16.1.1 Finanzialisierung als globales Phänomen seit den 1980er Jahren
Die Finanzialisierung bestimmt seit den 1980er Jahren als wirtschaftliches Phänomen die strukturellen Bedingungen des Wandels weltweit und auch in Österreich: Die Finanzwirtschaft gewinnt gegenüber der Realwirtschaft an Bedeutung (Epstein,
2005; Graeber,
2012; Kindleberger & Aliber,
2005; H. Minsky,
1986; Schulmeister,
2018).
1 Nach der Markteffizienzhypothese (Fama,
1970; Fama & French,
1988,
1996), die vor allem aus Marktperspektive bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 ein prägendes Paradigma war (Ball,
2009; Malkiel,
2003; Maloumian,
2022), sind bereits alle Informationen in den Preisen finanzieller Assets enthalten. Und somit wäre der Finanzmarkt die effizienteste Art und Weise, gesellschaftliche Risiken wie z. B. externe Umweltkosten und klimabezogene Risiken in entsprechenden (Finanzasset-)Preisen abzubilden. Obwohl diese Theorie aufgrund ihrer starken Annahmen von vielen Stimmen kritisiert und die zugehörigen Modelle mit der Zeit teilweise verändert wurden (Malkiel,
2003; Shiller,
2000,
2003), war dieses Paradigma vor allem aus Gesellschaft-Natur- und Bereitstellungsperspektive sehr einflussreich auf die Bildung institutioneller Strukturen am Finanzmarkt (Aglietta,
2018; Epstein,
2005; Schulmeister,
2018). Daher war aus Marktsicht eine verstärkte Finanzialisierung bis zu der (noch andauernden) paradigmatischen Wende nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 ein zu begrüßender Vorgang. Aus Innovationsperspektive werden und wurden ebenfalls große Hoffnungen in innovative Finanzierungsmodelle unter anderem zur Finanzierung der Infrastrukturen für ein klimafreundliches Leben gesetzt – auch von kritischeren Stimmen (Shiller,
2009). Hoffnungsträger für Finanzinnovationen inkludieren Crowdfunding (Maehle et al.,
2020; Vasileiadou et al.,
2016), sowie Krypto-Assets und andere Finanzinnovationen (Alonso & Marqués,
2019; Horsch & Richter,
2017; Venugopal,
2015).
Der der Markteffizienzhypothese zugrunde liegende Paradigmenwechsel in der Wirtschaftswissenschaft zur „rational expectations revolution“ ab den 1970er Jahren (Barro,
1984; Begg,
1982; Hoover,
1992; Lucas,
1976; Mishkin,
2007; Taylor,
2001) war vor allem aus Gesellschaft-Natur- und Bereitstellungsperspektive wichtig, um die Liberalisierung der Finanzmärkte theoretisch zu untermauern und zu begründen (Aglietta,
2018; H. Minsky,
1986; Palley,
2013; Schulmeister,
2018). Der Zerfall des Bretton-Woods-Systems mit seiner auf fixen Wechselkursen beruhenden globalen Finanzarchitektur Anfang der 1970er Jahre leistete der Finanzmarktliberalisierung Vorschub, da sich durch das Aufbrechen fester Wechselkurse neuartige Profit- und Spekulationsmöglichkeiten eröffneten (Aglietta,
2018; Schulmeister,
2018). Gleichzeitig bewirkten niedrige realwirtschaftliche Wachstumsraten, dass Akteur_innen sowohl der Real- als auch der Finanzwirtschaft ihr Profitstreben zunehmend in die Finanzwirtschaft lenkten. Dies erzeugte nicht nur eine Vergrößerung des Volumens gehandelter Finanztitel, sondern auch verstärkte Innovationen auf Finanzmärkten – z. B. immer komplexer werdende Finanzprodukte, wie die Ketten an Kreditverbriefungen im Vorfeld der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. In der Folge trat ein substanzieller Abfluss an Kapital von der Real- in die Finanzwirtschaft ein. Das zusätzliche Geld, das auf die Finanzmärkte strömte, vergrößerte mittels positiver Erwartungseffekte (spekulative Euphorien wie z. B. die Dotcom Bubble) die Profitabilität der Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft. Der Abfluss von Realkapital bewirkte durch (relativ zur Finanzwirtschaft) verringerte realwirtschaftliche Profite in weiterer Folge eine geringere realwirtschaftliche Investitionstätigkeit – und trug somit zum weiteren Sinken realwirtschaftlichen Wachstums bei. Was hier zu beobachten ist, ist ein sich selbst verstärkender negativer Kreislauf. Dieser läuft von verringerter Profitabilität der Realwirtschaft zu dadurch verringerten realwirtschaftlichen Investitionen und vice versa, bei gleichzeitiger Vermehrung von finanziellen Assets (Guttmann,
1996; H. Minsky,
1986; H. P. Minsky,
1982; Schulmeister,
2018).
