Wir entfalten in vier Schritten unsere Erkenntnis, der zufolge die Ausbreitung der Massenpresse die Hörbarkeit abweichender Stimmen förderte und die Partei in einem Zwiespalt gefangen hielt, was ihren Umgang mit innerer Meinungsfreiheit anging. Im ersten Schritt zeigen wir, wie sich ab 1890 die Kritik an innerer Meinungsfreiheit intensivierte und welche Ereignisse dazu Anlass boten. Dann betrachten wir die Abweichler, die Meinungsfreiheit aus eigenen Professionalisierungsinteressen einforderten und das etablierte Denken der moralisch überlegenen und disziplinierten Parteipresse und -öffentlichkeit infrage stellten (foreground discursive abilities). Drittens rücken die Bewahrer dieser Ideenstruktur aus dem Parteizentrum in den Blick, die diesen Forderungen eine Absage erteilen mussten (background ideational abilities). Hier wird auch erläutert, wie sich die Bewahrer mit ihrer innerparteilichen Macht über Ideen (power over ideas) durchsetzen konnten, warum die „Einhegung“ der Kritiker aber nicht ohne die gesellschaftlichen Machtkonstellationen zu verstehen ist und dies ambivalente Folgen für die Partei hatte. Thesen (Kursivsatz) gliedern unsere Argumentation.
5.1 Verstärkung der Kritik ab 1890
Mit dem Eintritt in die medial entfesselte Gesellschaft nach 1890 wird Meinungsfreiheit innerhalb der Sozialdemokratie zum Problem.
Mit den gewachsenen Mitgliederzahlen sowie der wieder aufgelebten politischen Arbeit nach Ende des Sozialistengesetzes verstärkten sich die „Fliehkräfte im Inneren“ (Schmidt
2013, S. 176). Die Vielfalt der Meinungen nahm zu und konnte über einen dichteren Medienverbund als zuvor weite Verbreitung finden. Zu diesem gehörten neue parteieigene Angebote. Diffamierungen durch die Presse waren aus Sicht der Genossen weiterhin die Regel. Schon der erste Parteitag nach Ende des Sozialistengesetzes machte den Zwiespalt deutlich, mit dem die SPD nun besonders dringlich umgehen musste: das Austarieren der nötigen Geschlossenheit nach außen mit Meinungsfreiheit im Inneren. Wilhelm Liebknecht kam gleich zu Beginn seiner Eröffnungsrede auf den Druck der Berichterstattung zu sprechen: „Es ist Ihnen bekannt, daß in den letzten Tagen durch die gegnerische Presse verbreitet worden ist, die Sozialdemokraten hätten zwar im ersten Moment in großmüthiger Aufwallung erklärt, der Eintritt zum Kongreß solle frei, seine Verhandlungen öffentlich sein, aber (…) der Beschluß sei zurückgenommen worden, weil wir (…) viel schmutzige Wäsche zu waschen hätten. Wohlan, nun tagen wir hier im Lichte der vollsten Oeffentlichkeit; die Vertreter der Presse aller Parteien dürfen anwesend sein.“ (Protokoll
1890, S. 12). Dieses Öffentlichkeitsverständnis – die Parteipresse als Waffe gegen die feindliche bürgerliche Presse – erforderte Geschlossenheit der parteieigenen Kommunikation und letztlich Kontrolle, zumal die eigene Presse weiter strafrechtlich verfolgt wurde (vgl. Danker et al.
2003, S. 49). So sah der von Ignaz Auer präsentierte Entwurf für ein Organisationsstatut vor, „daß der Parteivorstand auch die prinzipielle Haltung der Parteiorgane zu kontrollieren hat“ (Protokoll
1890, S. 124). Der Entwurf wurde beschlossen, jedoch machten sich manche Delegierte Sorgen. So zollte etwa August Keßler aus Bernburg durchaus dem Prinzip der Kontrolle Tribut, forderte aber angesichts der „Auslegung Auers“, wonach einzelne Artikel zu prüfen wären, „die Preßfreiheit zu sichern“ (Protokoll
1890, S. 140). Ein Jahr später nahm Wilhelm Liebknecht die „Opposition der Jungen“ zum Anlass, den Genossen einzuschärfen, Parteikritik intern zu äußern. „Aber wir sind eine organisierte, geschlossene Partei, und es ist notwendig, daß man diejenigen Instanzen durchgeht, die man durchgehen muß, bevor man an die Oeffentlichkeit mit Beschwerden und Anschuldigungen geht.“ (Protokoll
1891, S. 129) August Bebel beklagte, „(d)aß man sich alle die Erfahrungen und öffentlichen Erörterungen, die wir ja als demokratische Partei zu machen gezwungen sind, ad notam nimmt und bei gelegener Zeit benutzt“ (Protokoll
1897, S. 98). Er wiederholte auch später Liebknechts Ermahnung (vgl. Protokoll
1902, S. 125).
