Buch

Cellulose Derivatives

Synthesis, Structure, and Properties

2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

Hightech-Ressourcen

Quelle:
Georessourcen

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