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Erschienen in: Forschung im Ingenieurwesen 2/2023

Open Access 08.05.2023 | Originalarbeiten/Originals

Nutzung von KI-Methoden für die Kupplungsentwicklung in automobilen Antriebssträngen

verfasst von: S. Altenburg, F. Schuchter, K. Bause, A. Albers

Erschienen in: Forschung im Ingenieurwesen | Ausgabe 2/2023

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Zusammenfassung

Im Spannungsfeld steigender Erwartungen an Fahrkomfort und Energieeffizienz stoßen aktuelle Entwicklungsmethoden der Modellbildung und Optimierung für Fahrzeugkupplungen an ihre Grenzen. In diesem Beitrag wird der Einsatz von KI-Methoden für die Kupplungsentwicklung untersucht und ein Überblick anhand verschiedener Anwendungsbeispiele in aktuellen Forschungsprojekten der Mercedes-Benz AG gegeben. Mittels überwachten Lernens und tiefen neuronalen Netzen werden ein Reibungszahlmodell sowie ein Temperaturmodell einer Kupplung mit hoher Abbildungsgüte entwickelt. Verstärkendes Lernen mit tiefen neuronalen Netzen wird zur Synthese von Regelungen für verschiedene Gangwechsel eingesetzt. Fahrzeugmessdaten werden mit Cluster-Algorithmen analysiert, um Handlungsempfehlungen für die Applikation des Motorwiederstarts eines hybriden Antriebsstrangs abzuleiten. Mit den gezeigten Methoden steigt das Automatisierungspotential in der Entwicklung und der Aufwand für die Übernahme komplexer Entwicklungsprozesse auf neue Getriebevarianten sinkt.
Hinweise
Die Autoren S. Altenburg und F. Schuchter haben zu gleichen Teilen zum Manuskript beigetragen.

1 Herausforderungen in der Kupplungsentwicklung moderner PKW-Antriebe

Die Erwartungen von Kunden und Anwendenden von PKWs an Fahrkomfort und Energieeffizienz bei hoher Fahrdynamik steigen stetig. Hieraus resultieren auch steigende Anforderungen an Kupplungen in modernen Automatikgetrieben, welche als mechatronischer Steller hauptverantwortlich für komfortrelevante Funktionen wie das Anfahren oder den Gangwechsel sind. Darüber hinaus führt die Hybridisierung von Antriebssystemen zu einer steigenden Komplexität der Fahrzeuggetriebe und stellt die Entwickler vor verschiedene Herausforderungen.
Diese mechatronische Komplexität resultiert in komplexen Steuerungs- und Regelungsalgorithmen, sowie aufwendigen Adaptionen der Applikationsparameter über die Lebensdauer. Für die Ansteuerung des Getriebes werden Sensoren benötigt, die unter anderem Hydraulikdrücke, Drehzahlen oder Temperaturen messen. Aufgrund von Bauraum- und Kostenanforderungen werden Sensorersatzmodelle verwendet, die die gewünschten Sensorgrößen modellieren. Die Modellierung ist jedoch komplex, da sie von vielen Einflussgrößen abhängig sind. Selbst sehr erfahrene Entwicklungsingenieure können die Vielzahl an Einflussgrößen sowie komplexe mechanische Zusammenhänge, gepaart mit Software- und Steuerungseinflüssen, nicht mehr übersehen [1]. Trotzdem müssen Entwicklungskosten und -zeiten geringgehalten werden, um auf Veränderungen im Markt schnell reagieren zu können.
In diesem Spannungsfeld stoßen aktuelle Entwicklungsmethoden der Modellbildung und Optimierung für Fahrzeugkupplungen an ihre Grenzen. Es bedarf neuer Methoden, um mit diesen Herausforderungen umzugehen. Mit Methoden der künstlichen Intelligenz wurden in Anwendungen wie Sprach- und Bilderkennung in den letzten Jahren bahnbrechende Ergebnisse erzielt. Beispielsweise erkennen datenbasierte medizinische Diagnosesysteme Brustkrebs früher und besser als Ärzte mit jahrelanger Erfahrung [2]. Auch in strategischen Spielen wie dem koreanischen Brettspiel Go wurden die besten menschlichen Spieler der Welt mehrfach durch selbstlernende KI geschlagen [3]. Deshalb soll deren Einsatz in der Entwicklung von Kupplungen betrachtet werden.