Auch dass die Beschäftigung mit Meinungsfreiheit immer wiederkehrte, umfangreicher und medial verdichtet wurde, spricht dafür, dass die Partei hier keine Ruhe mehr fand. Mehrere Parteitage setzten die Diskussion über die Mitarbeit in der bürgerlichen Presse ausführlicher als zuvor fort (1891, 1901, 1903). Der Parteitagsbeschluss von 1903 untersagte, dass „Parteigenossen (…) an bürgerlichen Preßunternehmungen tätig sind, in denen an der sozialdemokratischen Partei gehässige oder hämische Kritik geübt wird“. Er ging auf einen Vorschlag des Vorstands zurück. Für Vertrauensämter sollten diese Genossen nicht infrage kommen (vgl. Protokoll
1903, S. 117–118; Parteivorstand
1903a, S. 3). Auch parteinahe, unabhängige Medienangebote, Versammlungen und sogar einzelne Vorträge wurden zum Thema gemacht. Dazu zählten die
Sozialistischen Monatshefte (Parteitage 1895, 1901, 1902, 1909; Parteiausschuss 1913), die Zusammenkünfte und ein Flugblatt der „Berliner Opposition“ (Parteitage 1890, 1891), Schriften und ein Vortrag von Eduard Bernstein (Parteitage 1899, 1901) sowie der
Vorwärts (Parteitag 1905). Die „Opposition der Jungen“, denen die Reichstagsfraktion zu zahm geworden war (vgl. Wienand
1976), nahm nahezu den gesamten ersten Verhandlungstag 1890 ein und zog sich ein Jahr später sogar über drei von sechs Tagen hin. 1901 verbrauchte der Kongress ebenfalls die Hälfte der Zeit, um über Eduard Bernstein zu diskutieren. Es ging um mehrere Fragen: Ob der gerade aus dem Londoner Exil zurückgekehrte Sozialdemokrat einen Vortrag über „wissenschaftlichen Sozialismus“ im Berliner Sozialwissenschaftlichen Studentenverein hätte halten dürfen (vgl. Bernstein
1991, S. 225; Protokoll
1901, S. 138–139.), wie die „bürgerliche Presse seinen Vortrag fruktifizirte“, wie Bebel betonte (Protokoll
1901, S. 167), ob nicht Bernstein dem Presselob hätte entgegentreten müssen und was die Parteipresse versäumt hatte (Protokoll
1901, S. 132–190). In dieser Debatte rückten auch die
Sozialistischen Monatshefte in die Kritik. Ihre Autoren sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, gegnerischen Zeitungen zuzuspielen und der Partei zu schaden (vgl. Protokoll
1901, S. 170–172). Die Auseinandersetzung um diese Zeitschrift, der die Anerkennung als Parteiorgan verweigert wurde, war eng verbunden mit der Kritik am „wissenschaftlichen Zentralorgan“
Die Neue Zeit (vgl. Stampfer
1957, S. 54), die auf dem Parteitag 1901 und noch deutlicher 1902 artikuliert wurde. Reformer und Revisionisten wie Georg von Vollmar und Eduard David beschwerten sich über Karl Kautskys Redaktionspolitik, die streng der marxistischen Parteilinie folgte, und wünschten Anerkennung der
Monatshefte. Auch mit dem Thema der Wirksamkeit der Parteipresse ergab sich eine neue Gelegenheit, Meinungsfreiheit anzusprechen (etwa 1893, 1895, 1896, 1901, 1902, 1909, 1912, 1913). 1905 gerieten Parteiredakteure des
Vorwärts in Konflikt mit Vorstand und Berliner Pressekommission. Hinter der abweichenden Haltung, die der Chefredakteur Kurt Eisner und seine Mitstreiter zu Massenstreiks bezogen hatten, stand die Frage, wie das Zentralorgan bei parteiinternen Differenzen berichten sollte. Durch die Doppelfunktion als Berliner Lokal- und Zentralorgan war dies erschwert (vgl. Grau
2001, S. 210–219).
Meinungsfreiheit wurde nach 1890 auch deshalb zum Problem, weil sich die diskursive Praxis änderte. Schon zuvor war Widerspruch laut geworden worden, sobald Beziehungen zur bürgerlichen Presse oder Neugründungen angeprangert wurden. Das geschah aber entweder nicht mit dem Argument „Meinungsfreiheit“, wie im Fall der linksliberalen
Frankfurter Zeitung und ihres Verlegers Leopold Sonnemann (vgl. Protokoll
1876, S. 44–54). Oder das Argument wurde nicht offensiv für eine Kritik an der Parteiführung eingesetzt, etwa bei dem Parteiausschluss des Parteiredakteurs und Reichstagsmitglieds Wilhelm Hasselmann und des Exilpresse-Herausgebers Johann Most, beide Anhänger des Anarchismus (vgl. Protokoll
1880, S. 25; Wienand
1976). Meinungsfreiheit wurde informell angemahnt, wie in Briefen von Friedrich Engels an Parteiführer (vgl. Loreck
1977, S. 74; Sperlich
1983, S. 226). Freigesetzt in eine verdichtete Medienwelt, problematisierte nun eine gewachsene Gruppe von Kritikern die Regeln für öffentliche Kommunikation und übte offene Kritik an der Parteiführung. Allerdings schränkt die Quellenlage diesen Befund ein. In der Zeit des Sozialistengesetzes fanden nur unregelmäßig Parteikonferenzen statt, deren Diskussionen zudem nicht wörtlich, sondern zusammengefasst wiedergegeben wurden.