Ermöglicht wird und wurde dieser Prozess unter anderem durch eine konstante Ausweitung der Schuldenquote („Wachstum durch Schulden“) sowie die vorherrschende Ausblendung unterliegender systemischer Risiken, wie z. B. vor der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 für den Immobilienmarkt und Kreditverbriefungen (Subprime). Nationalstaaten haben dies ab den 1980er Jahren durch eine stark liberalisierte Gesetzgebung für Finanzmärkte befördert (Aglietta,
2018; Guttmann,
1996; Kindleberger & Aliber,
2005; H. Minsky,
1986; H. P. Minsky,
1982; Schulmeister,
2018). Die Einbettung Österreichs in globale Finanzmärkte ist hier zu betonen und dass aufgrund der fluiden internationalen Kapitalströme Österreich hier nicht isoliert betrachtet werden kann (Kindleberger & Aliber,
2005). International agierende Konzerne, die ihre Profite zunehmend auf Finanzmärkten erwirtschaften (Auvray & Rabinovich,
2019), entziehen sich oft einer nationalen Besteuerung und Regulierung (Alstadsæter et al.,
2019; Zucman,
2021). Dadurch beförderte Kapitalakkumulation bestärkt bereits vorhandene Monopolisierungstendenzen des globalen Kapitalismus (Steindl,
1952), entsprechende Machtkonzentration (Kalecki,
1943) und somit Konzentrationstendenzen des internationalen Kapitals zusätzlich.
Diese Konstellation moderner Finanzmärkte ist aus allen Perspektiven problematisch, vor allem jedoch aus Gesellschaft-Natur- und Bereitstellungsperspektive, da große Teile von wirtschaftlicher Bereitstellung von volatilen Finanzmärkten abzuhängen beginnen (Guttmann,
1996; H. P. Minsky,
1982; Schulmeister,
2018). Aus Markperspektive sind Instabilität und Monopolisierung ebenfalls nicht wünschenswert (Shiller,
2000) und aus Innovationsperspektive ist die auch aufgrund von Marktvolatilitäten ungerichtete Natur technologischer Innovation insbesondere in Bezug auf die Klimakrise zu kritisieren (Balint et al.,
2017; Shiller,
2009). Die hier skizzierten Entwicklungen der Finanzialisierung zeigen auf, warum die Finanzierung der für die sozial-ökologische Transformation notwendigen Investitionen nicht unabhängig von den vorherrschenden theoretischen und wissenschaftlichen Paradigmen diskutiert werden kann. Wenn sich das Profitstreben verstärkt auf Finanzmärkte konzentriert, werden virtuelle Werte – steigende Aktienkurse, komplexe Finanzprodukte, Derivate etc., häufig als „fiktives Kapital“ (Guttmann,
1996) zusammengefasst – geschaffen, die sich oft nicht in realen Investitionen und somit auch nicht in einer Veränderung des produktiven Kapitalstocks niederschlagen. Das macht die Finanzierung der Transformation zu einem klimafreundlichen Leben schwieriger und schränkt nationale Spielräume ein. Dies vor allem, da die Einbindung in internationale Finanzmärkte nicht nur Instabilitäten für nationale Märkte bedingt, sondern auch finanzielle Motive der Profitsteigerung – Profitanforderungen an Investitionskapital (hohe Eigenkapitalrenditen, rasche Investitionsrentabilität) – gegenüber gesellschaftlichen Zielen wie der Finanzierung der (Infra-)Strukturen für ein klimafreundliches Leben bevorzugt.