2 Anwendungen künstlicher Intelligenz für PKW-Kupplungen und Bremsen

Aus den genannten Gründen haben Methoden der künstlichen Intelligenz in viele Bereiche der Automobilentwicklung Einzug gehalten, auch in die Entwicklung von Friktionssystemen:
Künstliche Neuronale Netze (KNN) werden zur Vorhersage des Reibwertes verschiedener Materialien bei Fading [4] und des Verschleißes für allgemeine Friktionssysteme [5], Bremsen [6] und Kupplungen [7] eingesetzt. Weiterhin existieren Vorhersagemodelle für schadensrelevante Maximaltemperaturen [8] und allgemeine Temperaturverläufe nasslaufender Kupplungen [9].
Unter Verwendung physikalischer Module entwickeln unter anderem [10, 11] ein hybrides KNN zur Modellierung von Reibmomenten nasslaufender Kupplungen für Simulationen.
Für Analysen von Friktionssystemen präsentieren [12] eine KI-basierte Parametereinflussanalyse der Reibungszahl trockenlaufender Reibpaarungen mit KNN, [13] untersuchen den Einfluss von Reibungszahlgradienten auf den Anfahrkomfort und [14] verwenden clusterbasierte Klassifizierungen von Motorstarts, um bei der Entwicklung hybrider Trennkupplungen zu unterstützen.
Für die Regelung von Kupplungen verwenden [15] ein KNN zur Vorhersage von Einlege- und Auslegezeiten für Trennkupplung mit elektronischer Betätigung. Mittels bestärkendem Lernen (RL) entwickelt [16] einen aktiven Anpresskraft-Regler zur Unterdrückung von Kupplungsrupfen. Für Schaltvorgänge präsentiert [17] einen Ansatz zum Erlernen einer Gangwechselsteuerung mittels RL und [18] eine vollständige Steuerung, welche allerdings nur in Simulationen getestet wird. In vorherigen Beiträgen wurden mittels tiefen bestärkendem Lernen (Deep Reinforcement Learning (DRL)) Regler für Kupplungszuschaltungen erlernt [19], welche im IPEK-X-in-the-Loop-Framework an Getriebeprüfständen und im Fahrzeug getestet wurden [20].

3 Grundlagen künstlicher Intelligenz

3.1 Überwachtes Lernen

Überwachtes Lernen hat das Ziel für eine Trainingsmenge mit N Beispielen von Eingabe/Ausgabe-Paaren \((x1{,}y1){,}(x2{,}y2){,}\ldots {,}(xN{,}yN)\) in der jedes yj durch eine unbekannte Funktion \(y=f(x)\) generiert wurde, eine Funktion h zu entdecken, die die wahre Funktion f annähert [21]. Für diese Aufgabe existieren verschiedene Methoden wie z. B. Regressionen oder KNN. Letztere werden nachfolgend erläutert [22].
KNN sind der Struktur des menschlichen Gehirns nachempfunden. Sie bestehen aus einzelnen Neuronen, die über Kanten mit Gewichten miteinander verbunden sind. Sind die Neuronen nur mit den Neuronen der nächsten Schicht verbunden, so spricht man von einem feedforward Netz. Im Gegensatz dazu sind beim rekurrenten KNN (RNN) Neuronen einer Schicht auch mit den Neuronen derselben oder vorherigen Schicht verbunden. Dadurch lassen sich vergangene Zeitschritte zur Berechnung des aktuellen Outputs nutzen und somit dynamische Prozesse abzubilden. Die Sequenzlänge beschreibt die Anzahl dieser vergangenen Zeitschritte. In dieser Anwendung werden ‚long-short-term-memory‘-Neuronen (LSTM) verwendet, welche vergangene Eingänge in internen Zuständen ablegen kann und somit ähnlich zu einem Kurzzeitgedächtnis die Erinnerung an frühere Zeitschritte ermöglicht [23]. Beim überwachten Lernen wird ein KNN so trainiert, dass es Eingabedaten auf Ausgabedaten abbildet. Das KNN beginnt das Training mit zufälligen Parametern welche während des Trainings regelmäßig aktualisiert werden. Der Fehler zwischen den Netzwerkausgaben und den Ausgabedaten wird verglichen und mit Hilfe eines Backpropagation-Ansatzes dann auf die Parameter zurückgerechnet. Diese werden so angepasst, dass der Fehler minimiert wird [21].
Neben der Netzarchitektur sind weitere Hyperparameter unter anderem die Epochenanzahl (Anzahl der Trainingszyklen) und die Stapelgröße (Anzahl der Proben für einen Trainingsschritt). Die Optimierung dieser Parameter wird auf einem sogenannten Validierungsdatensatz durchgeführt, welcher unabhängig vom Trainingsdatensatz ist. Im Gegenzug dazu beschreibt der Begriff Validierung in der Produktentwicklung die Prüfung, ob ein Produkt für seinen geplanten Einsatzzweck geeignet ist [24]. Somit ist ein gutes Ergebnis auf dem Validierungsdatensatz nicht als Validierung des Produkts zu verstehen.

