Skip to main content

2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Länderanalyse Belgien

verfasst von : Sophie Hegemann

Erschienen in: Kulturen des Ausnahmezustands

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …

Zusammenfassung

Das Kapitel widmet sich der Analyse des historisch-politischen Kontexts in Belgien. Dieser liefert Erklärungsmuster für das, was politische Entscheidungsträger aufgrund historisch überlieferter Ideen, Normen und politisch-institutionell bedingter Handlungsgewohnheiten im Zuge islamistischer Terroranschläge als angemessen erachteten. Hierbei diskutiert es Maßnahmen und Gesetze, die in der Untersuchungszeitspanne von staatlicher Seite diskutiert und initiiert wurden. Es zeigt sich eine konsensorientierte und machtverteilende Verfassungskultur in Belgien. Politische Entscheidungsprozesse endeten in der Regel in Kompromisslösungen, was einschneidende exekutivlastige Maßnahmen unwahrscheinlicher machte.

Sie haben noch keine Lizenz? Dann Informieren Sie sich jetzt über unsere Produkte:

Springer Professional "Wirtschaft+Technik"

Online-Abonnement

Mit Springer Professional "Wirtschaft+Technik" erhalten Sie Zugriff auf:

  • über 102.000 Bücher
  • über 537 Zeitschriften

aus folgenden Fachgebieten:

  • Automobil + Motoren
  • Bauwesen + Immobilien
  • Business IT + Informatik
  • Elektrotechnik + Elektronik
  • Energie + Nachhaltigkeit
  • Finance + Banking
  • Management + Führung
  • Marketing + Vertrieb
  • Maschinenbau + Werkstoffe
  • Versicherung + Risiko

Jetzt Wissensvorsprung sichern!

Springer Professional "Wirtschaft"

Online-Abonnement

Mit Springer Professional "Wirtschaft" erhalten Sie Zugriff auf:

  • über 67.000 Bücher
  • über 340 Zeitschriften

aus folgenden Fachgebieten:

  • Bauwesen + Immobilien
  • Business IT + Informatik
  • Finance + Banking
  • Management + Führung
  • Marketing + Vertrieb
  • Versicherung + Risiko




Jetzt Wissensvorsprung sichern!

Fußnoten
1
In Art. 187 heißt es, dass die belgische Verfassung weder ganz noch in Teilen ausgesetzt werden dürfe (vgl. Paye 2016: 32). Ähnlich wie in Frankreich enthält das belgische Recht jedoch Bestimmungen über den Kriegszustand (état de guerre) und den Belagerungszustand (état de siège).
 
2
Da Flämisch einen Dialekt des Niederländischen darstellt, spreche ich, wenn ich mich ausschließlich auf die sprachliche Ebene und nicht auf kulturelle Eigenheiten der flämischen Kultur beziehe, von „der niederländischen Sprache“ (vgl. Deprez 1998: 98 ff.). In Wallonien wird Französisch gesprochen, kulturelle Eigenheiten der Region bezeichne ich jedoch als wallonisch und nicht als französisch.
 
3
„Flamenpolitik“ bezeichnet die Politik des Deutschen Kaiserreichs und des Deutschen Reichs während der deutschen Besatzungszeit, die flämische Bevölkerung für den Kampf an deutscher Seite zu gewinnen. Hierfür wurde der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen genutzt, um gegen die „französischen“ Einflüsse in Belgien zu mobilisieren.
 
4
Durch eine Dokumentarfilmproduktion von Maurice De Wilde wurde die Aufarbeitung des Kriegs erst Anfang der 1980er-Jahre im flämischen Fernsehen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht; Anfang der 1990er-Jahre folgte im französischsprachigen Fernsehen eine ähnliche Reihe mit dem Titel „Jours de Guerre“ (vgl. Majerus 2008: 132).
 
5
Die Mitte der 1970er-Jahre gegründete rechtsextreme und separatistische Partei Vlaams Blok (heute Vlaams Belang) baute in den Jahren nach ihrer Gründung eine breite Wählerschaft auf (vgl. Reuter 2009: 21). Sie zog 1978 erstmals in das Parlament ein und wurde bei den Wahlen zur belgischen Abgeordnetenkammer 2019 mit 12 % der Stimmen zur zweitstärksten Fraktion.
 
