Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Keine Zukunft? Alter und Altern in der ‚alternden Gesellschaft‘

verfasst von : Frieder R. Lang, Stephan Lessenich, Klaus Rothermund

Erschienen in: Altern als Zukunft – eine Studie der VolkswagenStiftung

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …

Zusammenfassung

Keine andere Altersgruppe ist in unserer Gesellschaft in ähnlichem Maße Gegenstand von homogenisierenden und stereotypisierenden Zuschreibungen wie ‚die Alten‘. Dabei ist das höhere Alter nicht weniger ‚bunt‘ als jede andere Lebensphase. Hinter der gleichmacherischen Rede von ‚den‘ älteren Menschen verbirgt sich eine soziale Welt ungeahnter Diversität. Diese Vielfalt des Alters und Alterns, des Älterwerdens und des Alterserlebens sichtbar zu machen, war ein zentrales Anliegen der Studie Altern als Zukunft. Von Altersbildern über die Vorsorge bis zum Zeithandeln finden sich durchgängig Hinweise, dass Alter und Altern keine globalen oder einheitlichen Phänomene sind, sondern immer nur mit Bezug zu bestimmten Lebenskontexten analysiert und verstanden werden können.

1.1 Das Alter in der ‚alternden Gesellschaft‘

Deutschland altert: Dieser Einsicht kann sich hierzulande mittlerweile niemand mehr entziehen. Jahrzehntelang war die Bundesrepublik, diskursiv wie operativ, von einer bemerkenswerten bevölkerungspolitischen Abstinenz geprägt. Das von Bundeskanzler Adenauer überlieferte Bonmot „Kinder kriegen die Leute immer“ ist nicht nur Ausdruck einer verbreiteten, dem Wirtschaftswunder geschuldeten Zuversicht, sondern auch implizite Abgrenzung der westdeutschen Nachkriegsdemokratie vom rassistischen Pronatalismus der Nazizeit. Doch spätestens seit der Jahrtausendwende ist der sich ankündigende demografische Wandel zu einem der gesellschaftspolitischen Megathemen avanciert. Frank Schirrmachers Methusalem-Komplott (2004) oder Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab (2010) waren publizistisch äußerst erfolgreiche Debattenbeiträge, die – je auf ihre Weise – von der rapide zunehmenden Aufmerksamkeit für Demografie und Demografiepolitik kündeten.
Seither blickt die deutsche Öffentlichkeit besorgt auf die niedrigen eigenen und neidvoll auf die deutlich höheren Geburtenraten von europäischen Nachbarn wie Frankreich oder Schweden. Zuletzt steigende jährliche Geburtenzahlen wurden erleichtert zur Kenntnis genommen und sofort als „kleiner Babyboom“ (Süddeutsche Zeitung, 2016) gefeiert. Die regelmäßigen statistischen Wasserstandsmeldungen zum wachsenden Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung hingegen sind ebenso regelmäßig Anlass für eine bisweilen lustvoll anmutende Beschwörung des scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden demografischen Niedergangs. Deutschland altert – mal „rapide“ (Die Welt, 2014), mal „rasant“ (Stern, 2012). Oder schlimmer noch: „Frankreich altert, Deutschland vergreist“, vermeldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung schon 2010, verbunden mit der Schreckensvision, dass es wohl bereits im Jahr 2050 mehr Franzosen geben werde als Deutsche. Kein Zweifel also: Die Lage ist ernst.
Folgt man der jüngsten, 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Bundes und der Länder aus dem Jahr 2018 in jener mittleren Variante, die für gewöhnlich amtlich verbreitet wird1, dann wird die Zahl der unter 18-Jährigen von 2018 knapp 14,4 Mio. auf etwa 13,4 Mio. im Jahr 2060 sinken, die der über 67-Jährigen hingegen im selben Zeitraum von 15,9 Mio. auf über 21 Mio. Personen ansteigen. Anteilig wird sich damit das derzeit noch bestehende zahlenmäßige Gleichgewicht zwischen jüngeren und älteren Menschen, die jeweils ein knappes Fünftel der Gesamtbevölkerung stellen, stark zugunsten der Älteren verschieben: Nach der genannten Berechnungsvariante werden 2060 zwar immer noch 18 % der in Deutschland lebenden Menschen der Altersgruppe unter 20 Jahren angehören, jedoch wird mehr als jeder vierte von ihnen (27 %) älter als 67 Jahre sein, fast jeder Siebte der Wohnbevölkerung (13 %) sogar bereits das neunte Lebensjahrzehnt erreicht haben (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 17–28).
Es lässt sich mithin nicht leugnen: Deutschland altert. Aber was soll das eigentlich bedeuten? Kann eine Gesellschaft überhaupt als Ganzes altern? Wie hat man sich eine alternde Gesellschaft vorzustellen? Als eine Kollektivperson, die langsam Falten kriegt und Altersspeck ansetzt? Als einen Sozialkörper, der zunächst anfängt, betulicher zu werden, um bald schon bei jeder Bewegung zu ächzen und zu stöhnen? Als einen ideellen Gesamtsenioren, der sich auf seine alten Tage vielleicht – wenn alles gut geht – tiefenentspannt, mild und weise gibt, womöglich aber auch – so sind sie halt, die Alten – verbittert, störrisch und eigensinnig wird?
Das eingängige und vermutlich auch deshalb medial wie sozial so verbreitete Bild von der alternden Gesellschaft suggeriert, dass die Altersstruktur einer Gesellschaft auch deren Charakter prägt; und dass ein Wandel im Altersaufbau zwangsläufig das Wesen des Sozialen verändert. Das Bild gibt zu verstehen, dass es Quantitäten sind, nämlich der relative Anteil jüngerer und älterer Menschen an der Bevölkerung, die über die Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens Auskunft zu geben vermögen. Und es unterstellt, dass die Gesellschaft selbst, in Abhängigkeit von eventuellen Gewichtsverschiebungen zwischen ‚Jung‘ und ‚Alt‘, zu einer Sozialordnung mutiert, die sich entweder durch für gewöhnlich der Jugend zugeschriebene Eigenschaften auszeichnet: Lebendigkeit, Innovationsfreude und Zukunftsorientierung. Oder aber umgekehrt in Attitüden verfällt, die ihres Zeichens Attribute des Alters sind: Langsamkeit, Besitzstandswahrung und Rückwärtsgewandtheit.