3.2 Nicht-überwachtes Lernen

Das Ziel von Cluster-Verfahren ist es, „Daten (semi-automatisch so in Kategorien, Klassen oder Gruppen (Cluster)) einzuteilen, dass Objekte im gleichen Cluster möglichst ähnlich und Objekte aus verschiedenen Clustern möglichst unähnlich zueinander sind“ [25]. Cluster-Verfahren können in partitionierende, dichtebasierte und hierarchische Verfahren eingeordnet werden. Dichtebasierte Verfahren identifizieren Cluster im n-dimensionalen Raum aus Objekten, die dicht beieinanderliegen, getrennt durch Gebiete, in denen die Objekte weniger dicht liegen. Ein Beispiel für ein dichtebasiertes Verfahren ist der DBSCAN-Algorithmus, der in dieser Arbeit genutzt wird.
Der DBSCAN Cluster-Algorithmus wurde bereits 1996 vorgestellt und ist ein dichtebasierter Clusteralgorithmus [26]. Das von DBSCAN eingeführte Modell verwendet eine einfache Schätzung des minimalen Dichteniveaus basierend auf Grenzwerten für die Anzahl der Nachbarn minPts innerhalb des Radius ε. Objekte mit mehr als minPts Nachbarn innerhalb dieses Radius (einschließlich des Abfragepunkts) werden einem Cluster zugeordnet. Das Ziel von DBSCAN besteht darin, die Bereiche zu finden, die diese Mindestdichte erfüllen und die durch Bereiche geringerer Dichte getrennt sind. Aus Effizienzgründen schätzt DBSCAN die Dichte zwischen Punkten nicht. Stattdessen werden alle Nachbarn innerhalb des ε‑Radius eines Kernpunkts als Teil desselben Clusters wie der Kernpunkt betrachtet. Wenn einer dieser Nachbarn wieder ein Kernpunkt ist, werden ihre Nachbarschaften transitiv eingeschlossen. Nicht-Kernpunkte in diesem Satz werden Grenzpunkte genannt, und alle Punkte innerhalb desselben Clusters sind dicht verbunden. Punkte, von denen die Dichte nicht erreicht werden kann, werden als Rauschen betrachtet und gehören keinem Cluster an [27].

3.3 Bestärkendes Lernen

Mittels RL lässt sich eine Regelstrategie für sequentielle Entscheidungsprobleme erlernen. Im Unterschied zu den vorherigen Verfahren sind dafür keine vorgegebenen Daten nötig [3], der sogenannte Agent kann sich diese selbständig durch Interaktion mit einer Umgebung erzeugen, siehe Abb. 1.
Hierbei wählt der Agent auf Basis eines Zustands st eine Aktion at. Die Umgebung reagiert darauf mit einer Transition in einen neuen Zustand \(s_{t+1}\) und gibt dem Agenten eine Belohnung rt zurück. Der Agent verarbeitet die sofortige Belohnung, um eine Bewertung seiner Aktionen über eine komplette Regelepisode der Länge H oder einen gewissen Zeitraum eines unendlichen Regelproblems (\(H=\infty\)) zu erhalten [28]:
$$R={\sum }_{t}^{H}\gamma ^{t}r_{t}$$
(1)
Hierbei werden zukünftige Belohnungen mit dem Faktor \(\gamma \in \left[0{,}1\right]\) weniger stark berücksichtigt. Durch die Optimierung der Regelstrategie auf komplette Episoden kann ein Agent lernen schlechte sofortige Belohnungen in Kauf zu nehmen, wenn diese langfristig zu einer guten Bewertung führen.
Bei modellfreien Agenten wird kein Modell der Umgebung gelernt. Der Agent weiß also nicht welcher Zustand \(s_{t+1}\) sich durch eine Aktion at in st ergibt, er lernt nur die erwartenden zukünftigen Belohnungen und versucht so zu handeln, dass diese maximiert werden [28].
Die Exploration der Umgebung und der zu erwartenden Belohnungen erfolgt anfangs durch zufallsbasierte Auswahl von Aktionen, später durch abwechselndes Ausnutzen bisherigen Wissens und zufälligen Aktionen. Einer ausdruckstarken Definition der Belohnungsfunktion kommt daher eine hohe Bedeutung zu: Der Agent sollte oft Belohnungen erhalten, um in der frühen Phase des Trainings schnell Lerndaten zu sammeln.
Die Wissensspeicherung kann bei einfachen Problemen mit niedrigdimensionalen Zuständen und Aktionen in einer Tabelle erfolgen, im Falle von hochdimensionalen oder kontinuierlichen Zuständen und Aktionen mittels KNN (tiefes bestärkendem Lernen) [21].
Das Training von DRL-Agenten ist im Allgemeinen sehr datenintensiv und erfordert hohe Rechenleistung. Daher werden DRL-Trainings meistens mit einer simulativen Umgebung durchgeführt und gute Agenten auf das zu regelnde System übertragen [29]. Hierfür ist eine hohe Simulationsgüte sowie erweiterte Methoden zum Erzeugen robuster Agenten notwendig, um auch auf dem Zielsystem das gleiche Regelungsverhalten zu erzielen.