6
Diese wurden in Art. 4 Abs. 1 der Verfassung als sprachlich autonome Kulturgemeinschaften festgeschrieben, die auch als administrative Einheiten fungieren und vor allem für die Kultur- und Bildungspolitik und „personenbezogene Aufgaben“ (vor allem Gesundheits- und Familienpolitik) zuständig sein sollten (vgl. Berge/Grasse 2003: 109 ff.; Hecking 2003: 45 ff.).
 
7
Zur Flämischen Gemeinschaft gehören die Bewohner der Region Flandern und der flämischsprachige Teil Brüssels; zur Wallonischen Gemeinschaft die Bewohner Walloniens, der französischsprachige Teil Brüssels und die frankophonen Bewohner im deutschen Sprachgebiet und zur deutschsprachigen Gemeinschaft die deutschsprachigen Bewohner im Osten Walloniens (vgl. Hecking 2003: 65).
 
8
Die wallonische Region setzt sich aus dem deutschen und dem französischen Sprachgebiet zusammen, die flämische Region und die flämische Gemeinschaft sind identisch, die Brüsseler Region deckt den französischsprachigen und den flämischsprachigen Teil Brüssels ab.
 
9
Die Zuständigkeiten der Gemeinschaften umfassen: kulturelle Angelegenheiten, Unterrichtswesen, Sprachgesetzgebung und Familien- Senioren, Behindertenpolitik sowie Integrationspolitik. Die Zuständigkeiten der Regionen umfassen territorialitätsgebundene Angelegenheiten, wie unter anderem Stadt- und Landschaftsplanung, Landwirtschaft, Wasserpolitik, Wohnungsbau, Naturschutz, Tierschutz, Beschäftigung und Verkehrssicherheit.
 
10
Die Begriffe ‚Konsensusdemokratie‘ (Lijphart 1981) und ‚Verhandlungsdemokratie‘ (Lehmbruch 2003) werden im Folgenden synonym verwendet. Es handelt sich um Demokratien, die im Gegensatz zum Westminstermodell nicht rein mehrheitsdemokratisch ausgerichtet sind (vgl. Lijphart 1999: 248).
 
11
In der Wallonie stellt Niederländisch kein Pflichtfach dar. Viele frankophone Belgier sprechen somit nur wenig oder gar kein Niederländisch. In Flandern wird Französisch als erste Fremdsprache (ab der 5. Klasse) gelehrt. Von einer Zweisprachigkeit sind jedoch auch die meisten Flamen weit entfernt, für viele ist Englisch die „leichtere“ Sprache, weshalb junge Flamen und Wallonen sich mitunter auf Englisch verständigen, wenn sie aufeinandertreffen (vgl. Schürings 2017: 124).
 
12
„Ich denke, dass es zwischen Belgien und den französischsprachigen Belgiern und Frankreich eine sehr unterschiedliche Herangehensweise an die Regierungsführung und den Staat gibt. Frankreich ist ein sehr zentralisierter Staat, sehr jakobinisch, die Macht von Paris, die Präfekten, die entscheiden, auch wenn sie noch nicht einmal gewählt sind. In Belgien haben wir das komplette Gegenteil, wo alles sehr flexibel und das Gewicht des Staats manchmal sogar zu schwach ist, insbesondere in Bezug auf Fragen der Sicherheit“ (Übersetzung d. Verf.).
 
13
Die Befragten konnten auf einer fünfstufigen Skala antworten. Die Antwortmöglichkeiten waren: Ich fühle mich ausschließlich als Flame/Wallone, mehr als Flame/Wallone als als Belgier, genauso sehr als Flame/Wallone wie als Belgier, mehr als Belgier denn als Flame/Wallone, nur als Belgier. In den oben gemachten Angaben wurden die unterschiedlichen Antwortmöglichkeiten mitunter addiert (vgl. Billiet et al. 2006: 916).
 
14
„Auf der politischen Ebene gibt es eine kommunitäre Dimension, die die Gemeinschaften voneinander trennt. Die Kulturgrenze ist nicht nur eine Sprachgrenze innerhalb unseres Lands. Sie ist auch eine Grenze des Denkens und der Mentalität. Flandern wollte weitergehen, weil in Flandern die Mentalität der Menschen mehr in Richtung Recht und Ordnung geht. In Wallonien wird den Menschenrechten mehr Aufmerksamkeit geschenkt. […] Man muss immer versuchen, Kompromisse zu finden, und das beeinflusst auch unsere Gesetzgebung. In Flandern hätten wir also sicherlich noch weitergehen können, aber das war wegen einer anderen Sichtweise im Süden des Lands nicht möglich“ (Übersetzung d. Verf.).
 