Die deutsche Altenpolitik hat, solch landläufigen Vorstellungen entsprechend, einstweilen eine strategische Ausrichtung angenommen, die für eine Gesellschaft, in der die demografische Alterung „schon lange kein Zukunftsthema mehr, sondern […] bereits weit vorangeschritten“ (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 11) ist, einigermaßen paradox anmutet. Denn während gerade die ältesten Altersgruppen in den nächsten Jahrzehnten am stärksten anwachsen werden2, haben altenpolitische Diskurse und Programme vornehmlich die Chancen und Potenziale der „jungen Alten“ im Blick (Denninger et al., 2014). Heute 70-Jährige, so lautet die an gerontologische Befunde anschließende und mittlerweile auch im Alltagswissen der Menschen fest verankerte Argumentation für gewöhnlich, entsprächen nicht nur vom äußeren Erscheinungsbild, sondern auch von ihrer körperlichen Konstitution und ihren geistigen Fähigkeiten her den 60-Jährigen ihrer Elterngeneration – und so analog für alle Altersgruppen: 80-Jährige seien heute so wie früher 70-Jährige, 90 sei das neue 80, und Medienberichte über bemerkenswert rüstige 100-Jährige sind mittlerweile beinahe an der Tagesordnung.
So berechtigt der Verweis auf die „Verjüngung“ des Alters (Tews, 1990) im Kern auch ist: Er führt nicht an der Tatsache vorbei, dass mit der auch zukünftig weiter steigenden Lebenserwartung der Anteil der wirklich alten Menschen an der Gesamtbevölkerung deutlich zunehmen wird. So sehr sich das „dritte Lebensalter“ (Laslett, 1995), also die Lebensphase des gesunden, selbstständigen und aktiven Alters, in Zukunft auch biographisch ausweiten wird, und so sehr dieses „junge Alter“ schon heute die gesellschaftliche Wahrnehmung des Alters beherrscht: Die gesellschaftliche Realität wird zunehmend auch von Hoch- und Höchstaltrigkeit gekennzeichnet sein, und die Lebensrealität älterer Menschen nicht etwa weniger als bislang, sondern mehr noch als heute von Pflegebedürftigkeit. Chronologisch wird sich diese Lebensphase weiter nach „hinten“ verschieben, in das sehr hohe, „vierte Lebensalter“ (Higgs & Gilleard, 2015) hinein. Dies beinhaltet aber die Gefahr, dass auch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für diese Lebensphase noch mehr in den Hintergrund rücken wird, als das gegenwärtig ohnehin schon der Fall ist.
Ende 2019 waren in Deutschland rund 4,1 Mio. Menschen pflegebedürftig. Auch unter der Annahme einer dauerhaft konstanten altersspezifischen Pflegebedürftigkeit, also allein aufgrund der zunehmenden Langlebigkeit der Älteren, wird sich diese Zahl nach vorsichtigen Modellrechnungen auf 5,1 Mio. im Jahr 2030 erhöhen, wobei auch der Anteil der Höchstaltrigen unter den Pflegebedürftigen zunehmen wird3. Wie man es also auch dreht und wendet: Die ‚alternde Gesellschaft‘ der Zukunft wird eine Gesellschaft nicht nur der ‚jungen‘, sondern auch und gerade eine der ‚alten Alten‘ sein. Damit wird das lange Zeit verdrängte und als unansehnliches Gegenstück eines gesunden Alters bekämpfte Phänomen der Gebrechlichkeit in die Gesellschaft zurückkehren.
Älteren Menschen wird in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, jenseits von Positivstereotypen der Erfahrung und der Weisheit, nur selten eine ernstgemeinte Wertschätzung zuteil – und sei es nur in Form ihrer Anerkennung als Individuen. Keine andere Altersgruppe ist in der modernen Gesellschaft in ähnlichem Maße Gegenstand von homogenisierenden Zuschreibungen. Seien es nun Äußerlichkeiten und körperliche Merkmale – weiße Haare und beige Kleidung, faltige Haut und gebückter Gang – oder aber vermeintliche Charaktereigenschaften und Einstellungsmuster wie Antriebslosigkeit und Starrsinn, Konservatismus und Verbitterung: Für keine andere Lebensphase gelten auch nur annähernd gleichermaßen starke Klassifizierungen und Vorbeurteilungen, nur im Alter sind uns alle Katzen – was auch sonst – grau. Und da sich der Sozialkontakt erwachsener Menschen mit Älteren (anders als mit Kindern und Jugendlichen) in aller Regel auf die älteren Mitglieder der eigenen Familie beschränkt, können sich entsprechende Urteile bzw. Vorurteile auch ungeprüft durchsetzen und, von Sozialvergleichen ungetrübt, verfestigen.
Niemand käme je auf die Idee, etwa alle Menschen aus einer bestimmten, nach Altersgruppen abgegrenzten Lebensphase des Erwachsenenalters – sagen wir alle 25- bis 50-Jährigen – über einen Kamm zu scheren und ihnen als imaginierter Großgruppe einheitliche Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Interessen zuzuschreiben. In Bezug auf Kinder lässt sich hingegen schon eher ein Impuls zur Vereinheitlichung und Entpersonalisierung ihrer sozialen Wahrnehmung feststellen: Kinder gelten dann, je nach historischer Zeit und gesellschaftlicher Konstellation, allgemein als Last oder als Segen, sind zu Gehorsam anzuhalten oder zur Eigenständigkeit zu führen, machen Arbeit oder bereiten Glücksgefühle. Immerhin werden diese pauschalisierenden Charakterisierungen des Kindesalters aber in der Alltagspraxis durch die teils christlich-religiös motivierte, teils aus elterlich-liebevoller Verblendung resultierende Ansicht durchkreuzt, dass doch jedes Kind einzigartig sei – und das jeweils eigene natürlich besonders einzigartig.
Ganz anders bei ‚den Alten‘: Man kennt sie ja, man weiß, wie sie sind – und was sie wollen. Nicht umsonst ist im Zeichen des demografischen Wandels immer wieder von der zukünftigen „Altenrepublik Deutschland“ (so etwa BILD, 2006; Frankfurter Rundschau, 2009; DIE ZEIT, 2013) die öffentliche Rede – bis hin zu des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzogs Dystopie von der „Rentnerdemokratie“, in der „die Älteren die Jüngeren ausplündern“ (Die Welt, 2008; Süddeutsche Zeitung, 2010; Focus, 2013). Denn angeblich haben ‚die Alten‘ ja nur ein Interesse: ihre üppigen Renten zu sichern. Erstaunlicherweise bricht sich die gesellschaftliche Tendenz zur Homogenisierung des Alters allerdings nicht nur in politischen und medialen Diskursen Bahn. Auch im wissenschaftlichen Feld finden sich immer wieder entsprechende Vereinheitlichungen, ist die eigentlich vorwissenschaftliche Rede von ‚den‘ Alten verbreitet. Selbst die Altenberichte der Bundesregierung, in deren Auftrag regelmäßig von einer Kommission hochrangiger Expertinnen und Experten4 erstellt, können bisweilen der Entdifferenzierung nicht widerstehen.