Zu den Kritikern gehörten Vertreter von Minderheiten: anfangs Linksoppositionelle, später vor allem der rechte Flügel sowie Parteijournalisten. Sie konnten sich leichter als zuvor zu Wort melden, zumindest in den
Monatsheften sowie in Broschüren und Pamphleten (vgl. etwa Braun
1903b; Büttner et al.
1905; Calwer
1894; Vollmar
1892,
1903). Letztere waren ab 1890 schneller, billiger und in höheren Auflagen herstellbar (vgl. Kohlrausch
2005, S. 56–57).
5.2 Das Problem der inneren Meinungsfreiheit
Die Herausforderer kritisierten Unterdrückung und Bevormundung. Sie wiesen auf die Chancen und Funktionsweisen der modernen Presse hin und stellten damit die Autorität des SPD-Presseverständnisses infrage.
Die Kritik stützte sich auf zwei zentrale Argumente, die über die genannten Themen und die Zeit zwischen 1890 und 1914 hinweg wiederkehrten: demokratischer Wesenskern und Erfolg der Parteipresse. Das Demokratie-Argument tauchte auch in den Nachlesen zur Reichstagswahl von 1903 auf, aus der die Partei stärker denn je hervorgegangen war (vgl. Wehler
2008, S. 1046). Der Reichstagsabgeordnete Vollmar (
1903, S. 18–19) beschwerte sich über den „herrische(n) Ton des Schulmeisters“ Bebel, der Bernstein in der
Neuen Zeit kritisiert hatte (vgl. Bebel
1903). Kautsky habe Bebels Beitrag in „den auffälligen Formen eines amtlichen Erlasses“ veröffentlicht, obwohl es sich um „Meinungsäußerungen (…) eines gleichberechtigten Mitarbeiters“ handele. Er begründete das „Recht (…) jedes Parteigenossen auf freie Meinungsäußerung“ damit, dass die SPD „eine demokratische und keine autoritäre Partei sein“ wolle (Vollmar
1903, S. 18). Auch der Abgeordnete Wolfgang Heine (
1903, S. 477–478) hatte den Wahlerfolg genutzt und „Bevormundungsversuche(n)“ und „unbrüderliche(n) Zwang“ in der Partei thematisiert. Heine wurde im selben Jahr wegen seiner Mitarbeit in bürgerlichen Zeitungen angegriffen. Im
Vorwärts-Konflikt argumentierten Redakteure damit, dass in einer „Partei der Oeffentlichkeit“ eine „ehrliche Kritik von Mißständen“ erlaubt sein muss (Büttner et al.
1905, S. 139). Auf über 140 Seiten veröffentlichten sie die „Aktenstücke“ zum Konflikt.
Das zweite Argument griff die Unzufriedenheit mit der Parteipresse auf. Es knüpfte „Wirksamkeit“ an Freiräume für Journalisten und verbesserte Ausstattung (vgl. Protokoll
1896, S. 67–80,
1901, S. 133–138,
1913, S. 8; Schröder
1907, S. 742). Der Redakteur der Wiener
Arbeiter-Zeitung Karl Leuthner (
1910, S. 492, 494) war der Ansicht, dass eine Zeitung erst dann „die öffentliche Meinung mit fortreißen“ kann, wenn Journalisten aus „Einengungen“ befreit sind. Eine Redaktion sei „nicht im stande fruchtbringend zu wirken“, wenn sie sich „bis zu einem gewissen Grade nicht frei bewegen kann“, warnte auch Richard Calwer in den
Monatsheften (
1901, S. 704). Der freie Journalist, der ein paar Jahre Redakteur des
Braunschweiger Volksfreunds gewesen und dann mit kolonialistischen Tönen aufgefallen war (vgl. Bloch
2008, S. 15), musste sich auf dem Parteitag rechtfertigen (vgl. Protokoll
1901, S. 197). Calwer (
1906) erneuerte seine Kritik an „Disziplin und Meinungsfreiheit“ in der Partei, als klar wurde, dass seine Partei-Korrespondenz
Wirtschaftliche Wochenschau gescheitert war (Th.
1906). Schon 1893 hatte Heinrich Braun die Parteileitung kritisiert, nicht nur die „Geringschätzung“ und „stiefmütterlich(e)“ Ausstattung der Parteipresse, sondern auch die fehlende „Gesinnung größter kritischer Freiheit“ (Braun
1893, S. 515, 517, 519). Mit seinem
Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik war es ihm noch unter dem Sozialistengesetz gelungen, sich einen eigenen Kanal zu schaffen, der in sozialliberale wissenschaftliche Kreise hineinreichte (vgl. Braun-Vogelstein
1932, S. 98–114). Die Leitung der von ihm mitgegründeten
Neuen Zeit hatte er nach „gereizten Auseinandersetzungen“ verlassen: Braun habe „auf Akademiker und Liberale wirken“ wollen, er selbst „auf intelligente Proletarier“, so Kautsky (
1960, S. 541–542). Ein späteres Zeitschriftenprojekt scheiterte am Geld, aber auch am Streit um die Mitarbeit an bürgerlichen Zeitungen. In dessen Mittelpunkt war Braun geraten, als er seine dritte Ehefrau Lily von Gisycki verteidigen wollte, die wie Paul Göhre oder Georg Bernhard in Maximilian Hardens
Zukunft geschrieben hatte (vgl. Braun
1903a,
1903b; Protokoll
1903).