15
„Im Hinblick auf den Terrorismus haben wir [flämische Abgeordnete der Regierungskoalition; Anmerkung d. Verf.) schon lange für zusätzliche Mittel plädiert. Aber in Belgien haben wir wirklich zwei unterschiedliche Philosophien, und da wir im Konsens arbeiten, muss man damit leben (il faut faire avec) (wie wir in Brüssel sagen)“ (Übersetzung d. Verf.).
 
16
Gemeint sind französisches Fernsehen und französische Zeitungen.
 
17
„Sie schauen eure Fernsehprogramme, lesen eure Zeitungen mehr als die flämischen Medien. Die meisten kennen die Sprache auf der anderen Seite des Lands nicht einmal und sprechen sie auch nicht. Aber es gibt große politische Meinungsverschiedenheiten in einigen Fragen gegenüber Frankreich, und der Sicherheitsbereich ist einer davon. […] Es gibt auch sozioökonomische Unterschiede und eine linke Kultur, die sich bemerkbar macht, denke ich“ (Übersetzung d. Verf.).
 
18
Ich rekurriere hierbei auf die Werte dreier Items der Umfrage, die die Akzeptanz von Eingriffsrechten des Staats abfragen: „Befürwortung der Verlängerung des Polizeigewahrsams“, „Erleichterungen behördlicher Durchsuchungen“ und „Verstärkung von Überwachungsmaßnahmen“.
 
19
Korrelationskoeffizient (Pearsons r): 0,26***.
 
20
Korrelationskoeffizient (Pearsons r): 0,18***.
 
21
Korrelationskoeffizient (Pearsons r): ns.
 
22
Korrelationskoeffizient (Pearsons r): Verlängerung Polizeigewahrsam: − 0,18***; Korrelationskoeffizient (Pearsons r) Erleichterung behördliche Durchsuchungen: − 0,14***.
 
23
Korrelationskoeffizient (Pearsons r): 0,05**.
 
24
Der Begriff geht ursprünglich auf Alexis de Tocqueville zurück.
 
25
Der bisher längste Regierungsbildungsprozess in Belgien ereignete sich im Zuge der Parlamentswahlen 2010, nach denen es fast eineinhalb Jahre (17 Monate) dauerte, bis eine neue Regierung im Amt war. Ein ähnlich schwieriger Prozess zeigte sich im Zuge der Wahlen im Mai 2019, in deren Folge es bis September 2020 (16 Monate) dauerte, bis eine neue Regierungskoalition gebildet werden konnte.
 
26
Nach Angaben von Kris Deschouwer blieben zwischen 1946 und 2010 Regierungen im Durchschnitt nur 516 Tage, das heißt 17 Monate im Amt (vgl. Deschouwer 2012: 174).
 
27
Die sogenannte Schwedische Regierungskoalition setzte sich von Oktober 2014 bis Dezember 2018 (54. Legislaturperiode) aus vier Parteien zusammen: Die frankophone liberale Partei Mouvement Réformateur (MR) stellte den Premierminister und sieben weitere Minister. Die anderen sieben Ministerposten waren aufgeteilt auf die flämische nationalistische Partei Nieuw-Vlaamse-Alliantie (N-VA) mit drei Ministerposten, die flämischen Christdemokraten Christen-Democratisch en Vlaams (CD&V) mit zwei Ministerposten und die flämische liberale Partei Open Vlaamse Liberalen en Democraten (Open VLD) mit zwei Ministerposten.
 
28
„Die N-VA war die einzige Partei, die dafür war. Wir konnten keine Einigung innerhalb der Regierung erreichen, weil wir (die CD&V) und die VLD und auch die MR dagegen waren. […] In der Mehrheitspartei gab es also Stimmen, die sagten, nun, wir wiederholen Frankreich und stimmen für den Ausnahmezustand. Aber das ging vielen zu weit. Selbst den Flamen! [lacht]“ (Übersetzung d. Verf.).
 