16.1.2 Grüne und nachhaltige Finanzierung: Green-Finance-Paradigma und Taxonomie
Green Finance (grüne Finanzierung) ist ein wichtiger Schritt beim notwendigen Umbau unseres Finanzsystems. Sie soll im Sinne einer Marktperspektive helfen, die Finanzierungsströme so zu lenken, dass sozial akkordierte Investitionen zur Bewältigung der sozial-ökologischen Transformation möglich werden (Sustainable-finance-Beirat,
2021). Anhand des gegenwärtig mehrheitlich anerkannten Paradigmas stellt Green Finance die präferierte Lösung vieler privater und staatlicher Akteur_innen zur Umsetzung der sozial-ökologischen Transformation dar. Insbesondere wird innerhalb dieses Green-Finance-Paradigmas eine systemimmanente und zu großen Teilen markt- und (finanz-)innovationsbasierte Problemlösung zur Finanzierung der Ökologisierung des Wirtschaftssystems angestrebt. Aus Gesellschaft-Natur- und Bereitstellungsperspektive bezeichnen viele Stimmen den Green-Finance-Diskurs und das darunterliegende finanzialisierte Wachstumsparadigma allerdings als vom Finanzmarkt getrieben und mit dem Potenzial ausgestattet, hegemonial – also auf das Erreichen einer Vormachtstellung, hier im Sinne von „auf finanzielle Profite ausgerichtet“ – zu sein. Die Problematik der Hegemonie des Diskurses liegt darin, dass unter Umständen Wirtschaftlichkeitsinteressen (im Sinne von Profitmaximierung) vor die Emissionswirksamkeit von Green-Finance-Maßnahmen gestellt und mit diesem hegemonialen Diskurs gerechtfertigt werden (Hache,
2019a,
2019b; J. Jäger,
2020; J. S. Jäger,
2020; J. Lent,
2017; Reyes,
2020).
Oft wird diese Schwierigkeit, die emissionsreduzierende Wirksamkeit oder allgemein umweltfreundliche Natur von Green-Finance-Produkten eindeutig festzumachen, als „Greenwashing“
2 bezeichnet. Greenwashing wird zumeist durch Marketing-Methoden bewerkstelligt, die einzelne, umweltfreundliche Eigenschaften von Produkten überbetonen, während andere, umweltschädlichere Eigenschaften unterschlagen werden. Im weitesten Ausmaß gedacht wird Greenwashing aus systemischen Gründen – beispielsweise anhand regulatorischer Vereinnahmung (siehe
Abschn. 16.3.2 unten) – betrieben, indem klimabezogene Gesetze und Regulierungen bewusst ausgehöhlt oder abgeschwächt werden (Der GLOBAL 2000 Banken-Check,
2021).
3 Unter anderem werden im Green-Finance-Diskurs aus Marktperspektive oft Substitutionsmöglichkeiten und Carbon Offsetting
4 (Klimakompensation) als zulässige Instrumente angenommen, welche jedoch in der Literatur vor allem aus Gesellschaft-Natur- und Bereitstellungsperspektive kontrovers diskutiert werden (Cavanagh & Benjaminsen,
2014; Hyams & Fawcett,
2013).
Seit dem Jahr 2018 entwickelt die Europäische Kommission (EK) mit dem Aktionsplan „Financing Sustainable Growth“ eine umfassende Strategie für ein nachhaltiges Finanzwesen.
5 Neue Initiativen der EK im Rahmen dieses Aktionsplans inkludieren das „Sustainable Finance Package“
6, welches durch neue „Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR)“, das heißt Offenlegungspflichten für grüne Finanzierung, die Umsetzung der bereits im Juli 2020 in Kraft getretenen „EU Green Finance Taxonomie“
7, garantieren soll. Insgesamt sollen durch diese Maßnahmenpakete veränderte Verhaltensmuster im Finanzsektor bewirkt, Greenwashing verhindert sowie verantwortliche und nachhaltige Investitionen befördert werden. Somit lässt sich feststellen, dass mit der Durchsetzung der EU-Taxonomie und dem Aktionsplan der EK bereits die Regulierung des Green-Finance-Marktes begonnen hat
8 und auch schon Debatten zu Inklusion und Exklusion gewisser „Brückentechnologien“ wie Gas- und Atomkraft ausgelöst hat (siehe dazu
Abschn. 16.4.1.2).