Die Abweichler betonten die Vorteile von breiter medialer Öffentlichkeit und wiesen auf das Spektrum und die Funktionsweise bürgerlicher Presseangebote hin. Damit stellten sie die Autorität des SPD-Presseverständnisses infrage. Im Streit um Bernsteins Vortrag relativierte Wolfgang Heine die Vorwürfe: Es mache einen Unterschied, ob „ein ganz untergeordnetes Organ“ wie
Welt am Montag über die Partei berichte oder das „Weltblatt“
Frankfurter Zeitung (Protokoll
1901, S. 146). Heine schrieb selbst für das
Berliner Tageblatt und die
Vossische Zeitung, was auch 1913 noch den Parteiausschuss beschäftigte (vgl. SPD
1980, S. 57; Sperlich
1983, S. 183). Georg Gradnauer, Reichstagsabgeordneter und
Vorwärts-Redakteur, argumentierte in derselben Debatte mit dem Wissen um die Logik der Presse. Bürgerliche Blätter lebten ja davon, „in unseren Reihen Wirrniß anstiften zu wollen“. Er fragte, ob sich die Partei „fortwährend nervös aufregen lassen“ wolle „durch die Spaltungsfabeleien einer gegnerischen Presse“ (Protokoll
1901, S. 135). Heinrich Braun wies später darauf hin, dass die bürgerliche Presse „unzählige der verschiedenartigsten Nuancen auch in ihrer Stellung zur Socialdemokratie“ aufwies (Braun
1903a, S. 3). Der Bruder des Parteiredakteurs Adolf Braun hatte sich im Vorfeld des Kongresses im
Vorwärts einen Schlagabtausch mit dem Parteivorstand geliefert. Unter der Überschrift „Freiheit der Meinungsäußerung und Parteivorstand“ warnte er dabei vor einer „chinesischen Mauer“ und betonte, dass es das „unabweisbare Interesse“ der Partei sei, sich auch zukünftig bürgerlicher Zeitungen zu bedienen (Braun
1903a, S. 3; vgl. Parteivorstand
1903a,
1903b). Schon zehn Jahre zuvor war das moralische Öffentlichkeitsverständnis von ihm infrage gestellt worden (vgl. Braun
1893, S. 520). Das taten auch Eduard Bernstein (
1909) und Karl Leuthner (
1910) in den
Monatsheften. Ein sozialdemokratischer Artikel könne in einem nichtsozialdemokratischen Blatt „mehr am Platz sein“, so Bernstein (
1909, S. 1094), „nämlich sobald es sich um die Einwirkung auf ein grösseres oder anders geartetes Publikum handelt“. Bernstein hatte im Londoner Exil Presse und Publikum im „Sensationsprozess“ über Oscar Wilde beobachtet und einen „englischen Agitator“ studiert (Bernstein
1895, S. 175,
1896, S. 11).
Auch die Vorschläge der Herausforderer stellten die Ideenstruktur der sozialdemokratischen Presse infrage: Mitarbeit in bürgerlichen Zeitungen, Reform – jedoch nicht Abschaffung – der Pressekommissionen, Anerkennung und bessere Bezahlung von Berufsjournalisten, Orientierung an der Massenpresse (vgl. Calwer
1894,
1901,
1906; Stampfer
1903; Schröder
1910; Bernstein
1909; Leuthner
1910). De facto hatte sich die Parteipresse längst für bestimmte Organisations- und Funktionsweisen der Massenpresse geöffnet, nur spiegelte die offizielle Linie das kaum wider (vgl. Löblich und Venema
2018; Sperlich
1983, S. 149). Alex Hall (
1977, S. 192–193) hat Sensations- und Skandalberichterstattung in der Parteipresse der 1890er Jahre gefunden.
Berufskontexte und Einkommensquellen verweisen auf unterschiedliche Interessen und Spielräume bei der Problematisierung von Meinungsfreiheit.
Zu den Akteuren mit
foreground discursive abilities gehörte entweder ein bürgerliches Elternhaus, das das Studium bezahlte, oder zumindest ein Handwerkerdasein, das Zeit für autodidaktische Bildung ließ (vgl. Wienand
1976, S. 219). Diese Akteure verfügten über journalistische Erfahrung oder besaßen Gespür für öffentliche Resonanz, wie der ehemalige Pfarrer Paul Göhre, der eine aufsehenerregende Sozialreportage sowie eine weit verbreitete Rede über seinen Weg in die Sozialdemokratie verfasst hatte (vgl. Göhre
1891; Protokoll
1903, S. 236; Bloch
2008). Einige waren Mitglieder im Reichstag.