29
„Sogar die rechten Parteien waren in der Frage des Ausnahmezustands gespalten. Nur die N-VA war sehr auf Sicherheitsmaßnahmen aus, die anderen Regierungsparteien meiner Meinung nach weniger. Was von der Regierung kam, war also nicht die extremste Position in Sachen Sicherheit“ (Übersetzung d. Verf.).
 
30
Dem Senat kommt seit der Verfassungsrevision von 1993 im Vergleich zur Abgeordnetenkammer jedoch eine untergeordnete Rolle zu, da er in zahlreichen Bereichen an Mitbestimmungsbefugnissen eingebüßt hat (vgl. Berge/Grasse 2003: 138). Art. 77 der belgischen Verfassung gibt einen Überblick der Bereiche, in denen nach wie vor nach einem verpflichtenden Zweikammersystem entschieden wird.
 
31
Das Gesetz sah vor, dass belgischen Terroristen, die die belgische Staatsbürgerschaft nicht mit der Geburt erworben hatten, diese im Falle einer schwerwiegenden terroristischen Straftat auch wieder aberkannt werden kann. Ich komme in Abschnitt 5.2.1 darauf zurück.
 
32
„Die Fortschritte, die wir damals gemacht haben, waren für Belgien ein großer Schritt. Ohne die Anschläge hätten wir zum Beispiel niemals das Staatsangehörigkeitsrecht ändern können. Alle französischsprachigen Parteien, außer vielleicht das MR, hätten es verhindert“ (Übersetzung d. Verf.).
 
33
„Die Atmosphäre im Parlament war zu diesem Zeitpunkt eine ganz andere. Wie ich Ihnen bereits sagte, bot es die Gelegenheit, das Staatsangehörigkeitsrecht, das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung zu flamandisieren“ (Übersetzung d. Verf.).
 
34
„Alles ging viel schneller als sonst, und ich denke, dass diese Momente ein Risiko bergen, schlechte Gesetze zu erlassen. Aber… naja, so ist es leider oft. Wenn ich etwas in Eile mache, ist es nie das Beste, was ich tun kann. Und der öffentliche Druck war sehr sehr sehr stark. Und der Druck von der Polizei und den Sicherheitsdiensten auch, die zusätzliche Mittel, zusätzliche Mittel, zusätzliche Mittel wollten, weil sie auch unter großem Druck standen. Es war also nicht einfach“ (Übersetzung d. Verf.).
 
35
„In den Tagen nach den Anschlägen in Frankreich und Belgien gab es eine Art unantastbare Zusammengehörigkeit (union sacrée), es herrschte große Einigkeit darüber, dass wir handeln müssen. Aber danach fing es in den Nuancen vieler Themen an, schwierig zu werden. Und das, obwohl wir dachten, wir könnten etwas bewegen, aber nein, wir waren wieder in parteiinterne Auseinandersetzungen geraten“ (Übersetzung d. Verf.).
 
36
Der Staatsrat ist, ähnlich wie in Frankreich, das oberste Verwaltungsgericht in Belgien. Er nimmt zum einen eine Beratungsfunktion der Regierung in Rechtsfragen ein und kann zum anderen von der Abgeordnetenkammer (vom Präsidenten der Abgeordnetenkammer) zur Einschätzung eines Gesetzentwurfs angefragt werden.
 
37
„An dem Tag, an dem ein Gesetzentwurf vorgelegt wurde, normalerweise am Freitag, weil wir uns freitags trafen, wollte die Mehrheit bereits darüber abstimmen. Aber wir, die in der Opposition waren, sagten: ‚Nein, zweite Lesung, Stellungnahme des Staatsrats.‘ Sie sagten uns: ‚Ihr verzögert den Prozess, es gibt schließlich einen Notfall.‘ Es gab viel Druck, auch medialen Druck. Wir waren ein bisschen die Bösen, die Laschen. Wir sagten jedes Mal, dass wir nichts verzögern wollen, dass auch wir Lösungen haben wollen und nächste Woche darüber abstimmen. Aber gebt uns eine Woche Zeit! Es war eine sehr komplizierte Zeit, ja“ (Übersetzung d. Verf.).
 
