19.1 Einführung
19.2 Herausforderungen und Chancen aus der Perspektive Lernender
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Die Heterogenität von Zielgruppen und die Affinität zu virtuellen Lerngegenständen: Eine erste Herausforderung für die betriebliche Weiterbildung mit Digitalen Zwillingen ergibt sich hinsichtlich der unterschiedlichen Zielgruppen und deren unterschiedlicher Affinität für digitale Lernumgebungen. Während davon ausgegangen werden kann, dass die Affinität beispielsweise bei Maschinenbedienern und Instandhaltern nicht durchweg gegeben ist, lässt sich vermuten, dass insbesondere bei Programmierern eine hohe Affinität gegeben ist. So wird in unseren ersten Interviews betont, dass „auch viele Mitarbeiter jetzt nicht tagtäglich mit den modernsten IT-Themen in Berührung kommen. Und damit vielleicht eine gewisse Hemmschwelle oder einfach aufgrund dieses Unbekanntheitsgrades von AR/VR vielleicht zunächst mal eine gewisse Zurückhaltung besteht“ (Interview MRiLS_2, Z. 947–951). So würde gerade die Gruppe der Maschinenbediener „eigentlich an der realen Maschine arbeiten“ (Interview MRiLS_4, Z. 548) wollen. Dieser Aspekt macht darauf aufmerksam, dass Lernende mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Vorerfahrungen und möglicherweise auch Lernwiderständen in entsprechende Schulungen kommen werden. Gerade bei Gruppen mit geringer Affinität bedarf es sowohl einer sensiblen Einführung in digitale Lehr-Lernformate als auch einer plausiblen Begründung für das digitale Format, sodass sich der Mehrwert für die Lernenden erschließen lässt.
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Spielerisches authentisches Erproben und die Reflexion der Ernstsituation: Das bereits genannte Potenzial, gefahrlos die Bedienung einer Maschine zu erproben, bringt auch eine große Herausforderung mit sich. So kann es sein, dass die spielerische Erprobung am Digitalen Zwilling, bei der man beispielsweise auch gezielt das „Crashen“ der Maschine herbeiführen kann, dazu führt, dass die Gefahrensituationen im Umgang mit der realen Maschine unterschätzt werden. Die Interviewpartner betonen diesbezüglich, dass es auch wichtig sei, den lernenden Schulungsteilnehmenden bewusst zu machen „dass das jetzt vielleicht doch eine Simulation“ (Interview MRiLS_2, Z. 603) sei, um auch die Differenz zwischen Virtualität und Realität zu markieren. Aus erwachsenenpädagogischer Sicht bedarf es dazu einer sensiblen Reflexionsperspektive für die Lernenden, um sowohl spielerische Lernerfahrungen zu ermöglichen als auch reale Gefahrensituationen verantwortungsvoll zu reflektieren.
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Intuitive Bedienung und Eingewöhnung: Aus der empirischen Forschung im Umgang mit virtuellen Lernsituationen ist bekannt, dass insbesondere die Usability von entscheidender Bedeutung für die Einschätzung von Lernerfahrungen ist (vgl. [16]). Im Umgang mit Wearables wie AR- und VR-Brillen kann allerdings nicht per se von einer intuitiven Nutzung ausgegangen werden, da entsprechende Technologien im Alltag noch recht wenig präsent sind. Daher wird auch in den Interviews davon gesprochen, „dass es eine ungewohnte Umgebung ist, gerade wenn Leute das erste Mal eine VR Brille aufhaben“ (Interview MRiLS_1, Z. 133 f.). Insofern „muss man sich auch erstmal mit den Medien auseinandersetzen“ (Interview MRiLS_1, Z. 147 f.), was „eine gewisse Eingewöhnungszeit hat, um sich auf diese Lehrinhalte zu konzentrieren“ (Interview MRiLS_2, Z. 352 f.) und „um diesen Neuheitsgrad zu heilen“ (Interview MRiLS_2, Z. 350). Vor diesem Hintergrund muss in entsprechenden virtuellen Lernumgebungen auch eine gewisse Eingewöhnungsphase didaktisch berücksichtigt und geplant werden, beispielsweise indem Teilnehmende durch kurze Übungen im Umgang mit dem jeweiligen Endgerät für dessen Bedienung sensibilisiert werden.