Sortiert man die Akteure nach der Erwerbsquelle, dann werden unterschiedliche diskursive Spielräume und Interessen sichtbar. Manche waren nicht (mehr) auf Einkünfte aus der Partei angewiesen. Georg von Vollmar, Eduard David und Paul Göhre hatten wohlhabende Frauen geheiratet (vgl. Kampffmeyer
1930, S. 72–73, 86–89; Matthias und Miller
1966, S. XV; Brenning
1980, S. 234). Sie gehörten wie Wolfgang Heine, der sein Geld als Rechtsanwalt verdiente, zu dem „gut angezogenen“ Kreis, der sich in Heinrich Brauns Berliner Villa traf (vgl. Stampfer
1957, S. 85–87). Dem vernetzten Österreicher Braun gelang es außerhalb der Partei, Geld für seine Projekte aufzutreiben (vgl. Braun-Vogelstein
1932; Kautsky
1960, S. 521, 533). Dieser materiell unabhängigen Gruppe dürfte es leichter gefallen sein, Parteiführern Willkür und Autoritarismus vorzuwerfen, als einer anderen, die von der Partei bezahlt wurde. Eduard David unterstellte Kautsky „Mundtodtmachungen“, sprach von „fruchtlosen Beschwerdeinstanzen“ und „niedermachen“ (Protokoll
1902, S. 127). Eduard Bernstein und er selbst dienten als Beispiel. Vollmar beschwerte sich über Kautskys „Geist der Einseitigkeit, (…) der Unduldsamkeit“ (Protokoll
1902, S. 139–140). Einige Wortführer der 1891 ausgeschlossenen Berliner „Opposition der Jungen“ markieren die Ausnahme dieser diskursiven Praxis
(power through ideas), etwa Wilhelm Werner, dessen kleines Druckergeschäft „auf Arbeiterkundschaft berechnet(e)“ war und die in Parteibesitz befindliche
Berliner Volks-Tribüne druckte (Wienand
1976, S. 237; vgl. Bezirksleitung
1987, S. 326–327). Werner regte sich auf, dass „Jemand, der eine andere Meinung hat, mit Schlagworten wie Anarchist, Polizeispitzel und unberechtigte Opposition einfach beseitigt wird“. Er zielte damit auch auf die Reichstagsabgeordneten Bebel und Grillenberger (vgl. Protokoll
1890, S. 70, 43–45; Parteivorstand
1891).
Kritiker, die Parteiredakteure waren oder von der Partei abhängige freie Journalisten, waren zurückhaltender und behielten die Abgrenzung zur bürgerlichen Presse bei (vgl. etwa Calwer
1901, S. 706–707; Büttner et al.
1905, S. 98). Überhaupt suchte die Mehrheit der Parteijournalisten in Sachen Meinungsfreiheit nicht die große Parteiöffentlichkeit (vgl. Meißner
2017). Die Resolution gegen die Mitarbeit in der bürgerlichen Presse trug sie mit, so auch Georg Gradnauer (vgl. Protokoll
1903, S. 263–264). Dieser hatte sich aber zuvor dagegen gewehrt, im
Vorwärts per se abweichende Meinungen anzuprangern und ihn „so (zu) redigieren, daß er stets und immer gerade Bebel’s Anschauungen entspricht“ (Protokoll
1901, S. 149). Der
Vorwärts-Redakteur hatte seine Kritik weich verpackt. Es sei ihm „nicht angenehm, gegen einen Führer und Meister wie Bebel auftreten zu müssen“ (Protokoll
1901, S. 133). Friedrich Stampfer (
1903) meldete „Gewissensfragen“ an, als er dem Vorstand in Sachen Mitarbeit in bürgerlichen Zeitungen widersprach. Er hatte gerade seine Anstellung bei der
Leipziger Volkszeitung verloren und musste sich als „Hungerleider“ durchschlagen (Stampfer
1957, S. 72). Auch Eduard Bernstein gehört nach 1900 zu den verhaltenen Kritikern, wohl aus Dankbarkeit, weil Parteigenossen die Aufhebung seines Haftbefehls erwirkt hatten und weil er „ohne Vermögen“ zurückgekehrt mit „literarische(m) Erwerb“ wieder Boden unter den Füßen gewann (Bernstein
1991, S. 224). Als Reichstagsabgeordneter ab 1903 habe er ein „eher zurückgezogenes Parteidasein“ geführt (Morina
2017, S. 435).
Wir haben unter den Parteikritikern zwei Interessen an dem Diskurs um innere Meinungsfreiheit identifiziert, die Folgen des Medialisierungsschubs gewesen sein dürften. Erstens ging es um Sichtbarkeit für abweichende politische Haltungen: Sichtbarkeit, um den politischen Kurs zu ändern und das Politikerprofil zu schärfen. Zweitens war Meinungsfreiheit ein Mittel, um Ansehen, Freiräume und Bezahlung einer gewachsenen Zahl von Parteiredakteuren zu verbessern. Diese konnten die Formierung von journalistischen Berufsinteressen in der Gesellschaft beobachten (vgl. Kutsch
2008).
5.3 Das Problem der öffentlichen Darstellung
Die Bewahrer mussten das Problem umdeuten, um nicht in Widerspruch zu den Grundsätzen der Partei zu geraten. Sie rückten die Außenwirkung der SPD in den Vordergrund.
