2.2 Soziotechnische Systeme
In der Theoriebildung zu soziotechnischen Systemen lassen sich hinsichtlich der Struktur solcher Systeme zwei Diskurskontexte erkennen. Beiden gemeinsam ist die Orientierung an Werten der Demokratie (vgl. Emery und Thorsrud
1982) und der humanzentrierten Technikgestaltung (Mumford
2006). Zunächst zu nennen ist die ‚ursprüngliche‘ auf das
Tavistock Institute of Human Relations zurückgehende Denkrichtung (Trist und Bamforth
1951; Mumford
2006; Cherns
1976). Kernpostulat ist die gemeinsame Gestaltung des technischen und des sozialen Teilsystems – ‚the joint optimization of the social and technical systems‘ (Mumford
2006, S. 321). Dadurch wird eine zweigliedrige Struktur soziotechnischer Systeme unterstellt, mit sozialem und technischem Teilsystem.
Im Unterschied dazu besteht eine andere, eng mit Eberhard Ulich und dem damaligen arbeitspsychologischen Institut der ETH Zürich verbundene Tradition der Auseinandersetzung mit soziotechnischen Systemen (Ulich
2013; Strohm und Ulich
1997). Hier wurden grundlegende Theoreme und Ergebnisse der Tavistock-Tradition aufgenommen, zusätzlich gingen Aspekte der Handlungsregulationstheorie aus der Dresdner Schule der Arbeitspsychologie ein (Hacker und Richter
1990; Hacker
2005). Im Unterschied zur engeren Tavistock-Traditionslinie werden allerdings drei Teilsysteme des soziotechnischen Systems unterschieden: Mensch, Technik und Organisation (MTO) – dies zeigt sich besonders deutlich in der entsprechend benannten MTO-Analyse für die arbeitspsychologische Bewertung von Unternehmen (Strohm und Ulich
1997).
Durch die Unterscheidung von Menschen und Organisationen als zwei Arten von handelnden Akteuren können weitere Aspekte in die Analyse und Gestaltung soziotechnischer Systeme aufgenommen werden, wie etwa das Phänomen des organisationalen Lernens, also das Lernen der Organisation selbst als sozialer Entität (Argyris und Schön
1996; unter dem Aspekt soziotechnischer Systeme auch Hartmann
2005).
2.3 Soziotechnische Systeme und digitale Souveränität
Im iit-Projekt ‚Digitale Souveränität in der Wirtschaft‘ werden Mitarbeiter:innen und Unternehmen als die beiden relevanten Subjektebenen digitaler Souveränität betrachtet (Hartmann
2021a,
2022). Im Kontext dieses Projekts wird Bezug genommen auf soziotechnische Analyse- und Gestaltungsansätze, insofern orientiert an der ‚Zürcher Schule‘, als auch hier die drei Teilsysteme Mensch, Technik und Organisation angenommen werden (Hartmann
2021b). Weiterhin werden handlungs- und kontrolltheoretische Konzepte herangezogen, hier insbesondere die Arbeiten von Rainer Oesterreich (
1981), der Handlungsregulations- und Kontrolltheorien verbindet. Die enge Beziehung zum Konstrukt der digitalen Souveränität besteht darin, dass Konzepte wie Unabhängigkeit, Autonomie und Kontrolle – im Sinne einer Kontrolle der Menschen oder Organisationen über ihre Umweltbedingungen – sehr eng mit der Kernbedeutung digitaler Souveränität verbunden sind (Couture und Toupin
2019)
1. Kontrolle in diesem Sinne ist somit ein Kernaspekt digitaler Souveränität.
Oesterreich (
1981) unterscheidet zwei Aspekte von Kontrolle:
-
Die
Effizienz definiert als Wahrscheinlichkeit, mit bestimmten Handlungen bestimmte Ziele erreichen zu können; es besteht eine Nähe zum Konstrukt der Handlungssicherheit (z. B. Rau
1996).
-
Die
Divergenz im Sinne der Verfügbarkeit mehrere Handlungswege zu mehreren Zielen; hier besteht eine Nähe zu den Handlungsspielräumen und Freiheitsgraden (Hacker
2005; Osterloh
1983).