4 Anwendungen aus aktuellen Forschungsprojekten der Mercedes-Benz AG

4.1 Temperaturmodell mit überwachtem Lernen

Temperaturmodelle nasslaufender Kupplungen werden in der Getriebesoftware genutzt, um den Kühlölvolumenstrom der Kupplung zu bestimmen und den Kupplungsbelag bei kritischen Temperaturen zu schützen. Der Einsatz von Temperatursensoren ist aus Kosten- und Bauraumgründen nicht möglich. Eine genaue Bestimmung der Kupplungstemperatur ist aufgrund des nichtlinearen tribologischen Verhaltens im Reibsystem und turbulenten Strömungsverhalten des Kühlöls während des Schlupfvorgangs sehr komplex und aufwendig. Aktuell verwendete Modelle besitzen teilweise eine geringe Abbildungsgüte. In diesem Abschnitt wird die Entwicklung eines messdatenbasierten 1D-Temperaturmodells der Fahrkupplung K1 einer nasslaufenden Lamellen-Doppelkupplung mit RNN beschrieben. Die Kupplung enthält mehrere Stahl- und Belagslamellen mit einem Papierreibbelag. Die Messdaten wurden mit in den Stahllamellen verbauten Temperatursensoren in einem Versuchsfahrzeug im realen Fahrbetrieb aufgezeichnet. Die höchste Stahllamellentemperatur wird abgebildet.
Im ersten Schritt wird das Validierungsziel des Modells, die abzubildenden Lastfälle und Fahrmanöver, sowie ein Bewertungskriterium für die Modellgüte definiert. Abgebildet werden Anfahrvorgänge bei Steigungen von 10–30 % sowie Mehrfachrückschaltungen wie z. B. eine Schaltung vom achten in den vierten Gang. Die Modelleingangsgrößen werden anhand des physikalischen Verständnisses abgeleitet und sind als BUS-Signale in den Messungen enthalten. Dies sind der Anpressdruck der Kupplung, die Differenzdrehzahl, der Kühlölvolumenstrom, die Ölsumpftemperatur und die Absolutdrehzahl der Kupplung. Die Gesamtdaten werden anschließend in einen Trainings- (70 %), Validierungs- (15 %) und einen Testdatensatz (15 %) aufgeteilt. In der Messdatenaufbereitung werden die Datensätze auf fehlende Werte und Ausreißer geprüft, die zeitliche Auflösung angepasst und die Daten skaliert. In einem iterativen Zyklus wird das RNN mit Trainingsdaten trainiert, nach jeder Trainingsepoche mit dem Validierungsdatensatz geprüft und eine Vielzahl an Hyperparametern wie Netzwerkarchitektur und Länge der Historie für die Vorhersage optimiert. Unter Anwendung von Erklärbarkeitsansätzen wird der Einfluss der verschiedenen Eingangsgrößen transparent gemacht, bewertet und bei Bedarf werden die Eingangsgrößen angepasst. Abschließend wird das optimierte Modell auf den Testdatensatz angewendet und dessen Abbildungsgüte bewertet. Werden die Zielkriterien nicht erfüllt, wird das Vorgehen wiederholt und z. B. die Trainingsdaten oder die Modelleingangsgrößen angepasst. Insgesamt ermöglicht das Vorgehen eine fast automatisierte Temperaturmodellerstellung.
Abb. 2 zeigt die Ergebnisse des RNN und des bisher verwendeten physikalischen Modells bei der Anwendung auf einen Teil des Testdatensatzes. Über den gesamten Testdatensatz ist der RMSE des RNN 23 % geringer als der des physikalischen Modells.
Das Vorgehen wird analog auf die Trennkupplung K0 und die Fahrkupplung K1 im konventionellen Antrieb angewendet. Auch hier kann der RMSE um 39 % (Kupplung K0) und 32 % (K1 konventionell) reduziert werden.
Wie in diesem Abschnitt gezeigt, kann mit Hilfe messdatenbasierter RNN Modelle mit einer höheren Abbildungsgüte als physikalische Modelle erzeugt werden. In den nächsten Schritten des Entwicklungsprojekts werden die trainierten Modelle auf einem Seriensteuergerät integriert und deren Funktionalität im Fahrzeug nachgewiesen.