Zwar wurde etwa im sechsten Altenbericht, der sich den „Altersbildern in der Gesellschaft“ widmete, festgestellt, dass die sozial dominierenden – durchweg negativen – Bilder vom Alter dessen Vielfalt, „die in Zukunft eher weiter zunehmen wird“ (BMFSFJ, 2010, S. 23), nicht gerecht würden. Doch indem der Bericht, quasi im Gegenzug und in altersfreundlicher Absicht, konsequent einem positiven Bild des Alters Vorschub zu leisten sucht, wird er der von ihm selbst zu Recht betonten Vielfalt desselben letztlich ebenso wenig gerecht. Der in diesem Sinne typische Bezug selbst von Expertinnen und Experten auf statistische Durchschnittswerte zieht sich durch die gesamte jüngere Debatte um den demografischen Wandel und die vermeintliche ‚Überalterung der Gesellschaft‘. Er findet sich so oder so ähnlich praktisch alltäglich in der Medienberichterstattung zum Thema: „Die heute in Deutschland lebenden älteren Menschen verfügen im Durchschnitt über mehr finanzielle Ressourcen als jede vorangehende Generation älterer Menschen, sie haben im Durchschnitt einen besseren Gesundheitszustand und einen höheren Bildungsstand, und nicht zuletzt steht ihnen im Durchschnitt mehr Zeit für ein Engagement für andere zur Verfügung als den älteren Menschen früherer Generationen.“ (BMFSFJ, 2010, S. 22).
Was aber bedeutet die Betonung der Tatsache, dass der durchschnittliche ältere Mensch gesünder und gebildeter, mit mehr finanziellen Ressourcen und auch einem größeren Zeitreichtum ausgestattet ist als die durchschnittlichen Älteren früherer Generationen? In der Debatte um die ‚jungen Alten‘ bzw. eine Aktivierung des Alters werden entsprechende statistische Verweise stets mit dem Hinweis verbunden, dass von ‚den‘ Älteren demgemäß auch mehr gesellschaftliches Engagement zu erwarten sei, wenn nicht gar politisch eingefordert werden könne: „Die heute im Durchschnitt gute Ausstattung der Älteren mit materiellen und immateriellen Ressourcen sollte durchaus der Gesellschaft insgesamt zugutekommen.“ (BMFSFJ, 2010, S. 468).
Eine derartige Mittelwertrhetorik – ebenso wie eine daran anschließende ‚Politik mit dem Durchschnitt‘ – wird der Heterogenität des Alters, der Unterschiedlichkeit der Soziallagen im Alter und der Vielfalt der Übergänge ins Alter allerdings in keiner Weise gerecht. ‚Das‘ Alter ist nicht weniger ‚bunt‘ als jede andere Lebensphase. Hinter der gleichmacherischen Rede vom Alter und den ‚durchschnittlichen‘ Älteren verbirgt sich eine soziale Welt ungeahnter Diversität. Diese Vielfalt des Alters und Alterns, des Älterwerdens und des Alterserlebens sichtbar zu machen, war ein zentrales Anliegen der Studie Altern als Zukunft. Eine Vielfalt, die uns maßgeblich auch durch die Kombination unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektiven in den Blick geriet.
Das Alter ist eine Lebensphase, die – jedenfalls in den reichen Nationen der Welt wie Deutschland – von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung erreicht und durchlaufen wird. Das Altern wiederum ist ein von jedem Menschen auf ganz persönliche Weise erfahrener und je individuell zu gestaltender Prozess. Wann und wie der Rentenübergang stattfindet, welche Pläne für die Zeit nach der Erwerbsarbeit geschmiedet werden und wie der Alltag im Ruhestand geregelt wird, welche Vorstellungen von einem gelingenden Leben im Alter gehegt werden und wie alt man überhaupt werden möchte: In all diesen Hinsichten machen sich alternde bzw. ältere Menschen ihre je eigenen Gedanken, treffen ihre persönlichen Entscheidungen und Vorkehrungen, organisieren ihre private Lebensführung. Einerseits.
Andererseits sind die genannten – und viele andere – altersbezogenen Vorstellungen und Entscheidungen, Pläne und Präferenzen keineswegs nur individuell, niemals bloße Privatsache. Sie sind immer auch gesellschaftlich gerahmt und sozial eingebettet, von staatlichen Institutionen gesteuert und von allgemein geteilten Normen bestimmt. So unterliegt der Übergang in den Ruhestand den Regularien des Arbeitsrechts und der Rentenversicherung und verläuft häufig nur bedingt selbstbestimmt, sondern im Kontext betrieblicher Personalstrategien. Die Möglichkeiten und Optionsräume alltäglicher Lebensführung im Alter werden maßgeblich nicht nur durch die verfügbaren materiellen Ressourcen bestimmt, sondern auch durch die Struktur sozialer Netzwerke und das Angebot öffentlicher Infrastrukturen. Und unsere Bilder eines erfolgreichen Alterns ebenso wie unsere Wünsche bezüglich der idealen Lebensdauer (Lang et al., 2007) sind alles andere als allein unsere ‚eigenen‘: Sie sind immer auch geprägt durch gesellschaftlich herrschende Wertvorstellungen, durch die institutionell bereitgestellten Gesundheitsdienstleistungen – und nicht zuletzt durch unsere jeweilige Position in der Struktur sozialer Ungleichheit.
Alter und Altern sind zum einen eine Funktion eigener Entscheidungen, individueller Verhaltensmuster und persönlicher Anpassungsprozesse. Zum anderen aber sind sie auch soziale Phänomene und gesellschaftliche Kategorien. Als ein solches Doppelphänomen sind sie daher erst in der systematischen Verschränkung von sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen, von soziologischer und psychologischer Forschung zu verstehen. Genau diese Verknüpfung leistet das vorliegende Buch.