Vorstandsmitglieder, prominente Parteiredakteure, Programmatiker oder lokale Funktionäre lehnten die Forderungen mit Hinweis auf die
background ideational abilities der Partei ab. Stellvertretend sprach Ignaz Auer aus, was doch für alle Gewissheit sein musste, die in der Partei der Unterdrückten waren: Meinungsfreiheit ist „uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen“ (Protokoll
1891, S. 96). Damit schob der Vorstandssekretär die Kritik der linken Opposition beiseite. Später betonte auch Schatzmeister Wilhelm Pfannkuch, freie Kritik sei das, „was unsere Partei auszeichnet“ (vgl. Protokoll
1895, S. 73). Der Vorsitzende Bebel beschwor Meinungsfreiheit als „unser Lebensprinzip“, als es um Bernstein ging (Protokoll
1899, S. 127).
Dem Parteizentrum machte ein anderes Problem zu schaffen. Die öffentliche Kommunikation über innere Meinungsfreiheit schadete der Partei. Parteipresse und jegliche anderswo geübte öffentliche Kritik lieferten der bürgerlichen Presse Material, um die Sozialdemokratie zu bekämpfen. Der Parteipresse wurde vorgehalten, die offizielle Linie im Umgang mit Abweichlern zu ignorieren. Sie habe etwa zu zeigen, „was die Masse der Parteigenossen über Bernstein denkt“ (Protokoll
1901, S. 157). Der Vorwurf, Kritik nicht intern vorgebracht zu haben, wurde im
Vorwärts-Konflikt laut (vgl. Büttner et al.
1905), in den Debatten um die Parteipresse und Theoriezeitschriften (vgl. Calwer
1901; Protokoll
1901, S. 189–190; Kautsky
1902, S. 807). Noch 1913 verurteilte der Parteiausschuss die
Monatshefte für ihre „hämische Art der Parteikritik, die nur den Gegnern dient, die Partei aber schädigt“ (SPD
1980, S. 58). Der Vorsitzende der Reichstagsfraktion Philipp Scheidemann behauptete im Widerspruch zu den Erfahrungen der Abweichler: „Kein Parteigenosse braucht ein außerhalb der Partei stehendes Organ aufzusuchen, wenn er etwas zu sagen wünscht.“ (SPD
1980, S. 56).
Im Hintergrund operierte das moralische Presseverständnis. Die bürgerliche Presse habe die Debatten um Meinungsfreiheit „natürlich (…) benützt, um der Sozialdemokratie sofort den Wunsch nach Unterdrückung der freien Meinungsäußerung anzudichten“, resümierte etwa der Parteitheoretiker Kautsky (
1902, S. 807) den Parteitag 1902. Mehring war sich mit Kautsky einig, dass die „kapitalistisch-liberale(n) Presse“ am stärksten wirke (Mehring
1909, S. 227; vgl. Kautsky
1893, S. 85). Den Bewahrern war klar, dass die revisionistischen Abweichler von der Sympathie eines
Berliner Tageblatts profitieren konnten (vgl. Protokoll
1901, S. 159). Viele Arbeiterhaushalte bevorzugten das bürgerliche Lokalblatt gegenüber der Parteipresse (Protokoll
1910, S. 216). Die Parteiführung war sich auch der zunehmenden Bedeutung medialer Kommunikation bewusst. Auer verwies auf das Nachrichtenzentrum Berlin, als er die „wenig angebrachte Art“ kritisierte (Protokoll
1891, S. 94), in der die linke Opposition in Berlin gegen „Diktatur und Unduldsamkeit“ in der Partei polemisiert hatte (Parteivorstand
1891, S. 20). Die Berliner „Preßorganisation“ trage „alles sofort bis in den entferntesten Ort“ hinaus (vgl. Protokoll
1891, S. 95). Um der öffentlichen Aufmerksamkeit zu entgehen, versuchte die Parteiführung, zumindest ihre Presseprobleme nicht auf den Parteitagen, sondern auf einer nicht öffentlichen Konferenz zu erörtern (vgl. Protokoll
1896, S. 114).
Die diskursive Praxis der Bewahrer beinhaltete mehrere Strategien. Erstens untermauerten sie das Parteipresseverständnis mit den persönlichen Erfahrungen von Unterdrückung und Verfolgung der älteren Genossen, die ihre Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft begründete (vgl. Protokoll
1897, S. 98). Zweitens stützten sie ihre Position, indem sie die Abweichler delegitimierten. Dabei wurde deren Loyalität infrage gestellt. Sie seien „Schriftsteller (…), die sich zu uns gesellen, ohne die bürgerliche Denkweise völlig zu überwinden“ und ohne die Sympathie für ihre bürgerlichen Berufskollegen aufzugeben (Kautsky
1905, S. 225; vgl. Mehring
1908). Den
Sozialistischen Monatsheften, deren Auflage vor dem Ersten Weltkrieg selbst großzügig geschätzt mit 5000 Exemplaren nur halb so hoch war wie die der
Neuen Zeit (vgl. Drahn
1930, S. 400), unterstellte Kautsky außerdem „kapitalistische Methoden“ (Kautsky
1902, S. 809). Mehring behauptete sogar, die bürgerliche Presse legitimiere mit der Idee der Meinungsfreiheit lediglich kapitalistische Interessen (vgl. Mehring
1908, S. 4). Die
Vorwärts-Redakteure um Eisner sahen sich schließlich dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Verantwortung missbraucht und die Partei verraten zu haben (vgl. Büttner et al.
