13.1 Der Wandel des Innovationsverständnisses in Wissenschaft und Politik
Neue technologische und nichttechnologische Entwicklungen und damit zusammenhängende soziotechnische Innovationen spielen eine wichtige Rolle, um Transformationen hin zu einer klimafreundlicheren Gesellschaft zu erreichen. Gerade in hoch klimarelevanten Bereichen wie Mobilität, Energieerzeugung, -versorgung und -nutzung oder Nahrungsmittelversorgung und Ernährung ist die Verknüpfung neuer technologischer Optionen mit organisatorischen Innovationen und Verhaltensänderungen zentral, um gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der Bewältigung der Klimakrise anzustoßen und zu ermöglichen. Die soziale Dimension von Innovation ist sowohl für deren Gehalt als auch für deren Aufgreifen in der Breite von hoher Relevanz.
Das Potenzial von soziotechnischen Innovationen wird von der Politik zunehmend erkannt, der Begriff der Innovation ist daher meist positiv konnotiert (Godin,
2015). Diese Erkenntnis hat im Laufe der vergangenen rund zehn Jahre zu einem normativen Wandel in der Forschungs- und Innovationspolitik geführt (Daimer et al.,
2012; Biegelbauer & Weber,
2018; Uyarra et al.,
2019), der sich in neuen Begründungsmustern, Governance-Prozessen und Instrumentarien der F&I-Politik manifestiert (Weber & Rohracher,
2012). Dieser Wandel zeigt sich insbesondere darin, dass komplementär zur traditionellen Betonung von wirtschaftlichen Zielen – wie der Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung, für die die strukturelle Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft eine wichtige Rolle spielt – auch zunehmend richtungsgebende, direktionale Zielsetzungen in der F&I-Politik betont werden (Schot & Steinmueller,
2018; Wanzenböck et al.,
2020). Die direktionale Ausrichtung von Forschungs- und Innovationspolitik zielt auf die Bewältigung verschiedener gesellschaftlicher Herausforderungen ab und orientiert sich auch an den UN-Nachhaltigkeitszielen. Sie ist eingebettet in eine programmatische Weiterentwicklung der europäischen Politikziele, die sich in Strategien wie dem European Green Deal (European Commission
2019; European Commission
2021a) oder der industriepolitischen Strategie der digitalen und grünen Twin Transition (European Commission
2020) widerspiegeln.
In Bezug auf Forschungs- und Innovationspolitik wird diese Veränderung vor allem in den Rahmenprogrammen für Forschung und Innovation sichtbar, wo mit dem vergangenen Horizon-2020-Rahmenprogramm explizit direktional ausgerichtete Ziele aufgenommen und nun mit dem neuen Rahmenprogramm Horizon Europe auch in Form neuer Instrumentarien wie den EU-Missionen (European Commission
2021b) konkretisiert wurden. Vier der fünf von der EU-Kommission gemeinsam mit Rat und Parlament beschlossenen Missionen in Horizon Europe besitzen eine hohe Klimarelevanz.
1 Die neuen Instrumentarien in Horizon Europe, wie Missionen und bestimmte Arten Europäischer Partnerschaften (European Commission,
2021c; European Commission,
2021d), sind auch eine Reaktion auf die unbefriedigende Übersetzung der programmatischen Ambitionen von Horizon 2020 in operative Instrumentarien und Arbeitsprogramme (European Commission,
2017).
In Österreich ist es – aufbauend auf einer langjährigen Tradition thematisch ausgerichteter Forschungs-, Technologie- und Innovationsförderprogramme – in den letzten Jahren ebenfalls zu Veränderungen im institutionellen Umfeld für soziotechnische Innovationen gekommen. Im Zuge der seit Mitte der 1990er Jahre in Österreich eingeführten thematischen FTI-Förderprogramme in Bereichen wie Energie, Verkehr/Mobilität oder Bauen wurde das Argument der sogenannten „Doppeldividende“ vertreten, dass darauf abzielt, mithilfe dieser Programme sowohl industrie- als auch umweltpolitische Ziele und Wirkungen zu verfolgen (Meyer et al.,
2009). Das große Augenmerk, das die aktuelle Bundesregierung auf die Klimaziele bis 2030 legt (Bundeskanzleramt,
2020), hat nicht nur die Aufmerksamkeit für direktionale Maßnahmen, die klimafreundliche Innovationen bevorzugt unterstützen sollen, erhöht, sondern vor allem auch für umsetzungsorientierte Maßnahmen, die rasche Wirkungen auf die österreichische Emissionsbilanz bis 2030 erwarten lassen. In dieser Hinsicht spielen insbesondere die Maßnahmen des Klima- und Energiefonds wie beispielsweise die Vorzeigeregionen eine wichtige Rolle (UBA,
2021).