1.2 Von der Vielfalt des Alterserlebens

Für den Einzelnen birgt die alternde Gesellschaft neue und vielfältige Herausforderungen in der Planung und bei der Bewältigung einer manchmal bedrohlich, manchmal idealisierend gezeichneten Zukunft des Alters. Dabei entstehen auch zahlreiche Unsicherheiten bezüglich des eigenen, in der Zukunft liegenden Alters. Dazu tragen die oft zwiespältigen Darstellungen in der Öffentlichkeit bei, in denen hoffnungsvolle und bedrohliche Szenarien des Alterns nebeneinander oder gelegentlich auch im schnellen Wechsel behandelt werden.
Auf der einen Seite beschäftigen sich demografische Katastrophenszenarien mit den mutmaßlichen Folgen und Kosten einer zunehmenden Zahl hochbetagter, gebrechlicher oder dementer Menschen, deren pflegerische Versorgung gesellschaftlich kaum mehr gesichert zu sein erscheint, so wie es etwa der von der AOK herausgegebene Pflege-Report 2017 (Jacobs et al., 2017) nahelegte. In solchen Katastrophenbildern des zukünftigen Pflegebedarfs entsteht – gewollt oder ungewollt – der irreführende Eindruck, dass aufgrund dieses Trends auch jeder Einzelne für sich selbst mit einem erhöhten Pflege-Risiko in der Zukunft rechnen muss. Gerade diese Schlussfolgerung kann aber in Zweifel gezogen werden: Gestorben wurde auch in früheren Zeiten schon, und vor dem Tod kam damals wie heute für die meisten Menschen eine Phase der Pflegebedürftigkeit. Nur weil der Anteil von Pflegebedürftigen aufgrund der Tatsache steigt, dass geburtenstarke Jahrgänge in den nächsten Jahrzehnten nun nach und nach ein hohes Alter erreichen werden, ändert sich allerdings zunächst nur wenig oder sogar gar nichts an den persönlichen Alters- und Zukunftsrisiken jedes einzelnen Menschen. Allerdings sind solche Katastrophenszenarien sehr wohl geeignet, um Ängste und Sorgen bei jedem Einzelnen zu schüren, dass er einmal selbst vom mutmaßlichen Pflegenotstand betroffen sein dürfte. Da hilft leider auch nicht immer der Hinweis, dass man zunächst einmal ein hohes Alter erreichen muss, um überhaupt ein hohes Risiko der eigenen Pflegebedürftigkeit zu erreichen.

1.2.1 Gesellschaftliche Bedingungen des Alterserlebens

Die Frage ist also berechtigt, ob aus der demografisch beobachteten Zunahme der Lebensdauer in der Gesellschaft auch gefolgert werden kann, dass jeder Einzelne die vermeintlich hinzugewonnenen Lebensjahre im Alter zu einem großen Teil oder gar zwangsläufig in Pflegebedürftigkeit verbringen wird. Dies legen jedenfalls die Interpretationen und öffentlichen Debatten dar, die angesichts einer ‚Überalterung‘ der Gesellschaft seit Jahren wiederkehrend so etwas wie den baldigen Zusammenbruch des bisherigen Wohlfahrtsstaates und der Sozialsysteme vorhersagen oder beschwören (Die Welt, 2014; SZ, 2018; Die Welt, 2021). Gerade aber die Frage der individuellen Risiken einer zukünftigen Pflegebedürftigkeit ist weder in der medizinischen noch in der epidemiologischen Forschung eindeutig geklärt und wird seit vielen Jahren in der Wissenschaft kontrovers diskutiert (für einen frühen Überblick: Fries et al., 2011).
Auf der anderen Seite finden sich aber auch viele positive und idealisierende Altersszenarien, die ein aktives Lebensgefühl sowie eine hohe Zufriedenheit im Alter beschreiben und damit eine späte Lebensphase in relativ guter Gesundheit und Kompetenz erwarten lassen. So legen es beispielsweise auch die Befunde der Generali Altersstudie (Generali Deutschland, 2017) nahe, allerdings eben auch nur in Bezug auf Personen im Alter von 65 bis 85 Jahren. Viele der Beschönigungen möglicher Risiken und gesundheitlicher Verluste im Alter, genauso wie Idealbilder des Alterns, werden meist sehr schnell von der Wirklichkeit der persönlichen Alternserfahrungen eingeholt und sind daher auch nur mit Vorsicht zu genießen. Es ist aber bislang ungeklärt, wie sich Szenarien und Zukunftsbilder darauf auswirken, welche Erwartungen, Vorstellungen und Sichtweisen die Menschen im Hinblick auf ihre eigene Zukunft haben.
Viele Menschen reagieren auf die widersprüchlichen Darstellungen der Zukunft des Alters in der ‚alternden Gesellschaft‘ mit Verunsicherung oder sogar mit Ratlosigkeit in Bezug auf die eigene Planung und Vorsorge für das Alter. Mal wird das zukünftige eigene Alter als Schlachtfeld des Niedergangs und der persönlichen Verluste konstruiert, auf dem ein Leben in Würde kaum noch möglich zu sein scheint. Andererseits wird das Alter aber auch als eine schier endlose Phase der individuellen Selbstverwirklichung schön gezeichnet: Zuvor unerfüllte und hinausgeschobene Wünsche oder gar Lebensträume scheinen dann erst umgesetzt oder wenigstens angegangen werden zu können, weil man ja die Zeit dafür glaubt zu haben, und sich dabei auch noch jung fühlt.
Persönliche Zukunftspläne für das Leben im Ruhestand werden zu einem Hort der Ambivalenz, in dem der Wunsch nach einer von Selbsterfüllung, Glück und Aktivität geprägten Lebensphase schier untrennbar vermengt zu sein scheint mit der Furcht vor dem Verlust von Selbstbestimmung und mit der resignierten Hoffnung auf ein möglichst kurzes, schmerzloses Lebensende. Derartige Ambivalenzen finden sich nicht nur in medialen Darstellungen und Bildern des Alterns, wie beispielsweise in dem vom Bundesministerium für Senioren herausgegebenen Bildband zum Thema „Was heißt schon alt?“ (BMFSFJ, 2015), sondern sie kennzeichnen auch viele der persönlichen Sichtweisen von Menschen, die über ihr (zukünftiges) Leben im Alter räsonieren (Münch, 2016; Ekerdt & Koss, 2016).
Die Fragestellung nach den Folgen einer vermeintlich längeren und weiterhin steigenden Lebensdauer in modernen Gesellschaften lässt sich noch ausweiten. Zu fragen ist, inwiefern sich ein zunehmend längeres Leben auf das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen auswirkt. Inwieweit ändern sich aufgrund des demografischen Trends persönliche Sichtweisen, etwa die eigene, subjektiv erlebte Lebenserwartung oder die gewünschte Lebensdauer? Wie lange werde ich leben? Wie lange sollte mein Leben dauern? Bislang gibt es keine Vergleichswerte und noch kaum Befunde darüber, inwieweit sich Erwartungen und Wünsche bezüglich der eigenen Lebensdauer im Laufe der Jahrzehnte in der Nachkriegszeit an die höheren Lebenserwartungen in der Bevölkerung angepasst haben.
Auch wenn viele Menschen in modernen Gesellschaften im Allgemeinen länger leben als in früheren Zeiten, so bleibt das eigene persönliche Erkrankungs- und Sterberisiko dem einzelnen Menschen zwangsläufig im Unklaren. Für einige Menschen verläuft das Leben in hoher Funktionstüchtigkeit und großer Selbstbestimmung, selbst bis ins höchste Alter hinein. Für andere Menschen dagegen ist das Alter mit jahrelangen beschwerde- und leidvollen Einschränkungen und Pflegebedürftigkeit verbunden und endet vielleicht qualvoll und einsam. Fraglos gibt es also Verlierer und Gewinner der gestiegenen Lebenserwartung in modernen Gesellschaften, aber das Risiko, zu den Verlieren eines verlängerten Lebens zu gehören, ist im Individualfall nicht zu ermitteln und kann nicht einmal geschätzt werden. Zwar ist mittlerweile gut dokumentiert, dass die Lebenserwartung von überdurchschnittlich wohlhabenden Menschen bis zu zehn Jahren höher ist als die von Menschen aus unterdurchschnittlichen Einkommensgruppen (Lampert & Rosenbrock, 2017). Was dies aber für den Einzelnen und die Gestaltung der eigenen Lebenssituation im Alter bedeutet, bleibt offen. Ungeklärt ist etwa, inwieweit sich Faktoren wie der persönliche Lebensstil, das Alterserleben, Zukunftsdenken und Vorsorgehandeln – in einer vermittelnden Weise – nicht auch abschwächend auf die einkommensbezogenen Unterschiede bei der Lebenserwartung auswirken können. In welcher Weise gibt es neben den gesellschaftlichen Bedingungen auch individuelle und psychologische Faktoren, die zu einem langen Leben und zu einem gelingenden Altern beitragen? Woher nimmt der Einzelne seine Vorstellungen und Erwartungen darüber, was ihr und ihm die Zukunft bringen wird? Alles persönliche Wissen über Alter, Altern und Zukunftsrisiken speist sich aus Darstellungen der Medien und aus belletristischer Literatur, aus beruflichen und anderen sozialen Kontexten oder aus den persönlichen Erfahrungen und Schilderungen im eigenen Umfeld, von der Familie, nahen Angehörigen oder Bekannten. In jedem Einzelfall bleibt aber im Ungewissen, wie die eigene persönliche Zukunft verlaufen wird (vgl. Kap. 4).