1905, S. 139). Von der „Moralrichterei“ und „Pharisäerei“ Kautskys nach der Jahrhundertwende hatte selbst Freund Victor Adler genug, der auch Bebel „Unerbittlichkeit“ in Sachen Mitarbeit in der bürgerlichen Presse vorwarf (Adler
1954, S. 427, S. 421).
Das Problem der Außenwirkung mündete in das Gebot der disziplinierten Parteiöffentlichkeit. Mit der Änderung des Organisationsstatuts versuchte die Parteiführung nach Ende des Sozialistengesetzes, die Parteipresse einzuhegen (vgl. Protokoll
1890, S. 154). Die Führung konnte sich dabei auf eine überwältigende Parteimehrheit stützen (vgl. Protokoll
1890, S. 1247–1248). Einfache Mitglieder, wie der Thüringer Delegierte Grunwald, betonten in der Bernstein-Debatte, zur Kritik seien „nur Parteivereine da“, und wollten die Orte des Sprechens einschränken (Protokoll
1901, S. 156). Auch die lokalen Verbände strebten mit der Einrichtung von Pressekommissionen die Kontrolle der Presse durch die Partei an (vgl. Protokoll
1891, S. 230). Neben der breiten Zustimmung der Basis schienen auch die Wahlerfolge den Kurs zu bestätigen. Kontinuierlich warnte die Parteiführung vor privaten Neugründungen wegen des wirtschaftlichen Risikos (vgl. Protokoll
1877, S. 25,
1880, S. 49,
1892, S. 40–41,
1894, S. 68–69,
1897, S. 98–99,
1902, S. 162–163,
1912, S. 208). Dieser Argumentation folgte bislang auch die Literatur (vgl. Danker et al.
2003, S. 15; Koszyk
1980, S. 13–14). Doch aus Medialisierungssicht verbirgt sich darin auch der Wunsch nach Einhegung und Kontrolle in einem sich ausdifferenzierenden Mediensystem. Erstens las „ein großer Teil“ der Wähler „bürgerliche Blätter“ (Protokoll
1913, S. 251), und die Parteipresse drang nicht „in die indifferenten Massen“ (Protokoll
1913, S. 244) vor. Zweitens befürchtete die Parteileitung, dass weitere sozialdemokratische Titel das erwünschte einheitliche Bild der Partei gefährdeten. Scheidemann monierte etwa, „daß manche unserer Blätter fast ausschließlich für die eigenen Parteigenossen schreiben und dabei vergessen, daß das Parteiorgan das wichtigste Werbemittel der Partei sein soll“ (Protokoll
1913, S. 226).
Die Position der Bewahrer lässt sich einerseits durch die materielle Versorgung besoldeter Funktionäre wie Pfannkuch und Auer oder wichtiger Parteiredakteure wie Kautsky und Mehring erklären. Für den finanziell unabhängigen Bebel trifft dieses Argument nicht zu (vgl. Schmidt
2013, S. 166–168). Andererseits dürfte ihre Rolle, etwa im Vorstand, von ihnen verlangt haben, Probleme so darzustellen, dass Geschlossenheit sowie Sichtbarkeit für bestehende Macht- und Mehrheitsverhältnisse mit der Basis gesichert wurden.
Die Bewahrer konnten Diskursforen und -regeln wesentlich bestimmen und die Parteimehrheit mobilisieren. Das stabilisierte den Zwiespalt zwischen Parteipresseverständnis und Meinungsfreiheit.
Die Bewahrer setzten sich in den Auseinandersetzungen durch. Wir machen ihren Erfolg an den Nachwirkungen fest, die der Diskurs für die Abweichler hatte: Parteitagsbeschlüsse, Parteiausschlüsse oder Parteiaustritte, Entlassungen oder Kündigungen und der Verlust des politischen Mandats. Parteiausschlüsse oder Ausschlussverfahren trafen die linken Oppositionellen 1891 wie zuvor Johann Most und Wilhelm Hasselmann (vgl. Wienand
1976, S. 208). Die
Vorwärts-Redakteure kamen ihrer Entlassung durch Kündigung zuvor (vgl. Grau
2001, S. 217). Sowohl der Beschluss zum Verbot der Mitarbeit an bürgerlichen Zeitungen kam mit überwältigender Mehrheit zustande (vgl. Sperlich
1983, S. 112), als auch der, Parteischädigung (verstanden als „grobe Verstöße gegen die Parteidisziplin“, Protokoll
1909, S. 382–383) als Grund für Parteiausschluss zu deklarieren. Die Mehrheit konnte für das moralische Presse- und Öffentlichkeitsverständnis mobilisiert werden. Paul Göhre legte nach der Kontroverse mit Bebel um die Mitarbeit in bürgerlichen Zeitungen sein Reichstagsmandat nieder, das er ein paar Jahre später neu gewann (vgl. Bloch
2008, S. 11–12). Auf dem Parteitag gelobte er, nicht mehr für die
Zukunft zu schreiben und trat aus der Kirche aus (vgl. Protokoll
1903, S. 238). Auch Georg Bernhard leistete dort öffentlich Abbitte. Heinrich Braun verlor nach diesem Parteitag sein Mandat (vgl. Braun-Vogelstein
1932, S. 292). Bebel stand auf der Tribüne und „hypnotisierte“ den Parteitag, erinnerte sich Stampfer (
1957, S. 90). Das häufig beschriebene Charisma des Parteiführers, seine Inszenierungen, aber auch der Personenkult um den „Kaiser der Arbeiter“ haben Abstimmungen sicherlich mit beeinflusst (vgl. Schmidt
2013, S. 229). Während Richard Calwers Parteiaustritt, angeblich Folge „gezielter Angriffe auf seine persönliche Integrität“, offenbar keine größeren Wellen schlug (vgl. Bloch
2008, S. 16, 20), waren das „Stück Macht u. Prestige“, das der Partei mit einem Austritt von Georg von Vollmar und Wolfgang Heine „verloren gehen“ würde, zumindest hinter den Kulissen ein Thema (Adler
1954, S. 422).