Grüne oder nachhaltige Finanzanlagen sind unter vielen verschiedenen Begriffen bekannt: grünes Geld, ethisches Investment, ethische Geldanlage, Sustainable and Responsible Investment, grüne Anleihen (Green Bonds) etc. (Faktencheck Green Finance,
2019). Gemeinhin als eher weit gefasst gilt der Begriff „nachhaltige Geldanlagen“ („sustainable finance“), der als allgemeine Bezeichnung für nachhaltige, verantwortliche, ethische, soziale, ökologische Investitionen und allen diesen Kriterien entsprechenden Anlageformen gebräuchlich ist. Dabei wird bei nachhaltiger Finanzierung die Nachhaltigkeit oft nicht nur in Bezug auf Klimaveränderung verstanden. Neben unterschiedlichen Umweltthemen sind darin auch soziale (z. B. Menschenrechte) sowie Governance-Aspekte eingeschlossen (beispielsweise „verantwortungsorientierte Unternehmensführung“) – zusammengefasst werden diese drei Kategorien häufig unter der englischen Abkürzung „ESG“ (Environment, Social, Governance). Einen starken Trend gibt es bei sogenannten ESG-Anleihen und grünen Anleihen (Green Bonds). In der Regel ist das Vorteilhafte bei solchen grünen oder ESG-Anleihen: Die finanziellen Mittel werden direkt für Investitionen in ökologische oder sonstige als sozial wertvoll angesehene Projekte verwendet (Faktencheck Green Finance,
2019).
Der Markt für Green Finance in Österreich ist, vor allem im Vergleich zu Deutschland, noch relativ klein (FNG,
2020).
9 Laut neuestem Marktbericht des Forums für nachhaltige Geldanlagen (FNG,
2020) beläuft sich die Marktsumme an nachhaltigen Geldanlagen in Österreich 2019 auf 30,1 Milliarden Euro (Wachstum von 38 Prozent im Vergleich zu 2018), was nur in etwa 1,4 Prozent der gesamten finanziellen Vermögensbestände Österreichs ausmacht (Breitenfellner et al.,
2020). Was die institutionellen Investitionen betrifft, so liegt der Anteil nachhaltiger Fonds am Gesamtmarkt bei 15,9 Prozent. Bei dem weiter gefassten Begriff der „verantwortlichen Investments“ beträgt das Volumen mit 106,8 Milliarden Euro die dreifache Summe der nachhaltigen Geldanlagen (64 Prozent Wachstum im Vergleich zu 2018). Dieser Markt in Österreich wird von dem deutschen Markt in den Schatten gestellt, der mit über 1,6 Billionen Euro sehr hoch dotiert ist (Breitenfellner et al.,
2020). Im Jahr 2018 wurden weltweit grüne Anleihen von mehr als 389 Milliarden US-Dollar emittiert (CBI,
2018). Grüne Anleihen sind in Österreich noch nicht weit verbreitet: 2019 betrug das Marktvolumen ca. 3 Milliarden Euro (Codagnone et al.,
2020). Während der Markt für solche grünen Finanzprodukte in Österreich also noch Entwicklungspotenzial zu haben scheint, unterliegt er einer bedeutenden Wachstumsdynamik.
16.1.3 Geldsystem: Kreditvergabe durch Banken (Basel III), Geldpolitik
Obwohl nach der Krise 2008/2009 zahlreiche Regulierungen gesetzt wurden, die zukünftige Finanzkrisen verhindern sollen, z. B. Basel III, sind durch volatile Finanzmärkte und hohe Schuldenquoten induzierte Risiken noch vorhanden und die Regulierung wird von manchen Stimmen als unzureichend kritisiert (Allen et al.,
2012; Goyfman,
2013; Siskos,
2019). Trotz dieser weiterhin vorhandenen Risiken auf Finanzmärkten wird verstärkt darauf gesetzt, die Kreditvergabe von Banken in Richtung Kredite für grüne Investitionen zu inzentivieren (Akomea-Frimpong et al.,
2021; Nath et al.,
2014). Solche Richtlinien werden anhand von EU-Verordnungen bereits teilweise umgesetzt, wo beispielsweise die Eigenmittelanforderungen für Kredite an Rechtsträger – die Anlagen zur Erbringung von öffentlichen Diensten betreiben und bewertet haben, ob damit zu Umweltzielen beigetragen wird – um 25 Prozent gesenkt werden.