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Immersion und Übertragung: Das Potenzial virtueller Lernumgebungen wird immer wieder auch hinsichtlich der Möglichkeit, „Immersion“ (vgl. z. B. [17, 18]) zu erzeugen, dargestellt. Immersion ist „the subjective impression that one is participating in a comprehensive, realistic experience“ ([17], S. 736). Das bedeutet, dass Lernende die virtuellen oder augmentierten Aspekte der Lernumgebung letztlich als real anerkennen müssen. Dies stellt einen hohen Anforderungsbedarf an die Gestaltung der virtuellen Umgebung dar. So müssen entsprechende Bedienfelder so real als möglich dargestellt werden, was beispielweise auch die Farbgebung der Simulation betrifft. So sollten Schalter, Hebel und andere Interaktionsmöglichkeiten die gleiche Farbe wie bei der realen Maschine erhalten. Dadurch kann der Prozess des Lerntransfers zwischen virtueller Lernumgebung und realer Maschine erhöht werden. Gleichzeitig geht mit dem Prinzip der Immersion auch die Herausforderung einher, möglichst schnell und einfach wieder aus der virtuellen Welt austreten zu können, um mögliche Auswirkungen wie beispielsweise „Motion Sickness“ (Interview MRiLS_10, Z. 405) zu verhindern. In einem der Interviews wird in diesem Zuge beschrieben „dass man da dann plötzlich durch die unterschiedlichen visuellen Wahrnehmungen mit Übelkeit zu kämpfen hat“ (Interview MRiLS_10, Z. 405 f.) und die Wichtigkeit hervorgehoben, „dass man quasi nicht die Brille vom Kopf reißen muss, wenn man raus will, sondern dass man einfach durch ein Kommando sofort quasi die Szene abschaltet und man rauskommt“ (Interview MRiLS_10, Z. 400–402). Aus erwachsenenpädagogischer Perspektive bedeutet das, dass es durchaus sinnvoll wäre, den Übergang von Realität und Virtualität didaktisch zu inszenieren und explizit zu thematisieren.
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Komplexität der Interaktion mit anderen Lernenden: Die Idee im MRiLS-Projekt besteht auch darin, dass mehrere Lernende sich mit unterschiedlichen Endgeräten in der gleichen Lernumgebung bewegen. Dies stellt wiederum Herausforderungen an die Gestaltung der Interaktionsmöglichkeiten der Lernenden dar, wie auch in den Interviews mehrfach hervorgehoben wird. So stellt sich hier die Frage, wie die anderen Teilnehmenden jeweils wahrgenommen werden, welche Bedeutung entsprechenden Avataren zukommt oder noch etwas pauschaler, wie ein „Ich“ in der virtuellen Welt für die anderen erkennbar dargestellt wird. Daran anknüpfend stellt sich dann die Frage, in welchen Formen (Chat, Sprache, Gestik) die Lernenden untereinander Kontakt aufnehmen können, um beispielsweise an einer gemeinsamen Aufgabe in der virtuellen Lernumgebung zu arbeiten. Gerade da unterschiedliche Endgeräte im Einsatz sein werden, die selbst verschiedene Interaktionsmöglichkeiten aufweisen, ist die Herstellung der Interaktion mit anderen Lernenden als durchaus komplex und vielschichtig zu bezeichnen. Gleichzeitig stellt aber gerade diese Interaktion eine weitere Möglichkeit dar, virtuelle Lernprozesse zu bereichern und dem Lernen an der realen Maschine so nah wie möglich zu kommen.