4.2 Reibungzahlmodell mit überwachtem Lernen

Neben dem Ersetzen von Sensoren ist das Modellieren von nicht direkt messbaren Größen ein weiterer Anwendungsfall für überwachtes maschinelles Lernen. In diesem Abschnitt wird ein Reibungszahlmodell für Schaltelemente (SE) in einem Automatikgetriebe auf Basis von KNN vorgestellt. Da bei dieser Art von Getrieben ein zugkraftunterbrechungsfreier Gangwechsel erzielt werden soll, ist eine genaue Steuerung und Regelung der Kupplungsmomente wichtig [30]. Das Moment einer Kupplung
$$M_{K}=pAzr_{m}\mu$$
(2)
hängt neben der Fläche einer Kupplungsscheibe A, dem mittleren Reibradius rm, der Anzahl der Reibflächen z von dem angesteuerten Druck p und der Reibungszahl μ ab [31]. Diese ist wiederum ein im Allgemeinen nichtlineares Funktional einer Vielzahl an Einflussparametern der Werkstoffe und des Systems [32]:
$$\mu =f(\text{Zeit}{,}\text{ Temperatur}{,}\text{ Druck}{,}\text{ {\"O}lvolumenstrom}{,}\text{ Lamellen}-{,}\text{ {\"O}lalterung}{,}\text{ Differenzdrehzahl}{,}\text{ Absolutdrehzahl}{,}\ldots )$$
(3)
Physikalische Modelle zur Erfassung des Verhaltens sind meistens kompliziert und daher ungenau oder langsam [33]. In Getriebesteuergeräten erfolgt daher die Speicherung parametrischer Modelle in tabellarischer Form mit nur wenigen wichtigen Abhängigkeiten und nur ausreichend Stützstellen, um den grundlegenden Verlauf abzubilden. Für die Erstellung des Reibungszahlmodells werden sowohl Kupplungszuschaltungen mit konstantem Druck als auch mit geregelten Druckverläufen auf Gesamtgetriebeprüfständen mit Drehmomentmesstechnik gemessen. Anhand von Drehzahl- und Drehmomentmesssignalen, Rotationsträgheiten sowie der Gl. 2 lässt sich die aktuelle Reibungszahl berechnen.
Auf Basis einer Sensitivitätsanalyse werden die relevanten Eingangsgrößen Öltemperatur, Ölvolumenstrom, SE-Druck, Differenzdrehzahl und Schaltfortschritt gewählt. Soll ein Modell für mehrere SE verwendet werden, empfiehlt sich die Kodierung der SE-Nummer mit einem one-hot Verfahren [34], um eine Information über unterschiedliche Friktionssysteme beizugeben. In einem preprocessing Schritt werden nicht vollständig durchgeführte Schaltungen entfernt, die Daten skaliert und in Trainings‑, Test- und Validierungsdatensätze aufgeteilt. In Abb. 3a und Abb. 3b ist der mittlere absolute Fehler MEA bzw. dessen Verbesserung gegenüber dem Kennfeld MAEKennfeldMAENN des Validierungsdatensatzes in Abhängigkeit des Parameterverhältnisses nNNnKennfeld jeweils für ein SE sowie für alle SE aufgetragen. Obwohl bei Anwendung auf alle SE die zu erlernende Funktion komplizierter ist, kann das KNN gemeinsame Gesetzmäßigkeiten zwischen den SE finden und somit bei gleichem Parameterverhältnis eine weitere Verbesserung gegenüber dem KNN für ein SE erreichen. Aus Abb. 3b ist ersichtlich, dass bereits sehr kleine KNN um den Faktor 3 genauer sind als das Kennfeld. Abb. 3c und Abb. 3d zeigen Verläufe der Reibungszahl über den Schaltfortschritt beim Schließen einer Kupplung während einer Zughochschaltung. Im Gegensatz zu dem Reibungszahlkennfeld ist das KNN in der Lage auch komplizierte hydrodynamische Phänomene bei hohen Ölvolumenströmen abzubilden und zeigt im Allgemeinen eine höhere Genauigkeit im Vergleich zum Kennfeld.