10
Da aus Sicht der Marktperspektive Geld lange Zeit als neutral galt und somit aus dieser Perspektive durch geldpolitische Interventionen in der Regel Inflation (oder Deflation) zu befürchten gewesen wäre, wurde der Diskurs zur Verantwortlichkeit von Zentralbanken und Finanzmarktaufsichtsbehörden für das Verwalten und die Reduktion von klimabezogenen Risiken erst in den Jahren nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 schrittweise intensiviert (Dikau & Volz,
2018,
2021). Aufgrund der zunehmend anerkannten strukturellen Notwendigkeiten regulatorischer und geldpolitischer Interventionen durch Zentralbanken und Finanzmarktaufsichtsbehörden übernehmen diese Institutionen in diesem Bereich zunehmend Verantwortung, siehe dazu
Abschn. 16.2.2 und
16.3.1.3 unten sowie Battiston, Dafermos, et al. (
2021); Bolton et al. (
2020); Breitenfellner et al. (
2019); Dörig et al. (
2020); Monasterolo (
2020); Pointner (
2020); Pointner und Ritzberger-Grünwald (
2019); Rattay et al. (
2020).
16.1.4 Klimarisiken und dadurch induziertes Klima-Finanz-Risiko, Divestment
Klimarisiken gefährden den produktiven und sonstigen Kapitalstock und somit auch die Existenz von Unternehmen verschiedenster Branchen. Unterschieden muss dabei werden zwischen (1) physischen Klimarisiken und (2) Transitionsrisiken (Carney,
2015; NGFS,
2021; Pointner & Ritzberger-Grünwald,
2019). Physische Klimarisiken sind jene, die aus extremen Wetterereignissen (z. B. Sturm, Hitzewellen, Überschwemmungen etc.) oder auch langfristigen klimatischen Verschiebungen (z. B. veränderte Temperaturmuster sowie Niederschlagsmengen und dadurch induzierte Naturkatastrophen etc.) resultieren. Transitionsrisiken folgen aus der möglicherweise schockartigen Anpassung der Gesellschaft, beispielsweise durch gestrandete Vermögenswerte (Stranded Assets) (Battiston, Dafermos, et al.,
2021; Battiston et al.,
2017; Battiston, Monasterolo, et al.,
2021).
Es gib strukturelle Probleme, die die Einpreisung dieser Klimarisiken durch das Finanzsystem erschweren (Carney,
2015; NGFS,
2021). Dies sind unter anderem (1) fundamentale (das heißt nicht abschätzbare oder noch unbekannte) Unsicherheiten bezüglich Auswirkungen des Klimawandels sowie (2) die Nicht-Linearität dieser Effekte, das heißt die Geschwindigkeit und Art der Veränderungen kann unvorhergesehen stark zunehmen oder keinen vorhersehbaren Mustern folgen (Battiston, Dafermos, et al.,
2021; Battiston et al.,
2017; Battiston, Monasterolo, et al.,
2021). Die sogenannte Kohlenstoffblase (Carbon Bubble) beschreibt das Phänomen, dass Unternehmen, die fossile Brennstoffe fördern, verarbeiten, verkaufen und/oder transportieren, am Finanzmarkt überbewertet seien. Dies geschieht, wenn der Finanzmarkt physische und finanzielle Klimarisiken nicht korrekt einpreist (Bolton et al.,
2020; Campiglio et al.,
2018; Faktencheck Green Finance,
2019). So dürfen z. B. von der Öl-, Gas und Kohleindustrie nur mehr ein Bruchteil bestehender Kohle-, Erdöl- und Erdgasreserven verwendet werden, um das 1,5-Grad-Ziel bis 2050 zu erreichen.
11 Die Summe dieser klimabezogenen Risiken, die vom Geld- und Finanzsystem nur sehr schwer gefasst werden können und daher Finanzmarktstabilität potenziell gefährden, wird als das „Klima-Finanz-Risiko“ bezeichnet.
Wenn die gesamten vorhandenen Reserven in den Vermögenswerten der Firmen integriert sind, könnten Stranded Assets im Wert von knapp 2 Billionen Euro entstehen, wenn diese Reserven nicht verwendet werden. Ähnliche Effekte könnten durch eine abrupte und einschneidende Einführung einer CO
2-Steuer entstehen (Battiston, Dafermos, et al.,
2021; Battiston et al.,
2017; Campiglio et al.,
2018). Demzufolge bemessen gemäß einem Bericht von Carbon Disclosure Project (CDP,
2019) bereits 215 der 500 weltgrößten Konzerne ihre aus extremem Wetter, höheren Temperaturen und Treibhausgasemissionen entstehenden Geschäftsrisiken auf etwa 880 Milliarden Euro. Ungefähr 220 Milliarden Euro davon betreffen Wertminderungen oder Abschreibungen, die sowohl auf Transitions- als auch auf physische Klimarisiken zurückgehen (Klima- und Energiefonds,
2019, S. 13). In ihrer weltweiten Panel-Regression auf Firmenebene ermitteln Bolton & Kacperczyk (
2021), dass es ein „Kohlenstoff-Premium“ (Carbon Premium) gibt – das heißt höhere Renditen für Firmen mit höheren Emissionen. Sie finden dieses Carbon Premium in allen Ländern weltweit, zwar sowohl direkt durch die Firmen selbst als auch indirekt entlang der Lieferketten. Die Autor_innen interpretieren das bereits als eine Einpreisung des Finanzmarktes für Klimarisiken, die allerdings ihrer Ansicht nach volatilen Dynamiken unterliegt.