1.2.2 Altern als individuelles und gesellschaftliches Zukunftsprojekt

Da jeder Mensch nur einmal lebt, gibt es für den Einzelnen nur wenige Anhaltspunkte dafür, welche Gestalt das eigene Altern annehmen wird. Es ist daher auch kaum möglich, die eigene zukünftige Lebensdauer subjektiv als eine Art persönlich nachvollzogenen ‚gesellschaftlichen Trend‘ zunehmender Lebenserwartung zu verstehen. Wie lange das Leben dauert, ist also unbekannt. Fest steht: Das eigene Leben endet im Privaten. Sicher ist nur der eigene Tod, ungewiss aber sind dessen Umstände und Zeitpunkt, ebenso wie der Verlauf des eigenen Alterns. Das nur scheinbar ‚Private‘ dieses Prozesses geschieht hierbei in einem von sozialen Vergleichen, gesellschaftlichen Normen und bereichsspezifischen Altersbildern geprägten, komplexen überindividuellen Kontext. Dabei ist bislang noch ungeklärt, welchen Einfluss beispielsweise das Wissen um eine zunehmende Lebensdauer darauf hat, wie sich Menschen in modernen Gesellschaften mit ihrer Zukunft auseinandersetzen und in welcher Weise sie sich dem eigenen Alter gedanklich und vorsorgend annähern. In welcher Weise wird dabei das Zukunftshandeln durch Sichtweisen auf das Alter, durch Erwartungen und persönliche Pläne bestimmt? Welche Rolle spielen gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen für das Zukunftsdenken und -handeln?
Die einzigartige persönliche Erfahrung des Alterns entfaltet sich jeweils erst im Verlauf des eigenen Lebens und lässt sich in ihren Besonderheiten daher auch erst nach und nach erkennen. Historische Veränderungen des Älterwerdens oder gar demografische Trends sind für den Einzelnen unmittelbar, wenn überhaupt, nur in engen Grenzen spürbar. Zwar erfahren viele Menschen medial von immer neuen Rekorden der Langlebigkeit, und die Jubiläumsfeiern von 80-, 90- und sogar 100-Jährigen im Kreis von Bekannten, Freunden und Verwandten häufen sich. Und dennoch stellt sich dabei zugleich die Frage, ob es überhaupt erstrebenswert ist, ein solchermaßen ‚biblisch‘ hohes Alter von vielleicht 90, 95 oder mehr Jahren zu erreichen? Möchte man so lange leben? Die Antwort, die viele Menschen darauf geben, lautet Nein, oder sie lautet: „Ja – sofern ich noch gesund bin“ (Lang et al., 2007). Und für wie wahrscheinlich hält man es, selbst ein sehr hohes Alter von beispielsweise über 100 Jahren zu erreichen? Sollte man nicht besser früher gesund als später krank sterben? Kann man sich heute schon auf eine Lebensphase vorbereiten, die erst in 20, 40, 60 oder 80 Jahren beginnt? Sollte man das überhaupt tun? Bei der Beantwortung solcher Fragen spielt eine Rolle, welche Vorstellungen man davon hat, was einem das eigene Alter und die letzte Lebensphase bringen wird: Wird man diese Jahre in Selbstbestimmung und bei klarem Geist erleben? Falls nicht, sollte man es dann doch besser vermeiden?
Ein langes Leben wünschen sich Menschen zwar meist nur unter bestimmten Bedingungen. Allerdings ist nur wenig darüber bekannt, was Menschen dazu bringt, auch angesichts der Widrigkeiten, die das hohe (‚wirkliche‘) Alter meist begleiten, diese letzte Lebensphase dennoch als einen unabdingbaren Bestandteil des Lebens zu begreifen. Mit der zunehmenden Langlebigkeit und der hohen Lebenserwartung verbunden sind meist auch viele Befürchtungen und Ängste, die sich insbesondere um die Fragen der Kontinuität und Sicherung des eigenen Lebensstandards in den späteren Lebensphasen drehen. Wird das eigene Leben auch in der achten, neunten oder zehnten Lebensdekade überhaupt noch dem entsprechen, was der Einzelne für sich als lebenswert erachtet? Zu fragen ist also, ob sich Menschen von einem verlängerten und langen Leben eher Vorteile ausrechnen – und wer eher Nachteile erwartet. Inwiefern sind Hoffnungen und Befürchtungen die eigene Zukunft betreffend nicht nur Folgen gesellschaftlicher Bedingungen, sondern zugleich auch Bedingungen der Lebensgestaltung im Alltag?