4.3 Messdatenanalyse mit Cluster-Algorithmen für den hybriden Motorzustart

Wie bereits in der Einleitung beschreiben, können selbst sehr erfahrene Entwicklungsingenieure die Vielzahl an Einflussgrößen sowie komplexe mechanische Zusammenhänge, gepaart mit Software- und Steuerungseinflüssen, nicht mehr übersehen. Es bedarf deshalb einer Methode, dem Entwickler in seiner Problemanalyse zu unterstützen. Anhand von Datenanalysen mit nicht-überwachten Lernverfahren, können Muster und Klassen aus großen Datenmengen automatisiert und skalierbar identifiziert und daraus datenbasierte Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Der Motorzustart eines hybriden Antriebstrangs mit Doppelkupplungsgetriebe bietet aufgrund des Zustarts über die Trennkupplung K0 für den Entwickler mit Erfahrung in konventionellen Antrieben einen hohen Neuheitsgrad. Im hier gezeigten Beispiel werden Motorstartklassen aus Messdaten von Entwicklungsfahrzeugen identifiziert und anhand von Kennwerten charakterisiert.
Im ersten Schritt werden Analysefragestellungen bestimmt: Gibt es Korrelationen von Kennzahlen in den Daten? Gibt es Zustart-Klassen, die durch die Daten belegt werden können? Was sind spezifische Werte für die jeweiligen Zustart-Klassen? Welche Optimierungspotentiale und Empfehlungen können für die Entwicklung abgeleitet werden?
Die relevanten Getriebe-Signale des Motorzustarts wie Drehzahlen, Drehmomente, Hydraulikdrücke und Ventilströme werden spezifiziert und auf fehlende Daten oder Ausreißer geprüft. Eine Ereigniserkennung identifiziert die Motorzustarts anhand eines Signals und extrahiert insgesamt 278 Motorstarts aus den Messungen. Relevante Kennzahlen wie minimale und maximale Signalwerte während des Zustarts, sowie Gradienten werden auf Basis vorheriger Definitionen berechnet. Anhand einer Korrelationsanalyse werden Abhängigkeiten zwischen den Kennzahlen ermittelt. Mithilfe des Cluster-Algorithmus DBSCAN werden aus den Dimensionen Fahrzeuggeschwindigkeit, Fahrpedal und Zustartzeit vier Motorzustartklassen identifiziert (vgl. Abb. 4).
Anschließend werden die einzelnen Kennwerte der Motorstarts in einem Dashboard visualisiert. Können die Analysefragestellungen beantwortet werden, so ist die Analyse abgeschlossen (vgl. Abb. 5). Bei Nicht-Beantwortung wird der Prozess erneut durchlaufen und neue Erkenntnisse fließen wieder in den Prozess mit ein.
Aufgrund ihrer Eigenschaften, die im Dashboard graphisch dargestellt sind, erfolgt die Benennung der Motorzustartklassen: v‑max Zustarts, aggressive Zustarts, v‑min Zustarts und langsame Zustarts. Eine Analyse der Messungen der langsamen Zustarts zeigt, dass beim Motorzustart die Drehzahl des Verbrennungsmotors nicht direkt auf Zieldrehzahl gebracht wird, sondern etwa 100 ms gehalten wird. Dies stellt sich als Optimierungspotential des Entwicklungsstands heraus. Anhand der gezeigten Methode können Fahrzeugmessdaten automatisiert ausgewertet und für den Entwickler graphisch aufbereitet dargestellt werden. Damit wurde im beschriebenen Anwendungsfall ein Optimierungspotential aufgezeigt.