Im internationalen Vergleich zeichnet sich die österreichische öffentliche Forschungsfinanzierungs- und Förderlandschaft durch einen hohen Anteil nicht direktionaler Mittel aus (OECD,
2018; Buchinger et al.,
2017). Dies lässt sich auf drei Faktoren zurückführen:
2 (1) einen hohen Anteil universitärer Grundfinanzierung (OECD,
2018), (2) die hohe und in den letzten Jahren weiter gestiegene Bedeutung ungerichteter steuerlicher Anreize für private Forschungs- und Entwicklungs(F&E)-Investitionen wie der Forschungsprämie (OECD,
2018) und (3) den hohen Anteil themenoffener Förderprogramme, insbesondere im angewandten Bereich (z. B. Basisprogramme der FFG, Kompetenzzentrenprogramm COMET). Mehr als 60 Prozent der F&E-Ausgaben in Österreich werden von privaten in- und ausländischen Unternehmen getätigt (BMBWF, BMK, BMDW,
2021; OECD,
2018). Zu den zentralen Empfehlungen des OECD Innovation Policy Review für Österreich zählt daher, dass eine stärkere Ausrichtung auf Themen (1) mit Bezug zu gesellschaftlichen Herausforderungen, (2) mit Relevanz für Prioritäten des EU-Rahmenprogramms Horizon Europe und (3) mit entsprechenden internationalen Partnern verfolgt werden soll (OECD,
2018).
In den vergangenen 20 Jahren haben sich die F&E-Ausgaben in Österreich dynamisch entwickelt. Die F&E-Quote zählt inzwischen mit 3,23 Prozent (2020) zu den höchsten in Europa (vgl. OECD,
2018; BMBWF, BMK, BMDW,
2021). Das verweist auf eine deutliche Stärkung der Forschungs- und Innovationsfähigkeit Österreichs. Während dies grundsätzliche eine positive Entwicklung ist, stellt sich die Frage, ob sie neben der Stärkung der Forschungs- und Innovationsleistung von Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen auch hinreichend zur Bekämpfung des Klimawandels wirksam wird bzw. ob stärker direktionale (und nicht vorherrschend strukturelle) Innovationsimpulse vonnöten wären, wie dies beispielsweise auch im Rahmen der Innovation Policy Review durch die OECD nahegelegt wurde (OECD,
2018). Wichtig ist im Hinblick auf den hohen Anteil privater F&E-Finanzierung die Signal- und Mobilisierungswirkung öffentlicher Politik auf die Forschungs- und Innovationsaktivitäten von Unternehmen. Diese hängt auch von den strategischen Impulsen der Politik auf nationaler und europäischer Ebene ab – es kommt darauf an, ob die Politik eine glaubhafte Umorientierung auf einen Systemwandel hin zu einer klimafreundlicheren Politik vermittelt oder nicht.
In jüngster Zeit lassen sich erste Schritte hin zu einer stärkeren Betonung direktionaler Maßnahmen feststellen, und zwar auch in dem Sinne, dass strukturell ausgerichtete Politikmaßnahmen mit einer direktionalen Komponente versehen werden. Jüngstes Beispiel dafür ist die Ausgestaltung der COVID-19-Investitionsprämie, bei der Investitionen in den Bereichen Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Lebenswissenschaften mit einer höheren Prämie unterstützt werden (14 Prozent) als andere Investitionen (7 Prozent). Diese kommt auch Investitionen in Forschung und Innovation zugute (Dachs & Weber,
2022). Für andere mögliche direktional wirksame Ansatzpunkte wie die Unterstützung sozialer Innovationen oder die Nutzung der Potenziale geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung lassen sich in Österreich derzeit nur wenige Beispiele finden. Verwiesen sei diesbezüglich auf das Förderprogramm Mobilität der Zukunft, das seit einigen Jahren soziale und organisatorische Innovationen explizit neben technologischen in den Vordergrund rückt (BMK,
2020). Insgesamt spielt die soziale Dimension von Innovation in der österreichischen Förderpolitik aber nach wie vor eine untergeordnete Rolle.