38
So zum Beispiel die Möglichkeit, bei Terrorverdacht Hausdurchsuchungen bei Tag und bei Nacht nach richterlichem Beschluss durchzuführen oder das Verbot anonymisierter Prepaid-SIM-Karten.
 
39
Zum Beispiel die Einführung des Ausnahmezustands.
 
40
So zum Beispiel für administrative Hausdurchsuchungen oder die Aufhebung des Berufsgeheimnisses.
 
41
„Alle waren sich einig, dass der Polizeigewahrsam verlängert werden sollte. Aber als wir die 72 Stunden vorschlugen, mein Gott, was für eine Tragödie…! Wir haben es nie geschafft, es durchzukriegen. Im Konsens haben wir uns auf 48 Stunden geeinigt, und zwar nicht nur für terroristische Straftaten, sondern für alle. Das bedurfte jedoch stundenlanger Diskussionen, es dauerte Monate. Es war ein Pyrrhussieg und letztlich auch kein wirklicher Sieg, denn die Forderung der Regierung lautete 72 Stunden“ (Übersetzung d. Verf.).
 
42
Da in Belgien der föderalen Ebene die Kompetenz im Bereich der inneren Sicherheit (Strafverfolgung sowie polizeiliche Gefahrenabwehr) zukommt, analysiere ich im Folgenden die politisch-institutionellen Besonderheiten auf dieser Ebene und gehe nicht weiter auf die Gliedstaatebene der Gemeinschaften und Regionen ein. Der belgische Föderalstaat ist gemeinhin zuständig für die Bereiche innere und äußere Sicherheit, gesamtstaatliche Außenpolitik, nationale Verteidigung und Föderalpolizei, Justizwesen, bürgerliches Recht, Sozial- und Rentenversicherung, Staatsverschuldung, nationale Finanzen sowie Verwaltung öffentlicher Unternehmen (wie z. B. der belgischen Bahn) (zur Kompetenzaufteilung im belgischen Föderalstaat vgl. Berge/Grasse 2003: 133 f.; Gillessen 2016: 58; Hecking 2003: 21; Krumm 2015: 269 f.).
 
43
Seit 2006 gibt es in Belgien vier Sicherheitsstufen, die durch das OCAM entweder für das gesamte Land oder für eine Region verkündet werden können. Stufe 1 bedeutet, dass es keine Anzeichen auf Bedrohungen gibt (niedriges Risiko), Stufe 2 geht von einer geringen Anschlagswahrscheinlichkeit aus (mittleres Risiko), Stufe 3 geht davon aus, dass Anschläge möglich sind (hohes Risiko), Stufe 4 geht von einer „ernsten und unmittelbaren Bedrohung“ aus (sehr ernst zu nehmendes Risiko). Wird für eine Region diese Sicherheitsstufe ausgesprochen, können Ausgangssperren eingeleitet, Großveranstaltungen abgesagt und alle Orte, an denen es zu größeren Menschenansammlungen kommen kann, geschlossen werden (vgl. Centre de Crise 2018).
 
44
Der 12-Punkte-Plan sah vor, die Ausreise zu terroristischen Zwecken als Straftatbestand einzuführen, den Entzug der belgischen Staatsbürgerschaft zu ermöglichen, verdächtigten Personen die Reisedokumente entziehen zu können, einen verbesserten Datenaustausch zwischen den Behörden zu gewährleisten, den Radikalisierungsplan von 2005 (Plan R) zu aktualisieren, Radikalisierungsprozessen in Gefängnissen entgegenzuwirken und die Analysekapazitäten der Geheimdienste zu stärken.
 
45
Ein königliches Dekret (arrêté royal) bezieht sich auf Akte, die auf die Initiative der föderalen Exekutive zurückzuführen sind, ein Gesetz hingegen bezieht sich auf Akte, die auf die Initiative des Parlaments zurückgehen.
 
46
Angegeben sind neben dem Datum der Gesetzesverabschiedung jeweils die zu den Gesetzestexten gehörenden digital einsehbaren Suchnummern (NUMAC-Nummer).
 
47
Hierbei handelt es sich um ein Gremium, in dem sich unterschiedliche örtliche Akteure (Bürgermeister, Polizeichefs, Sozialarbeiter) regelmäßig austauschen sollen, ferner sollte auch der Austausch mit Religionsvertretern verstärkt werden (vgl. Kellner 2017: 10).
 