1.2.3 Der flexible Umgang mit der eigenen Zukunft und dem Älterwerden

Für die meisten Menschen liegt das eigene Alter in der Zukunft. Dies gilt sogar gelegentlich auch für Menschen, die schon ein hohes Alter erreicht haben, zumindest solange sie sich gesund und damit auch noch jünger fühlen als sie tatsächlich sind. Zudem wird das ‚Alt-Sein‘ häufig als ein Merkmal verwendet, das man gleichaltrigen Anderen zuschreibt, aber erstaunlicherweise ohne sich diesen zugehörig zu fühlen (Weiss & Lang, 2012). Bekannt ist, dass eine solche Abgrenzung vom Alter der Anderen einen flexiblen Umgang mit der persönlichen Erfahrung des Alterns ermöglicht, etwa indem man sich selbst mit solchen älteren Menschen vergleichen kann, denen es schlechter als einem selbst geht. Diese Flexibilität birgt allerdings auch einige Risiken. Wenn es noch ältere Menschen gibt, deren Alter sich vom eigenen positiven Alternserleben im Kontrasterleben abgrenzen lässt, kann man sich den Diskussionen um die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft zumindest im persönlichen Lebensumfeld noch leicht entziehen. Denn solange es so ist, geht es bei den Zukunftsszenarien des Alters aus der Sicht der Individuen nur um die Situation der ‚wirklich Alten‘, von deren Lebenssituation man sich selbst in aller Regel noch weit entfernt fühlt.
Riskanter oder sogar bedrohlich werden die Szenarien einer „Verjüngung“ des Alters (Tews, 1990) in modernen Gesellschaften, wenn damit einhergeht, dass der Einzelne sich aufgrund der eigenen Situation und Konstitution im Altersvergleich als (zu) früh gealtert oder dem negativen Altersbild entsprechend als ‚Greis‘ erlebt. Was also, wenn man das eigene Alter nicht positiv und produktiv erlebt, wenn man sich alt fühlt – so alt, wie man ist, oder sogar älter – und dabei eben nicht an der Jugendlichkeitsillusion des modernen Alterns teilhaben kann? In solchen Situationen kann das eigene Altern im sozialen Kontext eine doppelte Herausforderung darstellen, bei der ältere Menschen nicht nur den gesundheitlichen Belastungen des Alterns ausgesetzt sind, sondern sich auch weniger erfolgreich den gesellschaftlich vorherrschenden Altersstereotypen und Abwertungen des Alters entziehen können. An deren Ende können auch ein völliger sozialer Rückzug, Isolation und gar Vereinsamung stehen (Tesch-Römer, 2010).

1.2.4 Individuelles Altern über die Lebensspanne

Jeder Mensch altert auf seine eigene Weise – die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste, die wir in Bezug auf das eigene Alter hegen, werden geprägt von persönlichen Erfahrungen, Zielen und Handlungsmöglichkeiten. Ob man sich freut oder fürchtet, sich vorbereitet oder gegen das Alter wehrt, wie man die im Zuge des Alters gemachten Erfahrungen und Veränderungen bewertet und ob man lernt, sie zu akzeptieren, all das ist Ausdruck einer individuellen Biografie des Alterns. Neben dieser Individualität des Alterns und den diesbezüglich bestehenden Unterschieden zwischen Personen ist das Altern jedoch ein Phänomen, das auch innerhalb ein und derselben Person unterschiedliche Formen annimmt.
So beginnt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Alter und Altern bereits früh – vielleicht erlebt man die eigenen Großeltern oder Eltern als Modell für das eigene Altern, vielleicht erfährt man durch die Medien, dass die Phase des hohen Alters für die heute noch junge Generation ganz besondere Herausforderungen mit sich bringen wird. Auch wenn diese ersten Auseinandersetzungen mit dem eigenen Alter noch eher projektiv sind, haben sie doch möglicherweise schon Auswirkungen auf unser aktuelles Denken, auf unsere Entscheidungen und auf unser Handeln: Sie mögen Einfluss nehmen auf die Berufswahl – wenn diese etwa auch von perspektivischen Überlegungen der Sicherheit oder der Wahrscheinlichkeit, diesen Beruf auch im höheren Alter noch ausführen zu können, geprägt wird. Sie können uns zu einer gesunderen Lebensführung, zur Vermeidung bestimmter Risiken oder zu einem vorausschauenden Umgang mit unseren Finanzen bewegen. Andererseits können Negativszenarien des eigenen Alters aber auch das Nachdenken über das eigene Altern zum Erliegen bringen und eine ganz auf das Hier und Jetzt bezogene Lebensführung nahelegen.
In späteren Lebensphasen geht es dann mehr und mehr um den Umgang mit den faktisch eintretenden Veränderungen des Alters: Die eigene Lebenssituation hat sich verändert, viele Entscheidungen in Beruf und Familie sind bereits getroffen und lassen sich nicht mehr ohne Weiteres revidieren. Vielleicht hat man etwas erreicht, auf das man stolz ist, oder Fehler gemacht, für die man sich schämt. Vor allem aber wird das Verhältnis des noch zu lebenden zum bereits gelebten Leben immer ungünstiger, die Zukunftsperspektive schrumpft, die körperliche Fitness lässt vielleicht nach. Man profitiert von der Lebenserfahrung, die man angesammelt hat, genießt die Verantwortung, die das Erreichen einer einflussreichen Position mit sich bringt, oder die Freiheiten, die mit dem Eintritt in den Ruhestand verbunden sind.
Schließlich wechselt man von der Gruppe der ‚jungen‘ zu den ‚alten Alten‘, es beginnt das sogenannte vierte Lebensalter (Baltes, 1997). In diesem Lebensabschnitt wiederum ist Altwerden von gänzlich anderen Anforderungen, Sorgen und Problemen, aber auch Erwartungen und Hoffnungen gekennzeichnet. Falle ich auch niemandem zur Last? Sind meine Angelegenheiten gut geregelt, habe ich für alle Eventualitäten vorgesorgt? Fühle ich mich geborgen und nah bei den Menschen, die mir etwas bedeuten? Kann ich meinen Frieden machen mit dem, was war – und mit dem, was nicht hat sein sollen? Gelingt es mir loszulassen und eine Haltung anzunehmen, die es mir erlaubt, beruhigt und in Würde zu sterben?
Mit diesem stilisierten Stufenmodell des Alterns über die Lebensspanne wollen wir vor allem darauf hinweisen, dass Altern auch innerhalb derselben Person ein im Verlauf des Lebens sehr veränderlicher Prozess ist. Im Verlauf des Alterns zeigt sich das Alter immer wieder von einer anderen Seite. Es sollte also nicht suggeriert werden, dass sich ein immer gleicher uniformer Ablauf des Alters für alle Personen aufzeigen lässt: Trotz typischerweise festzustellender Muster sind die Erlebnisse, Abläufe, Erfahrungen, Reaktionen, Probleme und Lösungen, die sich im Zuge persönlicher Lebensgeschichten des Alters ergeben, sehr heterogen und individuell. Nicht nur die individualbiografischen Erfahrungen des Alterns unterscheiden sich – auch die Zeitpunkte, zu denen das Alter(n) in den Mittelpunkt des eigenen Erlebens rückt, sind von Person zu Person verschieden. Ein Kernanliegen dieses Buches wird es sein, diese Unterschiedlichkeit des individuellen Alterserlebens auszuloten und systematisch zu beschreiben.