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Kommunikation mit Lehrenden: Der Kommunikationsaspekt betrifft jedoch nicht nur die Kommunikation der Lernenden untereinander, sondern auch die Kommunikation zwischen den Lernenden und den jeweiligen Schulungsleitungen. Auch hier stellt sich die Frage, welche Formate von Kommunikationsprozessen dazu beitragen können, dass sich Lernende selbstgesteuert in der virtuellen Umgebung aufhalten und in ihren jeweiligen Lernprozessen individualisiert durch die Schulungsleitungen begleitet werden können. So wird auch in den Interviews hervorgehoben, dass Dozierende weniger die Rolle des „Belehrende[n], der das Wissen ein-einschickt, wie im Nürnberger Trichter“ (Interview MRiLS_3, Z. 789–793) übernehmen, sondern vielmehr den Lernprozess begleiten würden. Hier könnte man beispielsweise überlegen, inwiefern informelle Anleitungsgespräche (wie zum Beispiel „Tür-und-Angel-Gespräche“) als Kommunikationsform in die Lernumgebung integriert werden können. Als weitere Möglichkeiten können über vorbereitete Erklärvideos der Schulungsleitungen, Live-Beratungen oder auch den Einsatz von Avataren als Lernbegleitung nachgedacht werden.
19.3 Herausforderungen aus Sicht von Schulungsleitungen
19.4 Didaktische Prinzipien der Erwachsenenbildung als Reflexionsmöglichkeit zum Umgang mit Herausforderungen
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Teilnehmer- und Biografieorientierung: Teilnehmerorientierung ist sicherlich eines der traditionsreichsten didaktischen Prinzipien in der Disziplin der Erwachsenenbildung (vgl. [24]). Letztlich geht es bei diesem Prinzip darum, dass Lehr- und Lernprozesse ausgehend von den Teilnehmenden gedacht, auf sie zugeschnitten und mit ihnen ausgehandelt werden sollten. Das bedeutet, dass die Teilnehmenden bereits in der Planung von Lernarrangements „mitgedacht“ werden und diese Beteiligungsmöglichkeiten in den konkreten Lehr- und Lernsituationen enthalten sein sollten. Das Prinzip der Biografieorientierung ist eng mit der Teilnehmerorientierung verknüpft. Konkret wird damit darauf verwiesen, die (Berufs)Biografie der Teilnehmenden ernst zu nehmen, ihr Vorwissen zu reflektieren und aktiv in die Lehr-Lernsituation einzubinden. Dabei stellt sich die Frage, wie Teilnehmer- und Biografieorientierung nun in virtuellen Lernumgebungen mit Digitalen Zwillingen aussehen kann: Für die Antizipation der Lernumgebungen würde dies bedeuten, sich konkret in die jeweiligen Zielgruppen der Maschinenbediener, Instandhalter oder der Programmierer hinein zu versetzen, um danach zu fragen, über welches Vorwissen die jeweilige Zielgruppe verfügt und welche Interessen diese Zielgruppen mit dem jeweiligen Lerngegenstand konkret verbindet. Gerade im Kontext der Eingewöhnungsphase in virtuelle Lernumgebungen und bei Gruppen mit niedriger Affinität für virtuelle Lernmöglichkeiten kann Biografieorientierung eine Chance darstellen, zunächst gemeinsam mit den Lernenden zu reflektieren, welche Erfahrungen sie mit virtuellen Kontexten in ihrer Biografie bereits gemacht haben. Insgesamt spielen also die Erfahrungen in der individuell-biografischen Lebensgeschichte eine wichtige Rolle, insbesondere wenn es um Aspekte der Akzeptanz oder Hemmschwelle in Bezug auf den virtuellen Lerngegenstand geht.