Er bietet formale Kenngrößen an für Effizienz, Divergenz und ein verbindendes Konstrukt, Effizienz-Divergenz (Oesterreich
1981; vgl. auch Hartmann
2021b). Die Konstrukte Effizienz, Divergenz und Effizienz-Divergenz stehen somit in Beziehungen zu etablierten Konzepten der Arbeits- und Organisationspsychologie wie Handlungsspielräume und Freiheitsgrade (z. B. Hacker
2005) sowie Handlungssicherheit (z. B. Rau
1996; Osterloh
1983), wie oben dargestellt. Ein wesentlicher Vorzug des Ansatzes von Oesterreich (
1981) besteht einerseits darin, diese ansonsten unverbundenen Konzepte in einen konsistenten theoretischen Rahmen integriert zu haben. Andererseits lassen sich, im Kontext praktischer Analyse und Gestaltung soziotechnischer Systeme, prägnante Merkmale technischer Systeme wie Zuverlässigkeit, Robustheit und Resilienz der Effizienz und Merkmale wie flexible Benutzerführung und Adaptierbarkeit der Divergenz
2 zuordnen.
Die Kombination der drei Teilsysteme des soziotechnischen Systems mit den Aspekten der handlungstheoretischen Kontrolle – Effizienz, Divergenz und, als Vorbedingung, Transparenz – führt zu einer 3 × 3-Matrix der Gestaltungsgegenstände digitaler Souveränität, zunächst auf der Ebene des Individuums (Tab.
1; Hartmann
2021b). Diese Tabelle wird im Folgenden zeilenweise besprochen.
Tab. 1
Elemente der soziodigitalen Souveränität auf der Ebene des Individuums (Hartmann
2021b)
Übergeordnet/Voraussetzung | Digitales Grundwissen/Digital Literacy | Transparenz/Erklärbarkeit | Transparenz über Aufgaben und Entscheidungsbefugnis |
Effizienz | Aufgabenbezogenes (digitales) Spezialwissen | Technische Zuverlässigkeit, Robustheit, Resilienz | Aufgabenteilung und -kombination, soziale Unterstützung |
Divergenz | Interdisziplinäres (digitales) Spezialwissen, Kompetenzen als Selbstorganisationsdispositionen | Eingriffsmöglichkeiten in das System auf wählbaren Regulationsebenen | Entscheidungs‑, Tätigkeits‑, Handlungsspielräume |
Entscheidend für das Kontrollerleben sind die vom Menschen wahrnehmbaren und wahrgenommenen Kontrollmöglichkeiten. Eine in diesem Sinne elementare Voraussetzung im Bereich des Teilsystems Mensch ist eine digitale Grundbildung, eine elementare Digital Literacy. Die Transparenz im Bereich des technischen Teilsystems ist aktuell Gegenstand intensiver Diskussion, vor allem im Hinblick auf die Erklärbarkeit von KI-Systemen (Kraus et al.
2021; Pentenrieder et al.
2022). Seitens des Teilsystems Organisation ist eine wesentliche Voraussetzung für das Kontrollerleben eine grundsätzliche Transparenz über die dem Individuum zugewiesenen Aufgaben und über seine Entscheidungsbefugnis.
Für den Aspekt der
Effizienz benötigt der Mensch ein hinreichendes Fachwissen, um sich in digitalen Handlungsfeldern sicher bewegen zu können. Seitens des Teilsystems Organisation wird durch die grundsätzliche Aufgabenteilung und -kombination bestimmt, inwieweit die jeweiligen Arbeitsaufgaben überhaupt von Menschen auf hohem und nachhaltigem Leistungsniveau bearbeitet werden können (vgl. das Konzept der vollständigen Tätigkeiten, Hacker
2005; Hacker und Richter
1990). Für das technische Teilsystem stehen unter dem Aspekt der Effizienz Merkmale wie technische Zuverlässigkeit, Robustheit und Resilienz der technischen Systeme im Vordergrund.
Bezüglich der
Divergenz ist ein wesentliches Merkmal des Menschen das Vorhandensein kognitiver Ressourcen, die nicht nur die Bewältigung immer gleicher Anforderungen erlauben, sondern auch in neuen, ungewohnten, dynamischen Situationen Handlungsfähigkeit ermöglichen. Neben interdisziplinärem Wissen sind dies insbesondere Kompetenzen als Selbstorganisationsdispositionen im von John Erpenbeck definierten Sinn (Erpenbeck et al.