1.2.5 Determinanten des Alterns und Alterserlebens

Macht man sich die Unterschiedlichkeit im Prozess und in den Inhalten des Alterns bewusst, dann drängt sich die unmittelbar daran anschließende Frage auf, wie sich diese Unterschiede erklären lassen. Was sind die entscheidenden Faktoren, durch die Weichen gestellt und Altersprozesse reguliert werden? Welche Rolle spielt hierbei das Individuum, welche Rolle spielt die persönliche und soziale Umgebung, welche Rolle gesellschaftsstrukturelle und soziokulturelle Faktoren? Ein erster zentraler Faktor bei dieser Suche nach den Determinanten des Alterns und Alterserlebens sind – gerade mit Blick auf die Veränderlichkeit des Alterns über die Lebensspanne – Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen. Nicht nur erleben ältere Erwachsene, junge Alte und alte Alte das Altern aus ihrer jeweils spezifischen Perspektive. Altern bedeutet auch heute etwas Anderes als in früheren Generationen, und es wird auch in zukünftigen Generationen wieder anders erlebt werden. Im Wandel der Zeiten kann das Alter(n) ein völlig anderes Gesicht bekommen. Soziologische und psychologische Untersuchungen können meistens nur einen winzigen Ausschnitt dieser historischen Entwicklung abbilden. Der Vergleich zwischen jung und alt ist aber möglicherweise ein Schlüssel zum Verständnis gerade solcher langfristigen historischen Veränderungen, auch wenn er nur zu einem konkreten Zeitpunkt erfolgt.
Die gegenwärtige demografische Entwicklung ist ein Paradebeispiel für ein solches Ineinandergreifen individueller und gesellschaftlicher Alterungsprozesse. Die Generation der heute schon Älteren wird vielleicht mit Erleichterung reagieren, da sie glaubt, von den anstehenden Veränderungen kaum mehr betroffen zu sein, während dieselbe langfristige Entwicklung gerade bei den lange-noch-nicht-Alten Sorgen und Befürchtungen um ihr eigenes Alter auslösen mag. Solche altersgruppenspezifischen Auswirkungen gesellschaftlicher Ereignisse und Veränderungen analysierte bereits Elder (1974) mit Blick auf die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre.
Einen weiteren beeindruckenden Hinweis, der uns die Unterschiede des Alterns plastisch vor Augen führt, liefern Kulturvergleiche. So mag der Blick auf noch nicht vom medizinischen und technischen Fortschritt geprägte, vorindustrielle Kulturen einen aufschlussreichen Eindruck davon vermitteln, wie Altern in früheren Zeiten ausgesehen haben mag. Aber Kulturvergleiche erlauben nicht nur Spekulationen über mögliche historische Veränderungen des Alterns, sie eröffnen auch eine Perspektive auf die gravierend unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstruktionen und ‚Normalitäten‘ des Alterns, auch und gerade zwischen modernen Gesellschaften. Mag das Altern in früheren Zeiten noch vor allem durch biologische Faktoren geprägt und daher vergleichsweise ähnlich ausgesehen haben, so zeigen sich mit zunehmender mittlerer Lebenserwartung eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Alterskulturen, etwa in Bezug auf Status, Versorgung und Integration älterer Menschen, aber auch im Hinblick auf die individuelle Auseinandersetzung mit dem Altern. Genau um solche Unterschiede zwischen Ländern und Kulturen zu untersuchen, beinhaltet unsere Studie als zentrales Element auch internationale Vergleiche zwischen Deutschland, den USA, China (Hongkong), Taiwan und Tschechien.
Unterschiede zwischen Altersgruppen, Kohorten und Kulturen sind aber nur eine erste, wenn auch sehr wichtige Annäherung an die Vielschichtigkeit des Alters und seiner Determinanten. Noch direkter werden Altersprozesse durch Altersbilder geprägt, die auch eine zentrale Quelle von Unterschieden im individuellen Altern sind. Unter Altersbildern versteht man positive wie auch negative Vorstellungen vom – gelingenden oder gescheiterten, gesellschaftlich erwünschten oder normativ abweichenden, erhofften oder Angst auslösenden – Altern. Diese Vorstellungen beinhalten sowohl soziale Erwartungen bezüglich des Alterns und älterer Menschen wie auch individuelle Erwartungen hinsichtlich des eigenen Alters und Alterns. Die Analyse von Altersbildern nimmt einen zentralen Stellenwert in der hier berichteten Studie ein, denn Bilder des Alter(n)s wirken häufig wie selbsterfüllende Prophezeiungen: Sie prägen die Wahrnehmung und Interpretation altersbedingter – oder auch nur vermeintlich altersbedingter – Veränderungen, vor allem aber beeinflussen sie die Motivation und das Handeln von Menschen mit Blick auf spätere Lebensphasen. So stellen insbesondere negative Altersbilder einen wichtigen Risikofaktor für misslingende Auseinandersetzung mit der Alternsthematik, mangelnde Vorbereitung und altersbezogene Ängste dar.