48
Der 18-Punkte-Plan sah unter anderem vor: Verstärkung der Polizeikontrollen an den Grenzen, Einsatz von Militär im Landesinneren, Einsatz neuer Kontroll- und Überwachungstechnologien für die Nachrichtendienste, Ausweitung des Polizeigewahrsams auf 72 Stunden (anstelle 24 Stunden), Hausdurchsuchungen bei Tag und Nacht nach richterlichem Beschluss, Freiheitsentzug bei Rückkehr ausländischer Kämpfer nach Belgien, elektronische Fußfessel für Personen, die als „Gefährder“ registriert werden, Implementierung des europäischen Systems elektronischer Fluggastdatenspeicherung PNR (Passenger Name Record), Verbot von Kultstätten mit islamistischer Ausrichtung, Ende der Anonymität bei Prepaid-Karten, Umsetzung des „Plan Molenbeek“: Prävention und Repression (umbenannt in Kanalplan), Erweiterung des Netzwerks von Kameras, Sperrung islamistischer Websites, Überprüfung einer möglichen Einführung des Ausnahmezustands in Belgien.
 
49
Der Verdacht beruht in der Regel auf Hinweisen von Angehörigen, die die Ausreise eines Familienmitglieds für terroristische Zwecke verhindern wollen.
 
50
Der Kanalplan ergänzt den 2005 ausgearbeiteten Nationalen Aktionsplan gegen Radikalisierung (Plan R).
 
51
Rechtsnormen werden im belgischen Staatsblatt (moniteur belge) und auf der Website https://​www.​ejustice.​just.​fgov.​be veröffentlicht, um rechtsverbindlich zu werden. Hierauf habe ich beim Zusammentragen der in der Analysezeitspanne meiner Arbeit verabschiedeten Gesetze zurückgegriffen.
 
52
Darunter elf Textdokumente im Jahr 2015, 24 im Jahr 2016 und drei im Jahr 2017.
 
53
„Wir kennen den wachsenden Fanatismus schon länger. Dies ist ein bekanntes Phänomen und gleichzeitig die größte Herausforderung für unsere Demokratie“ (Übersetzung d. Verf.).
 
54
„Diese Angriffe, die Europa ins Herz getroffen haben, kommen zu vielen anderen hinzu: der auf das Jüdische Museum in Brüssel, Charlie Hebdo, Verviers oder weiter der auf den Thalys Brüssel–Paris“ (Übersetzung d. Verf.).
 
55
„Terrorismus kennt keine Grenzen, folgt keiner Logik und kennt keine Gnade. In den letzten Monaten haben Attentäter wahllos in Paris, Tunis, Bamako, Beirut und vielen anderen Orten zugeschlagen. Wir alle trauern. Zu viele unschuldige Menschen haben ihre Freiheit mit ihrem Leben bezahlt, eine sinnlose und inakzeptable Sache. Wir sind schockiert und müssen reagieren“ (Übersetzung d. Verf.).
 
56
„Jedes verlorene Leben ist eine Tragödie. Was soll man dann sagen, wenn so viele von ihnen zerstört sind? (Übersetzung d. Verf.).
 
57
„Niemand kann behaupten, das Leid, das Sie ertragen, vollständig zu verstehen. Sie, die Sie einen geliebten Menschen verloren haben, und Sie, die Sie die Nachwirkungen der Terroranschläge in Ihrem Körper und Geist tragen, wir möchten Ihnen in Ihrem Kummer zuhören und Ihr Leid respektieren“ (Übersetzung d. Verf.).
 
58
„Angesichts der blinden Gewalt, die Teil einer Logik ist, die über uns hinausgeht, ist es eine Angelegenheit aller Menschen guten Willens, den Dialog, die Verständigung und die Zusammenarbeit entschlossen zu fördern, um die Weichen für eine brüderlichere, geeinte und menschlichere Welt zu stellen. Ohne das hätte das, was wir hier an diesem Ort der Demokratie tun, keinen Sinn“ (Übersetzung d. Verf.).
 
59
„Ich möchte Ihnen sagen, dass ich in diesem Moment der Tragödie, in diesem dunklen Moment für unser Land, mehr denn je alle auffordern möchte, Ruhe, aber auch Solidarität zu zeigen: Wir stehen vor einer Prüfung, einer schwierigen Prüfung, und wir müssen uns dem Leid stellen, indem wir vereint sind, indem wir solidarisch sind, indem wir geeint sind“ (Übersetzung d. Verf.).
 