2017). Hinsichtlich des organisationalen Teilsystems sind Freiheitsgrade und Handlungsspielräume Voraussetzungen von Divergenz (Osterloh
1983; Hacker
2005). Für das Teilsystem Technik dient insbesondere das Ecological Interface Design (EID) der Divergenz (Vicente und Rasmussen
1992). Dieser Gestaltungsansatz beruht auf der Vorstellung hierarchisch aufgebauter Handlungskontrolle bzw. -regulation. Dabei wird von hohen, intellektuellen Ebenen der Handlungsregulation bis zu niedrigeren, sensumotorischen unterschieden (Hacker
2005). Der EID-Ansatz läuft darauf hinaus, komplexe Mensch-Maschine-Schnittstellen so zu gestalten, dass die Nutzenden möglichst zu jeder Zeit die Möglichkeit haben, wahlweise auf jeder dieser Handlungsregulationsebenen in das System einzugreifen.
Diese soziotechnischen, an der digitalen Souveränität orientierten Gestaltungsprinzipien sind eine Grundlage der im nächsten Abschnitt dargestellten ko-kreativen Methode zur Gestaltung KI-basierter Arbeitsumgebungen.
Tab.
2 zeigt Elemente der soziodigitalen Souveränität auf der Ebene der Organisation. Die Zeilen der Tabelle entsprechen wie oben im Fall der Individuen den beiden Aspekten der Kontrolle, also Effizienz und Divergenz. In den Spalten finden sich die aus der Wissensbilanzierung bekannten drei Kapitalarten Human‑, Struktur- und Beziehungskapital (Mertins
2005). Der Verwendung dieser Konstrukte im Kontext der digitalen Souveränität liegt die Annahme zugrunde, dass für die digitale Souveränität des Unternehmens die Ausprägungen dieser drei Kapitalarten als zentrale Ressourcen der Souveränität in digitalen Transformationsprozessen wesentlich sind. Ursprünglich (Hartmann
2021b) stellte dies eine reine Hypothese dar. Auf Basis dieser Annahme wird im Zuge des vorliegenden Textes untersucht, inwieweit sich in realen Krisenbewältigungsprozessen in Unternehmen solche Aspekte, insbesondere hinsichtlich des organisationalen Lernens (s. unten), finden lassen (vgl. Abschn. 4).
Tab. 2
Elemente der soziodigitalen Souveränität auf der Ebene der Organisation (Hartmann
2021b)
Effizienz | Tiefe des (digitalen) Fachwissens | Single-Loop-Lernen | Verlässlichkeit der (digitalen) Dienstleistungsbeziehungen |
Divergenz | Vielfalt des (digitalen) Fachwissens | Double-Loop-Lernen | Handlungsspielräume innerhalb der (digitalen) Dienstleistungsbeziehungen |
Human- und Strukturkapital spiegeln die oben für die Individuen in den Kategorien Mensch und Organisation abgebildeten Sachverhalte aus der Perspektive des Unternehmens bzw. der Organisation. Humankapital bezeichnet das für die Organisation verfügbare Wissen der Beschäftigten. Im Hinblick auf die Effizienz ist dabei eher die Tiefe des (digitalen) Fachwissens bedeutsam, für die Divergenz ist es eher die Vielfalt dieses Wissens.
Das Strukturkapital beschreibt Potenziale der internen Strukturen der Organisation unter den Aspekten der Lern- und Innovationspotenziale. Dabei kommen Modelle des organisationalen Lernens zum Tragen (Argyris und Schön
1996)
3. Effizienz wird aufgebaut durch Single-Loop-Lernen, das fortlaufende Verbessern im Unternehmen etablierter Prozesse. Divergenz entsteht durch Double-Loop-Lernen, das Entwickeln neuer organisationaler Prozesse und Strukturen im Unternehmen.
Beziehungskapital schließlich betrifft die Beziehungen des Unternehmens zu externen Akteuren. Im Kontext der digitalen Souveränität sind hier besonders IT-Dienstleister von Interesse, etwa Anbieter von Cloud- und Plattformdiensten, im Hinblick auf die Verlässlichkeit dieser Dienstleistungsbeziehungen (Effizienz) und die Handlungsspielräume innerhalb dieser Dienstleistungsbeziehungen (Divergenz).
Diese Aspekte der soziotechnischen Gestaltung im Hinblick auf digitale Souveränität werden weiter unten (Abschn. 4) herangezogen zur Interpretation der empirischen Ergebnisse aus der Begleitforschung zur Bewältigung der Folgen der Covid-19-Pandemie durch deutsche Unternehmen und Einrichtungen.