Mit dieser Entwicklung geht die Erkenntnis einher, dass für Systemveränderungen über soziotechnische Innovationen hinaus insbesondere deren „Generalisierung“, das heißt ihre Diffusion, Skalierung, Replikation und Adaption sowie ihre gesellschaftliche und kulturelle Einbettung, von zentraler Bedeutung für ihre klimarelevanten Wirkungen sind. Sowohl in Bezug auf soziotechnische Innovationen als auch in Bezug auf ihre Generalisierung existieren jedoch erhebliche Barrieren und es mangelt an geeigneten Beschleunigungsmechanismen, um historisch gewachsene Pfadabhängigkeiten zu überwinden. Hier sind häufig über Jahrzehnte gewachsene zentralisierte Infrastrukturen [vgl.
Kap. 22 Netzgebundene Infrastrukturen], aber auch regulative Barrieren zu nennen. Als Beispiel sei hier auf neue Formen dezentraler Energieerzeugung verwiesen (z. B. Energiegemeinschaften), die sich erst seit wenigen Jahren durchzusetzen beginnen, nachdem das in diesem Bereich bestehende Systemversagen durch regulative Anpassungen behoben wurde. Zugleich gilt es die Möglichkeiten, die neue technologische Entwicklungen für ein gutes und zugleich klimafreundlicheres Leben bieten, frühzeitig zu erkennen, zu unterstützen und ihre Umsetzbarkeit im Systemkontext zu ermöglichen. Strukturelle und institutionelle Bedingungen spielen hierbei eine zentrale Rolle.
13.2 Notwendige Veränderungen struktureller und institutioneller Bedingungen für soziotechnische Innovationen und ihre Generalisierung
Um die Möglichkeiten für ein gutes klimafreundliches Leben zu schaffen, gilt es nicht nur die strukturellen und institutionellen Bedingungen für die Entstehung und Genese soziotechnischer Innovationen zu überdenken, sondern auch jene, die für deren Generalisierung und gesellschaftliche Einbettung erforderlich sind. Neben diesen beiden Facetten gehen wir im Folgenden auch auf wichtige dynamische Phänomene ein, die bei der Gestaltung dieser Bedingungen beachtet werden müssen.
13.2.1 Genese soziotechnischer Innovationen
Innovationen wurden und werden nach wie vor häufig im Sinne technologischer Innovationen verstanden, die insbesondere durch Impulse aus Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten vorangetrieben werden. Dieses auch als lineares „science and technology-push“ bezeichnete Modell von Innovation wird zwar seit Jahrzehnten als realitätsfern kritisiert,
3 spiegelt sich aber dennoch in den strukturellen und institutionellen Bedingungen sowie den zugehörigen Politikmaßnahmen unseres Forschungs- und Innovationssystems wider. Das traditionelle Verständnis, dass Forschung- und Technologieentwicklung als wichtiger Treiber von Innovation angesehen wird, soll nicht gänzlich verworfen werden – man denke nur an die Auswirkungen der Digitalisierung auf nahezu alle Lebensbereiche –, es wird aber zunehmend anerkannt, dass (1) die Nutzung der Möglichkeiten neuer Technologien erst durch komplementäre soziale, organisatorische und institutionelle Innovationen möglich wird und dementsprechend auch in einem direktionalen Sinne gelenkt werden kann (z. B. vor dem Hintergrund ethischer Prinzipien) und (2) dass die soziale Dimension von Innovationen im Hinblick auf ihre klimafreundlichen Effekte zunehmend in den Vordergrund rückt
4 und neue technologische Möglichkeiten dabei eine eher instrumentelle Rolle einnehmen (van der Have & Rubalcaba,
2016; Wittmayer et al.,
2022). Dementsprechend wird auch die häufig als positiv betrachtete Verknüpfung von (technologischer) Innovation mit Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum zunehmend hinterfragt und zumindest durch das Anstreben gleich- oder höherrangiger direktionaler Ziele wie den Nachhaltigkeitszielen der UN ergänzt (Kastrinos & Weber,
2020; Schlaile et al.,
2017; Tödtling & Trippl,
2018). Offene Reflexionsprozesse können dazu beitragen, den kontinuierlichen Wandel gesellschaftlicher Zielorientierungen unter den Bedingungen von Komplexität, Ungewissheit und Ambivalenz transparent zu begleiten (Funtowicz & Ravetz,
1999; Stirling,
2007).