60
„Ich möchte mit Ihnen eine Überzeugung teilen: Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen, unsere Gesellschaft menschlicher und gerechter zu gestalten. Lernen wir wieder, einander zuzuhören, einander zu respektieren und unsere Schwächen zu korrigieren. Und vor allem, wagen wir Zärtlichkeit“ (Übersetzung d. Verf.).
 
61
„In diesem Parlament teilen wir nicht alle die gleichen ideologischen, politischen oder philosophischen Überzeugungen, aber wir repräsentieren die Vielfalt unserer Bevölkerung. Lasst uns mehr denn je unsere Differenzen überwinden und vereint sein. Lasst uns vereint sein!“ (Übersetzung d. Verf.).
 
62
„Wir wollen keine nach innen gerichtete, misstrauische Gesellschaft. Um dem Risiko des Identitätsentzugs entgegenzuwirken, müssen wir uns unermüdlich für eine Gesellschaft einsetzen, in der jeder Einzelne respektiert wird und den anderen respektiert“ (Übersetzung d. Verf.).
 
63
„Wir stehen einem äußeren und inneren Feind gegenüber. Angesichts der Radikalisierung in den Vorstädten haben wir keine Lektionen zu erteilen. Einzelpersonen bereiten Operationen aus dem Ausland vor, wir können keinesfalls auf ein Land verweisen“ (Übersetzung d. Verf.).
 
64
„Diese Angriffe wurden in Paris verübt, in Syrien entschieden und von französisch-belgischen Zellen durchgeführt“ (Übersetzung d. Verf.).
 
65
„Ehrlich gesagt bin ich vom französischen Modell nicht sehr begeistert, weil ich finde, dass es viel zu weit geht. Der Begriff der administrativen Hausdurchsuchung ist zum Beispiel ein Modell, das mich nicht überzeugt. Ich hoffe, dass die Regierung in der Lage sein wird, die seit Ende letzten Jahres geleistete Arbeit fortzusetzen, das heißt zu versuchen, das richtige Maß zu finden, wie wir unseren Rechts- und Regulierungsrahmen anpassen können, wenn es sich für nötig erweist, damit das Recht auf Sicherheit in einer Zeit, in der wir mit neuartigen Bedrohungen konfrontiert sind, mit der Garantie für uns wichtiger Grundrechte und persönlicher Freiheiten gewährleistet bleibt“ (Übersetzung d. Verf.).
 
66
„Und es gibt viele weitere konkrete, ergänzende Maßnahmen, die ergriffen werden, um das Sicherheitsniveau zu erhöhen. Aber lassen Sie uns bitte nicht in Psychose, in Angst verfallen. Das ist die Falle, die uns die Terroristen gestellt haben. Ja, Null-Risiko gibt es nicht, das stimmt, aber wir sind wachsam und arbeiten“ (Übersetzung d. Verf.).
 
67
„Ich möchte kein Projekt, bei dem unsere Bürger mit Angst im Bauch leben. Wir müssen ‚ein normales Leben finden‘ im Bewusstsein, dass es keinen ‚Zauberstab‘ gibt und ‚es eine langfristige Aufgabe sein wird‘“ (Übersetzung d. Verf.).
 
68
Der Vergleich zwischen SS- und IS-Rückkehrern hinkt, da Belgien deutlich mehr Staatsbürger zählte, die für das Deutsche Reich gekämpft hatten (ca. 18 000), als Personen, die sich dem Islamischen Staat angeschlossen haben (ca. 5000). Diese zahlenmäßige Nuancierung bringt der Minister an späterer Stelle jedoch auch selbst hervor.
 
69
„Wir müssen Menschen, die Untaten begangen haben, hart bestrafen, aber nicht so hart wie diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bestraft wurden, weil das Wunden in unserer Gesellschaft hinterlassen hat, die wir noch heute spüren. All dies muss daher auf faire Weise geschehen“ (Übersetzung d. Verf.).
 
Metadaten
Titel
Länderanalyse Belgien
verfasst von
Sophie Hegemann
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41437-5_5

Premium Partner