In ihrer Studie berechnen Günsberg et al. (
2017) für Österreich die Carbon Exposure, das heißt direkt mit Finanzrisiko aufgrund der Kohlenstoffblase belastete Finanzmittel. Rund drei Viertel aller in der Studie untersuchten Fonds verfügen über Veranlagungen im Fossilbereich. Diese sind im Durchschnitt mit 5,9 Prozent ihres Vermögens direkt in Unternehmen des Kohle-, Öl- und Gassektors investiert und mit weiteren 1,9 Prozent in abhängige Zulieferbetriebe und Energieerzeuger. In einem Update ihrer Studie (Colard et al.,
2018) ergibt sich für die Top 100 der Kapitalanlagegesellschaften in Österreich ein Carbon Exposure von 2 Milliarden Euro bzw. 7,1 Prozent des Gesamtvolumens dieser Fonds. In ihrer Studie zu den Auswirkungen des Pariser Klimaabkommens auf den österreichischen Finanzmarkt weisen Rattay et al. (
2020) unter Bezugnahme auf die Studie von Arabella Advisors (
2018)
12 unter anderem darauf hin, dass sich zu diesem Zeitpunkt bereits Fonds mit Mitteln von mehr als 6,2 Billionen US-Dollar dazu verpflichtet hatten, sich aus Investitionen in fossile Energieträger zurückzuziehen. Die Versicherungswirtschaft hat sich zu einem Divestment von Carbon Assets (Veräußerung kohlenstoffintensiver Wertpapiere) über mehr als drei Billionen verpflichtet.
13 Empirischen Studien für Österreich (Dörig et al.,
2020) und den Weltmarkt (Hansen & Pollin,
2020) relativieren die Einpreisung von Klimarisiken in Österreich und der Welt stark; betonen jedoch die diskursiven Effekte der Divestment-Bewegung (Hansen & Pollin,
2020).
Die obige Diskussion der Literatur zeigt vor allem zweierlei, was für alle Perspektiven gleichermaßen relevant ist: (1) Systemische Risiken, die aus physischen und Transitionsrisiken entstehen, werden auf Finanzmärkten nicht ausreichend berücksichtigt. (2) Die Kohlenstoffblase existiert weiterhin, da die Klimarisiken weiterhin kaum eingepreist sind. Durch die Nicht-Linearität von Netzwerkeffekten können – bedingt durch Klimakatastrophen und langfristige klimatische Veränderungen – Kaskaden an Firmenbankrotten entstehen (Battiston, Dafermos, et al.,
2021; Battiston et al.,
2017). Es ist die „Tragödie des Zeithorizonts“ (Carney,
2015), dass die Klimakrise in unserem Zeitverständnis so „weit weg“ ist und die Zusammenhänge so komplex sind, dass das Finanzsystem nicht in der Lage ist, mit diesem Risiko adäquat umzugehen. Zu den Bündeln an vorgeschlagenen Maßnahmen, um dem entgegenzuwirken, zählen geldpolitische, fiskalische und regulatorische mikro- wie makroprudenzielle Interventionen, siehe BIS (
2021); NGSF (
2021); TCFD (
2021); UNEP (
2021). Geldpolitische Interventionen wären beispielsweise entsprechende Eigenveranlagung, also eine grüne Investitionsstrategie der Notenbanken selbst. Eine regulatorische Intervention wäre beispielsweise die Ausgestaltung der Eigenkapitalquoten der Banken anhand klimafreundlicher Kriterien wie etwa niedrigere Eigenkapitalanforderungen bei Krediten für grüne Investitionen und entsprechende Garantien der Notenbank (BIS,
2021; NGSF,
2021; TCFD,
2021; UNEP,
2021). Fiskalische Interventionen sind in
Abschn. 16.3.1.2 zur leitenden Rolle des Staates erläutert.