Ein entsprechender Wandel des Innovationsverständnisses und der politischen Programmatik könnte auch zu Veränderungen der institutionellen Bedingungen und Anreize führen. Für eine Transformation zu einem guten klimafreundlichen Leben müsste man die komplementären sozialen und organisatorischen Innovationsdimensionen institutionell verankern (z. B. durch die Ausrichtung von Fördermaßnahmen auf umfassende und nicht nur technologisch definierte Innovationskonzepte), damit neue, nicht zuletzt auch technologisch inspirierte Innovationen in der Praxis wirksam werden können. Derzeit ist der Stellenwert sozialer und organisatorischer Innovationen in der Forschungs- und Innovationsförderung in Österreich allerdings gering, besonders im Vergleich mit Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern.
5 Darüber hinaus gilt es beispielsweise bei der Innovationsförderung nichttechnologischen Innovationen einen eigenständigen Raum neben den technologischen zuzuweisen bzw. nutzer- und bedarfsseitigen Impulsen („demand-/society-pull“) einen angemessenen Stellenwert als eigenständige Triebkräfte von Innovation zuzuweisen (Franke,
2014). Dazu kann auch zählen, einen ressourcenschonenderen Einsatz von neuen und existierenden Technologien durch entsprechende Verhaltensänderungen und gegebenenfalls auch suffizienzorientierte Konzepte zu ermöglichen.
Parallel zu dieser Verankerung eines erweiterten Innovationsverständnisses sind auch die Bedingungen für einen Ausstieg aus nicht nachhaltigen Praktiken („Exnovation“) zu beachten (David,
2017). So spielt das Eröffnen von Ausstiegsoptionen aus nichtnachhaltigen und klimaschädlichen Praktiken eine wichtige Rolle, um Widerständen gegen alternative, klimafreundlichere Optionen zu überwinden. Diese Debatte hat in Österreich bereits in einigen Bereichen Widerhall gefunden (z. B. beim Phase-out von Ölkesselheizungen, bei der offenen Debatte über den Ausstieg aus der Gasversorgung für den Wiener Altbaubestand und – perspektivisch – bei Plänen zur Umstellung der Stahlerzeugung von Koks und Gas auf Wasserstoff, aber auch im ökologischen Landbau), während in Deutschland häufig auf die breitgefächerten Aushandlungsprozesse im Zusammenhang mit dem Kohleausstieg verwiesen wird.
Vor diesem Hintergrund sind soziotechnische oder Systeminnovationen als Kombinationen von Veränderungen entlang mehrerer der genannten Innovationsdimensionen zu verstehen. Diese können sowohl inkrementeller als auch radikaler Natur sein und im Falle der technologischen Dimension Hightech-Lösungen ebenso umfassen wie Lowtech-Varianten. Die Reichweite und der Beitrag unterschiedlicher Innovationsdimensionen in Bezug auf eine klimafreundliche Gesellschaft lassen sich daher nur in ihrem Zusammenspiel adäquat erfassen. Zwar sind Abschätzungen des Potenzials von technologischen Innovationen insbesondere in stabilen Entwicklungsphasen möglich, ihre gesellschaftliche Wirkung zeigt sich aber erst durch die Verbindung mit veränderten sozialen Praktiken und organisatorischen oder institutionellen Veränderungen.