1.2.6 Bereichsspezifität des individuellen Alterns

Veränderungen des Alterns über die Lebensspanne erfolgen in einer vergleichsweise gemächlichen zeitlichen Abfolge, charakteristische Phasen des Alterserlebens von typischerweise mehrjähriger Dauer folgen aufeinander. Die Übergänge können dabei fließend, manchmal auch abrupt erfolgen, insgesamt aber handelt es sich hier um ausgedehnte Abschnitte mit vergleichsweise langen Zeitperioden, in denen das eigene Alterserleben konstant bleibt, bis der nächste Übergang oder Wechsel erfolgt.
Was bei dieser Betrachtung nicht berücksichtigt wird, sind die massiven Unterschiede im Alterserleben innerhalb ein und derselben Person, die zeitgleich nebeneinander existieren, und die damit zu tun haben, dass sich das Alterserleben in verschiedenen Lebensbereichen teilweise dramatisch voneinander unterscheidet (Kornadt & Rothermund, 2015). In der Fachliteratur wird diese Form der Heterogenität des Alterns als „Multidimensionalität“ und „Multidirektionalität“ bezeichnet (Baltes, 1987). Allerdings sind diese Kernthesen der entwicklungspsychologischen Alternsforschung weder in das Alltagsverständnis des Alterns durchgedrungen, noch stellen sie in der Altersforschung selbst eine Selbstverständlichkeit dar – zu stark trüben nach wie vor globale und stereotype Verengungen unseren Blick auf das Altern, nicht zuletzt durch die Reduktion des Phänomens ‚Alter‘ auf biologische Veränderungen und gesundheitliche Probleme.
Zwar mag die körperliche und gesundheitliche Verfassung ein Bereich sein, in dem Erfahrungen altersbedingter Veränderungen eine besonders prominente Rolle spielen, während andere Lebensbereiche nahezu ‚altersfrei‘ gestaltet oder jedenfalls so erlebt werden, seien es die Freundschaft mit den Nachbarn, eine religiöse Bindung oder die eigene Persönlichkeit. Nicht nur unterscheiden sich Lebensbereiche mit Blick auf die persönliche Relevanz der Altersthematik, häufig unterscheidet sich auch die Qualität des Alterserlebens selbst: Wird Altsein oder Altwerden in einem Bereich eher als Gewinn oder als Verlust gedeutet? Wie alt fühle ich mich überhaupt in einem Bereich? Ab welchem Alter würde ich eine Person als alt bezeichnen, wenn ich an bestimmte Lebensbereiche, Aktivitäten oder soziale Kontexte denke? Hier gibt es nicht nur Unterschiede zwischen Bereichen, auch finden sich stark unterschiedliche Altersprofile für verschiedene Personen. Die 35-jährige IT-Entwicklerin oder Werbetexterin mag sich in ihrem Beruf bereits alt fühlen und Angst vor einer Ausmusterung haben, während sie sich gesundheitlich, geistig und – vielleicht ist sie noch unverheiratet – auch familiär eindeutig zur jungen Generation zählt, was aber in diesem Alter nicht mehr unbedingt als positiv erlebt werden muss, da hier Altersnormen vielleicht bereits überschritten wurden (Neugarten et al., 1965; Kalicki, 1996). Ein 35-jähriger Psychologe dagegen, der nach ausgedehnter Elternzeit erstmalig eine Tätigkeit als Therapeut aufnimmt, fühlt sich vielleicht beruflich jung, unerfahren und vielleicht auch unsicher, definiert sich körperlich aber nicht mehr als junger Mann, der Wert auf ein jugendliches Erscheinungsbild legt, jedoch hält er sich in seiner Familienrolle vielleicht für einen ‚alten Hasen‘– durchaus im positiven Sinne.
Selbstverständlich ist das Alterserleben in verschiedenen Bereichen nicht immer unabhängig voneinander. Aber selbst die Form und Richtung dieser Zusammenhänge kann variieren – das Ausscheiden aus dem Berufsleben etwa kann sich negativ, aber auch positiv auf das Freizeitverhalten (Verlust von Bekannten und Sozialkontakten vs. Gewinn an zeitlichen Ressourcen) oder das Familienleben einer Person (Zunahme von Konflikten vs. mehr Zeit füreinander) auswirken.
Die Berücksichtigung von Unterschieden im Alter in verschiedenen Lebensbereichen und sozialen Kontexten ist ein Kernmerkmal unserer Untersuchung zum Altern. Die bereichsspezifische Perspektive durchzieht alle Aspekte unserer Analysen: Von Altersbildern über die Vorsorge bis zum Zeithandeln finden sich durchgängig Hinweise, dass Alter und Altern kein globales oder homogenes Phänomen ist, sondern immer nur mit Bezug zu bestimmten Lebenskontexten analysiert und verstanden werden kann. Die Aufschlüsselung von Altersprozessen aus dieser spezifischen kontextbezogenen Perspektive sehen wir als einen der wesentlichen Beiträge unserer Forschung, sowohl für die wissenschaftliche Analyse des Alters als auch für dessen Alltagsverständnis in Politik und Gesellschaft.

1.3 Altern als Zukunft – Fragestellungen und Zielsetzung der Studie

Die Studie Altern als Zukunft untersucht das Zusammenspiel von Zeiterleben, Altersbildern und Zukunfts- bzw. Vorsorgehandeln im Hinblick auf dessen individuelle, gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen und Implikationen. Wie verändern sich bereichsspezifische Altersbilder im Laufe der Zeit und wie werden diese in das eigene Selbstbild eingebaut, während man älter wird? Oder verändern sich Bilder vom Alter erst infolge des persönlichen Alternserlebens? Welche Wirkungen entfalten dabei Zukunftsszenarien auch auf der Ebene individuellen Zukunfts- und Vorsorgehandelns in der Gegenwart? Welche Rolle spielt der Umgang mit Lebenszeit und alltäglicher Zeit in der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des eigenen Lebens?
Belastbare Antworten auf genau solche Fragen des Alterns als Zukunft liegen bislang kaum oder gar nicht vor und werden in dem hier vorgelegten Band erstmals zusammenfassend dargestellt. Dabei werden in einer einzigartigen Weise gesellschaftliche Bedingungen unterschiedlicher Länder kombiniert mit einer Betrachtung von Veränderungen über die historische Zeit. Die Studie beruht auf einer einzigartigen Vielfalt unterschiedlicher methodischer Zugänge, die psychologische Experimente, Befragungen in vielfältigen bevölkerungsrepräsentativen Stichproben, aber auch in besonderen Online-Erhebungen und in Form qualitativer Interviews umfassen. Diese Kombination vielfältiger methodischer Ansätze und unterschiedlicher Datenquellen aus verschiedenen kulturellen Kontexten ist in ihrer Art bislang einzigartig – ebenso wie der Erkenntnisgewinn in Sachen Alter und Altern, der durch dieses komplexe Studiendesign erzielt werden konnte.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Fußnoten
1
Das ist die als „Moderate Entwicklung“ bezeichnete Variante („Variante 2“), bei der von einer annähernd konstanten Geburtenhäufigkeit, einem mäßigen Anstieg der Lebenserwartung und einer eher geringen Nettozuwanderung ausgegangen wird (vgl. Statistisches Bundesamt, 2019, S. 16).
 
2
Gemäß der o. g. Berechnungsvariante wird die Zahl der 67- bis 79-Jährigen in Deutschland zwischen 2018 und 2060 von gut 10 auf gut 12 Mio. Personen ansteigen, die der über 80-Jährigen von 5,4 auf knapp 9 Mio. Menschen (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 24 f.).
 
4
Wir handhaben den schriftsprachlichen Umgang mit der Geschlechterdifferenz in diesem Band in der klassischen Weise, an den entsprechenden Stellen jeweils die männliche und weibliche Form zu benutzen, wobei stets auch dritte und weitere Geschlechterkategorien und -identitäten mitgemeint sein sollen.
 
Metadaten
Titel
Keine Zukunft? Alter und Altern in der ‚alternden Gesellschaft‘
verfasst von
Frieder R. Lang
Stephan Lessenich
Klaus Rothermund
Copyright-Jahr
2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-63405-9_1