Unserer theoretischen Perspektive folgend, kann der Umgang mit den Abweichlern mit der Kontrolle erklärt werden, die die Bewahrer über öffentliche Parteiforen ausübten (
Macht über Ideen). Auch wenn die Herausforderer nach 1890 auf den Parteitagen präsent waren, Heinrich Braun seine Sicht auf die Mitarbeit in bürgerlichen Zeitungen im
Vorwärts veröffentlichen durfte und die
Monatshefte zur publizistischen Heimat prominenter Parlamentarier wurden, so dass Mittmann (
1976, S. 237) diesen sogar einen „halboffiziellen Status“ zugeschrieben hat: Die Bewahrer im Parteizentrum bestimmten den Zugang zu den Foren, in denen die herrschenden Ideen der Partei deklariert wurden. Als Vorstandsmitglieder und lokale Funktionäre in Pressekommissionen oder als mehrheitstreue Parteiredakteure beeinflussten sie, wer in den offiziell anerkannten Parteiblättern im Machtzentrum schreiben durfte, welche Redakteure ausgewechselt werden sollten und was auf die Tagesordnung der Parteitage kommen sollte. Karl Kautsky (
1960, S. 542) zumindest empfand rückblickend, dass er nach dem Ausscheiden von Heinrich Braun aus der Redaktion der
Neuen Zeit „von niemand mehr beschränkt“ wurde.
Die Disziplinierung der Kritiker ist aber nicht ohne die institutionellen Kontexte der Organisation zu verstehen. Die Erfahrung der Ausgrenzung hielt an, obwohl die Partei zunehmend in den Staat hineinwuchs. Politik und Industrie machten Öffentlichkeitsarbeit gegen die Sozialdemokratie, während sich die Strukturen der Nachrichtenorganisation bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs weiter verdichteten (vgl. Wilke
2008, S. 259–260; Kunczik
1997, S. 192). Disziplinierende Elemente wurden dadurch stabilisiert, die Idee der Anzeigenunabhängigkeit war aufgegeben worden (vgl. Löblich und Venema
2018). Auch die einmal geschaffenen Einrichtungen der Parteipresse dürften die Autorität des ihnen zugrundeliegenden Presseverständnisses weiter gestützt haben (vgl. Carstensen und Schmidt
2016, S. 329). Die Entwicklung zur Massenpartei und die Wahlerfolge gaben dem marxistischen Zentrum Rückhalt, das sich aber von der Idee, Revolution zu machen, bis zum Ersten Weltkrieg verabschiedet hatte (vgl. Faulenbach
2012, S. 31).
Auch wenn bis 1914 die Parteigenossen auf eine disziplinierte Parteiöffentlichkeit eingeschworen wurden, blieb der Zwiespalt bestehen, in den die SPD nach dem ersten Medialisierungsschub geraten war. Innere Meinungsfreiheit war weiterhin an Bedingungen gebunden, die Presse der Kontrolle der Funktionäre unterstellt. Die Sekundärliteratur liefert Anhaltspunkte für das Anhalten des Zwiespalts. Ein paar Jahre später waren ehemalige Parteiführer an den Rand gedrängt. Die offizielle Parteilinie hatte sich zu den Reformisten verschoben. Karl Kautsky, Clara Zetkin und ihre Anhänger waren nun eine Minderheit in der Partei. Als Kriegsgegner waren sie keine „Gatekeeper“ mehr und konnten diese Meinung nicht ungehindert äußern (vgl. Koszyk
1958, S. 59; Löblich und Venema
2019). Doch setzte das gewandelte Parteizentrum seine Kritik an der Mitarbeit in bürgerlichen Blättern fort (vgl. Protokoll
1917, S. 32). Die Kritik an fehlender Meinungsfreiheit kehrte zurück. Als das Radio längst eingeführt war, verabschiedete der Parteitag verschärfte Regeln für öffentliche Kommunikation, und journalistische „Eigenbrötelei“ wurde mit Ausschluss bedroht. Wieder blieben der Opposition nur eigene Organe (vgl. Koszyk
1958, S. 192).