Deutlich schwieriger ist die Situation bei radikalen oder potenziell disruptiven Entwicklungen, bei denen bereits die Abschätzung technologischer oder wirtschaftlicher Parameter mit großen Unsicherheiten verknüpft ist, z. B. bei der kostengünstigen Bereitstellung von grünem Wasserstoff. Hinzu kommt, dass Innovationen, und zwar unabhängig davon, ob sie technologischer oder sozialer Natur sind, in hohem Maße der Ungewissheit unterliegen (vgl. u. a. Grunwald,
2018). Es bedürfen nicht nur bestimmte Parameter und Varianten einer Innovation der Klärung, sondern sie eröffnen komplett neue, bis dato unbekannte Möglichkeitsräume. Diese Ungewissheit verstärkt sich, wenn im Falle soziotechnischer Innovationen sowohl technologische als auch organisatorische und soziale Veränderungen erprobt werden sollen (bzw. auch ergänzt durch institutionelle Innovationen). Seit den 1990er Jahren wurde insbesondere in den Niederlanden versucht, dieser Problematik durch Verfahren des Constructive Technology Assessment und der Entwicklung sozio-technischer Szenarien zu begegnen (Rip,
2018; Schot & Rip,
1997), letztlich lässt sich das Problem der Ungewissheit dadurch aber nur mildern. In der Praxis wird seit einigen Jahren versucht, durch sogenannte Reallabore bewusst Kontexte zu schaffen, um frühzeitig das Zusammenwirken der verschiedenen Aspekte von Innovation zu testen und dabei systematisch über geeignete Ausgestaltungsmöglichkeiten zu lernen.
6 Reallabore gehen über klassische Test- und Demonstrationsumgebungen hinaus und sollen die notwendigen Übersetzungs- und Aushandlungsprozesse bis hin zur Bereitstellung von Forschungsinfrastruktur ermöglichen. Sie füllen damit eine Lücke im Innovationssystem, um über soziotechnische Innovationen hinauszugehen und transformative Veränderungen anzustoßen. Dies kann beispielsweise im Sinne eines klimaverträglichen Zusammenwirkens von neuen Technologien und Verhaltensänderungen geschehen sowie im Hinblick auf die organisatorischen und regulativen Rahmenbedingungen, die hierfür notwendig wären (An et al.,
2019). Seit Herbst 2020 liegen in Österreich nun auch die rechtlichen Voraussetzungen für „Regulatory Sandboxes“ vor, mit deren Hilfe die regulativen und organisatorischen Rahmenbedingungen erprobt werden können, wie jüngst am Beispiel von Energiegemeinschaften in Österreich (Veseli et al.,
2021).
Hinzu kommt das aus vielen Bereichen bekannte Phänomen der Rebound-Effekte, aufgrund derer die Nachhaltigkeits- oder auch klimabezogenen Potenziale von Innovationen durch Verhaltensänderungen überkompensiert werden (Polimeni et al.,
2009). Es gilt Rahmenbedingungen zu schaffen, die das Auftreten negativer Rebounds reduzieren und sicherstellen, dass sowohl die technologischen als auch die verhaltensseitigen Veränderungen den Anforderungen eines guten klimafreundlichen Lebens entsprechen. Ähnliche Rebound-Effekte können daneben auch im Hinblick auf raumstrukturelle Faktoren auftreten. Diese zeigen sich beispielsweise in Bezug auf das Mobilitätsverhalten (Seebauer et al.,
2018). Ein Beispiel hierfür ist die Beobachtung, dass eine Reduktion des Zeiteinsatzes für das tägliche Pendeln zur Arbeit (z. B. aufgrund von Telearbeit) durch einen zumindest teilweise höheren Zeiteinsatz für Freizeitmobilität kompensiert wird. Auch erhöht sich im Sinne eines Rebound-Effekts die Bereitschaft für längere Pendelzeiten und eine größere Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort, wenn nicht mehr täglich, sondern nur noch an einzelnen Tagen Präsenz im Büro erforderlich ist (Rietveld,
2011). Diese Art von Phänomenen gilt es bei der Entwicklung von neuen innovativen Lösungen zu antizipieren und zu berücksichtigen.