4.4 Gangwechselregler-Entwicklung mit bestärkendem Lernen

Ziel einer DRL-basierten Regelung ist die Automatisierung der Entwicklung und Vereinfachung des Regelsystems (siehe Abb. 6) bei gleichzeitiger Erhöhung der Schaltqualität. Hierbei soll die Vorsteuerung und die untergeordnete Regelung für das zuschaltende SE sowie die Modelle zur Berechnung der Ventilströme in einem KNN zusammengefasst werden.
Hierfür wird ein KNN mit dem modellfreien Algorithmus SAC [35] in einer vereinfachten Getriebesimulation für eine Zughochschaltung von Gang 1 nach Gang 2 trainiert. In einem iterativen Verfahren werden die Dynamikparameter der Simulation mittels CMAES [36], einer evolutionären Strategie angepasst, um den RMSE-Fehler zwischen Drehzahl‑, Druck- und Stromverläufen von Prüfstandsmessungen und Simulationen gleicher Ansteuerungen zu minimieren. Der Agent erhält als Zustand der Umgebung einen Vektor aus aktueller Zeit, Relativdrehzahl, Schaltfortschritt, Stromhistorie beider SE, sowie eine Information über den aktuellen Füllstand des zuschaltenden SE-Kolbens. Auf Basis dieser Werte errechnet der Agent in jedem Zeitschritt den Soll-Ventilstrom für die elektrohydraulisch betätigten SE sowie das gewünschte Motormoment.
Zur Bewertung der Aktionen werden die Haupteinflussparameter auf die Schaltqualität (Schaltungsdauer, Verlauf und Gradient des Getriebeabtriebsmoments, Überhöhung der Motordrehzahl) in jedem Zeitschritt berechnet und an den Agenten zurückgegeben. In vorherigen Veröffentlichung wurde im Detail gezeigt, wie man DRL-basierte Regelungen für den Einschaltvorgang (ESV) durch Training in Simulation verwenden kann [19]. Für eine weitere Erhöhung der Schaltqualität und der Robustheit des Trainings wird diese Regelung hier mit einer Ansteuerung für die Füllung kombiniert, welche mittels CMAES optimiert wird. Versuche in einem IPEK-XiL-Framework [20] zeigen, dass mit dieser Methode für den ESV eine Erhöhung der Schaltqualität und für Zughochschaltungen gleich gute Ergebnisse erzielt werden, wie konventionell entwickelte Gangwechselregler, siehe Abb. 7.

5 Zusammenfassung und Ausblick

Die in diesem Beitrag gezeigten Methoden haben großes Potenzial, bei der Entwicklung von Kupplungen in automobilen Antriebsträgen zu unterstützen. Bei entsprechender Weiterentwicklung der Steuergeräte und gesetzlichen Normen zum Einsatz von KI können diese einen für den Kunden erlebbaren Vorteil in Serienfahrzeugen bringen. Die Methoden können jedoch bereits jetzt gewinnbringend in der Entwicklung eingesetzt werden: Ein KNN zur Vorhersage der Differenz zwischen gemessenen und kennfeldbasierten Reibungszahlen liefert ein robustes Model zur Verbesserung der Simulationsgenauigkeit der Trainingsumgebung des DRL-Anwendungsfall. Ebenso ist auch das Clustering Verfahren in seiner jetzigen Implementierung bereits ein wichtiges Entwicklungswerkzeug. Wie bei allen Anwendungsfällen der datengetriebenen Entwicklung ist auf die Erfassung, Auswertung und Aufbereitung qualitativ hochwertiger Daten besonderes Augenmerk zu legen.

Danksagung

Die Autoren danken Franz Gross bei der Mitarbeit des Reibungszahlmodells.

Förderung

Diese Forschung wurde durch die Mercedes-Benz AG finanziert.
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Metadaten
Titel
Nutzung von KI-Methoden für die Kupplungsentwicklung in automobilen Antriebssträngen
verfasst von
S. Altenburg
F. Schuchter
K. Bause
A. Albers
Publikationsdatum
08.05.2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forschung im Ingenieurwesen / Ausgabe 2/2023
Print ISSN: 0015-7899
Elektronische ISSN: 1434-0860
DOI
https://doi.org/10.1007/s10010-023-00665-8

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