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Partizipations- und Interaktionsorientierung: Mit einer Partizipationsorientierung wird darauf aufmerksam gemacht, dass sich Teilnehmende in der Gestaltung der Lehr-Lernprozesse aktiv einbringen können, was auf mehrere Arten realisiert werden kann. Dies kann beispielsweise über den Grad der Mitsprache und Mitentscheidung im Lehr-Lernprozess erfolgen, was gleichsam eine Transparenz seitens der Lehrenden in Bezug auf die Lehrorganisation, die Inhalte und Methoden erforderlich macht (vgl. z. B. [25]). Auch geht es darum, Interaktionsmöglichkeiten und -räume für kommunikative Prozesse zu gestalten, um die Teilnehmenden aktiv in das Lehr-Lerngeschehen einbeziehen zu können und eine lernförderliche Atmosphäre zu schaffen. Besonders im Kontext virtueller Schulungen ist dies von essentieller Bedeutung, um trotz der Distanz und Unmittelbarkeit eine Lernumgebung zu schaffen, in der die Teilnehmenden nicht nur Rezipierende sind, sondern zur Partizipation aufgefordert werden. Entsprechend kommt bei der Gestaltung von Lehr-Lernsettings mit Erwachsenen auch das Prinzip der Interaktionsorientierung zur Geltung, nach dem die Kommunikation und der Austausch zwischen Teilnehmenden gefördert und ermöglicht werden sollte. Gerade im Kontext von virtuellen Schulungen spielt die komplexe und freie Interaktion an unterschiedlichen Endgeräten eine wichtige Rolle, um Lernprozesse beziehungsweise gemeinsame Handlungen im virtuellen Raum sicht- und erfahrbar zu machen. Ein gemeinsames Lernen, also mit- und voneinander lernen ist nur dann möglich, wenn Interaktionen im virtuellen Raum möglichst flexibel und niedrigschwellig gestaltet und angeboten werden. Eine gemeinsame Interaktion ermöglicht letztlich auch sogenannte „Perspektivenwechsel“, die aus einer konstruktivistischen didaktischen Perspektive (vgl. [26]) relevant erscheinen, da Lernprozesse gerade dann ermöglicht werden, wenn es gelingt, dass die Lernenden Perspektiven wechseln und Aspekte aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten können. In virtuellen Schulungen ist dies in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen bedeutet es, dass in der virtuellen Umgebung Lernende auf die „Sicht“ der anderen Teilnehmenden oder der Schulungsleitung umschalten können sollten, um so im wörtlichen Sinne deren Perspektive zu übernehmen. Zum anderen kann es für die Lernenden sehr vorteilhaft sein, die Sichtweise (z. B. erfahrener) Mitlernenden einzunehmen, um auf den Lerngegenstand Maschine mit einer bislang unbekannten Perspektive blicken zu können und so den Wissens- und Erfahrungshorizont zu erweitern.
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Erfahrungs- und Reflexionsorientierung: Im Sinne erfahrungsorientiert gestalteter Lehr-Lernumgebungen soll das Erfahrungswissen der Teilnehmenden bewusst, geplant und explizit einbezogen werden. So sammeln die verschiedenen Zielgruppen der Instandhalter, Bediener und Programmierer viele unterschiedliche Erfahrungen im Prozess der Arbeit, wobei eine Dokumentation dieser Erfahrungen in der Regel nicht oder kaum stattfindet. Daher kann es für die Lernenden sinnvoll und lernförderlich sein, im Rahmen von virtuellen Schulungen die individuellen Erfahrungen auszutauschen und zu reflektieren. Daran schließt auch das didaktische Prinzip der Reflexionsorientierung an, mit dem davon ausgegangen wird, dass Reflexion zu vertieften Lernprozessen führen kann. Beispielsweise kann ein Rückblick in die eigene (Lern-)Biographie der kritischen Reflexion von Lernerfahrungen und dem Aufdecken von Kompetenzen dienen (vgl. z. B. [27]). Es geht darum, einen Raum zu schaffen, in dem praktische Erfahrungen zusammen mit fachlicher Expertise und Lernberatung seitens der Lehrenden auf einer Metaebene überdacht, reflektiert und beraten werden. Gerade im alltäglichen Betrieb an der Maschine stehen Fachkräfte häufig vor komplexen Herausforderungen, die im Rahmen von Schulungen zur Sprache gebracht werden können, um verschiedene Lösungswege aufzuzeigen und gemeinsam zu reflektieren.