Im Zusammenhang mit soziotechnischen Innovationen bestehen Probleme bei der Ex-ante-Wirkungsabschätzung von Innovationen, deren Eigenschaften und mögliche Verwendung häufig noch gar nicht bekannt sind. Dies mag ein vergleichsweise geringes Problem bei inkrementellen Innovationen sein, aber eine massive Herausforderung in der Frühphase radikaler Neuerungen und bei sehr raschen Entwicklungen wie beispielsweise im Bereich der Digitalisierung. Im Sinne des Collingridge-Dilemmas lassen sich die möglichen Wirkungen von Innovationen und damit ihre Bewertung (ökonomisch, ökologisch, sozial) erst im Zuge ihrer Umsetzung beobachten, was aber zugleich bedeutet, dass sie in ihrer Einbettung häufig bereits so weit fortgeschritten sind, dass ihre Entwicklungsrichtung und Direktionalität nur noch eingeschränkt veränderbar ist (Collingridge,
1980). Die angesprochenen Reallabore können dieses Dilemma nicht vollständig auflösen. Eine engmaschige Begleitung und Wirkungsbewertung im Zuge der Praxisumsetzung von soziotechnischen Innovationen ist daher eine wichtige Ergänzung, gegebenenfalls im Rahmen szenariobasierter Verfahren der Wirkungsabschätzung. Es lässt sich in Österreich zwar ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Assessment-, Monitoring- und Evaluierungspraktiken feststellen, was sich bislang aber noch nicht hinreichend in der Ausgestaltung begleitend-formativer Evaluierungsprozesse von Programmen und Strategien niederschlägt.
13.2.2 Generalisierung soziotechnischer Innovationen und gesellschaftlicher Wandel
Die Generalisierung und Einbettung von Innovationen sind entscheidend dafür, ob sie eine Wirkung im Hinblick auf eine klimafreundliche Gesellschaft entfalten können oder nicht. Generalisierungsprozesse von Innovationen sind zum einen im Sinne einer konzeptionellen Verallgemeinerung zu verstehen (z. B. im Sinne der Ableitung von allgemeinen Prinzipien, Modellen und Praktiken) und zum anderen im Sinne einer breiteren Wirksamkeit durch die Diffusion, Skalierung, Replikation (gegebenenfalls ergänzt durch Adaption) oder Institutionalisierung von neuen Lösungen. Durch die Generalisierung von Innovationen können generell wichtige richtungsgebende Impulse gegeben werden, die auch Signalwirkung für die Ausgestaltung zukünftiger Innovationsprozesse haben. Die gestalterischen Möglichkeiten im Zuge dieser Generalisierungsprozesse bedürften generell größerer Aufmerksamkeit und entsprechender institutioneller Verankerung.
Sengers et al. (
2021) unterscheiden vier verschiedene Generalisierungspfade, um ausgehend von Innovationsexperimenten eine breitere Einbettung der dabei entwickelten neuen Lösungen zu ermöglichen:
-
Replizieren und Verbreiten („Replication & Proliferation“): Durch die Übertragung und Anpassung von neuen experimentellen Lösungsansätzen an andere Standorte kommt es zur Verbreitung dieser neuen Ansätze.
-
Expandieren und Konsolidieren („Expansion & Consolidation“): Durch das Wachsen einer neuen experimentellen Lösung konsolidiert sich ihre Rolle und gegebenenfalls ihr Marktanteil, bis sie unter Umständen eine dominierende Rolle in einem System einnimmt und dieses nachhaltig verändert.
-
Infragestellen und Umdeuten („Challenging & Reframing“): Es werden die vorherrschenden Spielregeln und institutionellen Bedingungen in Frage gestellt, um auf diese Weise transformativ wirkende Veränderungen in den institutionellen und Governance-Arrangements anzustoßen.
-
Zirkulieren und Verankern („Circulation & Anchoring“): Im Gegensatz zum Infragestellen und Umdeuten von außen kommt es hierbei zu einer internen Weiterentwicklung aufgrund der Verbreitung und Verankerung von neuem Wissen.
Für Generalisierungsprozesse sind nachfrageseitige Impulse sehr wichtig (Edler & Georghiou,
2007; Boon & Edler,
2018). So spielen Marktmechanismen, Skaleneffekte (z. B. Kostendegression durch hohe Stückzahlen und gemeinsame Standards) und Netzwerkeffekte (z. B. Synergien bei einer großen Anzahl von Nutzer_innen) eine große Rolle für die Beschleunigung von Generalisierungsprozessen bei Innovationen. Insofern sind auch nachfrageseitige Instrumente wie CO
2-Steuern ein geeignetes Anreizinstrument für das Aufgreifen und die Einbettung klimafreundlicher Innovationen. Die in Österreich im Jahr 2022 eingeführte ökologische Steuerreform weist direktionale Elemente auf und kann durch ihre nachfrageseitigen Effekte eine beschleunigende Wirkung auf die Generalisierung soziotechnischer Innovationen ausüben. Soziale und organisatorische Innovationen sind häufig weniger durch Skaleneffekte und ihre Wirkung auf Preise getrieben, weshalb Marktmechanismen bei derartigen Innovationen in ihrer Generalisierungswirkung beschränkt sind (Howaldt et al.,
2017). Es ist nach wie vor eine offene Forschungsfrage, wie Generalisierungsmechanismen im Falle sozialer Innovationen ausgestaltet werden können. Erste Ansätze dafür werden in einigen wenigen österreichischen Förderprogrammen erprobt, wo beispielsweise durch Aufbau von Communities of Practice oder den Einsatz von Innovationslaboren versucht wird, soziale Innovationen nicht nur anzustoßen, sondern ihnen auch zu einer breiteren Wirksamkeit zu verhelfen. Ein weiterer Ansatzpunkt ist im Ausbau innovationsorientierter Beschaffungsprozesse zu sehen, die neben Regulierung und Standardisierung sowie Informationen und Anreizen für das Konsum- und Investitionsverhalten einen vierten wichtigen Baustein nachfrageseitiger Generalisierungsmechanismen darstellen (Edquist et al.,
2015; Edquist & Zabala-Iturriagagoitia,
2020). In Österreich sind in den vergangenen Jahren die Möglichkeiten für die Unterstützung von innovativen Lösungsansätzen durch den Einsatz öffentlicher Beschaffung verbessert worden. So wurde die innovationsorientierte Beschaffung strukturell und institutionell in der Bundesbeschaffungsbehörde verankert. Bislang wird dieses Instrument allerdings nur in bescheidenem Maße eingesetzt (Buchinger,
2017).
Die jüngere Literatur zu transformativer und missionsorientierter Innovationspolitik betont, dass durch das Zusammenwirken angebotsseitiger (z. B. durch Forschungs- und Innovationsförderung) und nachfrageseitiger (z. B. Beschaffung, Regulierung) Impulse ein Regime- und Systemwandel zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen angestoßen werden kann (OECD,
2021; Wanzenböck et al.,
2020; Diercks et al.,
2019; Kattel & Mazzucato,
2018). Zu den zentralen institutionellen Herausforderungen zählt in diesem Zusammenhang das kohärente und abgestimmte Vorgehen verschiedener Politikbereiche und – in manchen Feldern – Politikebenen. Die effektive Verzahnung der verschiedenen Politikfelder gilt als eine der zentralen institutionellen Voraussetzungen für das Anstoßen von Systemtransformationen. Die jüngeren Debatten über transformative Missionen (vgl. Kuittinen et al.,
2018; Polt et al.,
2021; Wanzenböck et al.,
2020) betonen daher den Bedarf an verbesserter Politikkoordination, und zwar sowohl in horizontaler (zwischen Politikfeldern), vertikaler (zwischen Politikebenen) und in zeitlicher (in Bezug auf das Timing von Interventionen) Hinsicht. Mit den jüngeren Strategien wie Mission Innovation im Energiebereich und der FTI-Strategie Mobilität
7 wurden Schritte gesetzt, um die bisherigen thematischen Förderprogramme in diesen Bereichen stärker im Sinne transformativer Missionen auszurichten und enger mit den Strategien der jeweiligen sektoralen Politiken abzustimmen.
Die von der EU-Kommission angestoßenen Missionen haben ebenfalls dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit für das Problem der Politikkoordination zu erhöhen. Die fünf Missionen in Horizon Europe haben dazu geführt, dass auf nationaler Ebene komplementäre Governance-Strukturen aufgebaut werden, um die EU-Missionen effektiv zu unterstützen und zugleich bestmöglich nutzen zu können. Im Rahmen der österreichischen FTI-Strategie 2030 wurde im September 2021 die Arbeitsgruppe „EU-Missionen“ etabliert, um im Zusammenwirken verschiedener Ministerien, Agenturen und forschungs- und innovationstreibender Organisationen die Aktivitäten in Österreich in Bezug auf die fünf EU-Missionen besser abzustimmen und auszurichten. In einer längerfristigen Perspektive sind für die Generalisierung soziotechnischer Innovationen im Sinne eines guten klimafreundlichen Lebens auch weitere Politikbereiche (über die jeweils relevanten sektoralen Politikbereiche hinaus) für einen Regime- und Systemwandel von Bedeutung (z. B. Bildungspolitik, Handelspolitik, Wettbewerbspolitik). Insbesondere der Bereich der Bildung spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Neben den strukturellen und politischen Maßnahmen zur Förderung von Innovationen und deren Anwendung in der Gesellschaft ist auch die Bildung von zukünftigen Innovatoren (z. B. auf universitärer Ebene) wichtig, um neue Denkmuster zu etablieren und dadurch einen kulturellen Wandel anzustoßen (OECD,
2019).
Der Fokus auf Generalisierungsprozesse zeigt, dass ein breiteres Set von institutionellen Rahmenbedingungen betrachtet werden muss, um soziotechnische Innovationen im Sinne eines Systemwandels effektiv nutzen zu können. Dafür müssen auch das Rollenverständnis des Staates (Borrás & Edler,
2020) und die Legitimationsmuster für staatliche Interventionen in Innovationsprozessen (Weber & Rohracher,
2012) weiterentwickelt werden. Aspekte der Direktionalität und der Klimawirksamkeit sind dabei stärker zu berücksichtigen.
13.2.3 Innovations- und Transformationsdynamik unter den Bedingungen von „wickedness“
Soziotechnische Innovationen und damit zusammenhängende Transformationen sind Prozesse, bei denen Komplexitätsphänomene unterschiedlicher Art auftreten. Die Entstehung von Pfadabhängigkeiten und die Herausbildung von sogenannten dominanten Designs (also von Designs, an denen sich alle Wettbewerber und Innovatoren in einem Markt orientieren müssen, um Erfolg zu haben, vgl. Abernathy & Utterback,
1978) zählen ebenso dazu wie die Ungewissheit, die untrennbar mit Innovationen verbunden ist. Im Falle einer Transformation hin zu einem guten klimafreundlichen Leben verschärfen sich diese Problematiken zu sogenannten „wicked problems“.
8 Zu diesen tragen die Spannungsfelder und Tradeoffs zwischen der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse einerseits und klimafreundlicher Anforderungen anderseits bei.
Die zentrale Herausforderung besteht darin, die Dynamik soziotechnischer Innovationen im Sinne der Schaffung neuer und der Überwindung überkommener Entwicklungspfade zu nutzen, und dies angesichts der vielfältigen Facetten von Ungewissheit, Komplexität und Ambivalenz dieser Pfade.
Besonders anschaulich zeigt sich diese Problematik im Bereich der digitalen Plattformen, die eine rasche Verbreitung neuer sozialer Praktiken auf der Basis vernetzter Infrastrukturen ermöglicht haben,
9 deren Effekte häufig unklar sind, die sich zugleich aber deutlich schneller entwickeln, als staatliche Akteure zeitgerecht und gestaltend eingreifen könnten. Dabei können noch unbekannte, in manchen Fällen auch schlichtweg übersehene oder vernachlässigte Rebound-Effekte beim Einsatz von neuen technologischen Möglichkeiten in ihrem Zusammenwirken mit sozialem Verhalten auftreten.
Im Hinblick auf institutionelle Rahmenbedingungen für ein gutes klimafreundliches Leben bedeutet dies, dass die Fähigkeit zur direktionalen Gestaltung von Transformationspfaden und zur Wirkungsabschätzung soziotechnischer Innovationen sehr eingeschränkt ist und eine sehr engmaschige Begleitung dieser Veränderungsprozesse in Echtzeit notwendig wäre. Die skizzierten institutionellen Veränderungsprozesse stellen sehr hohe Governance-Anforderungen, die zwischen Gestaltungs- und Orientierungsanspruch der Politik einerseits und der Anerkennung der Autonomie und Selbstorganisation der Akteur_innen im Innovationssystem andererseits eine geeignete Balance finden muss. Diesbezüglich stoßen wir an die Grenzen des derzeitigen Wissensstandes, was die Notwendigkeit nach sich zieht, neue Ansätze gesellschaftlicher und politischer Gestaltung struktureller und institutioneller Bedingungen in demokratischen Gesellschaften zu entwickeln.