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2024 | Buch

Rücktritte von politischen Ämtern

Perspektiven auf das Ende von politischen Karrieren

herausgegeben von: Manuel Becker, Volker Kronenberg, Christopher Prinz

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Über dieses Buch

Politikwissenschaftliche und zeitgeschichtliche Untersuchungen zu den Karrieren deutscher Spitzenpolitiker*innen beschäftigten sich bislang vor allem mit deren Aufstieg und weniger mit dem Ende von politischen Laufbahnen. Aus welchen Gründen treten Politiker*innen aus dem Amt zurück? Was sind die Hintergründe, Motive und Konsequenzen einer solchen Entscheidung? Müssen Rücktritte zwingend Resultat eines Scheiterns sein oder kann es auch „erfolgreiche“ Rücktritte geben? In diesem Band werden theoretische Grundlagen der Rücktrittsforschung aus rechtlicher und politikwissenschaftlicher Perspektive erarbeitet, Rücktrittskulturen in unterschiedlichen Ländern vergleichend untersucht sowie verschiedene Fallbeispiele in ihren spezifischen Einzelfallbedingungen unter die Lupe genommen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einführung
Zusammenfassung
Nicht nur „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“: Wer Hermann Hesse auf seinen „Stufen“ weiter folgt, wird feststellen, dass auch das Ende uns „vielleicht (…) noch (…) neuen Räumen jung entgegen senden“ mag. Und ebenso wie die „Todesstunde“ als letzter Lebensstufe, die bei Hesse dieses (vielleicht nur vorläufige) Ende markiert, findet auch jeder Anfang, jeder Aufstieg in der Politik irgendwann sein Ende – gleich wie eindrucksvoll, kometenhaft und faszinierend die vorangegangene Laufbahn auch gewesen sein mag. Wer antritt, wird irgendwann einmal abtreten. Es ist nur eine Frage der Zeit. Dies galt bereits für politische Herrschaft in feudal und monarchistisch geprägten Zeiten. Für republikanisch und demokratisch begründete Herrschaft gilt es umso mehr, besteht doch eines der unverhandelbaren Grundprinzipien demokratischen Regierens eben darin, dass Macht nur auf Zeit vergeben wird. Wer über Macht verfügt, der wird sie irgendwann auch wieder verlieren. Nur wenige Ausnahmen, etwa die Richterinnen und Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten bestätigen diese Regel.
Manuel Becker, Volker Kronenberg, Christopher Prinz

Theoretische Grundlagen des Rücktritts

Frontmatter
Amtsethos und Amtswürde
Zusammenfassung
Amtsethos und Amtswürde sind keine Rechtsbegriffe. Sie sind aber als metarechtliche Heuristik geeignet, die hinter der Idee der Amtlichkeit und dem darauf gründenden geltenden Recht stehenden Strukturerwartungen deutlich sowie beobachtbar zu machen. Amtlichkeit gründet auf Verwaltungsorganisation, die öffentliche Ämter und damit amtliches Handeln von den Personen abstrahiert, die diese Ämter aktuell wahrnehmen. Subjektive Eigeninteressen und objektive Gemeinwohlbelange werden getrennt. Der Rücktritt von einem Amt ist keine spezifische Rechtsform. Öffentliche Ämter gründen auf öffentlicher Übertragung und können grundsätzlich nicht einseitig beendet werden. Der Rücktritt ist aber eine politische Dramaturgie, die Amtsethos und seine Konsequenzen sichtbar macht. Insoweit verdeutlichen Rücktritte demokratische Verantwortlichkeit und Legitimationsabhängigkeit von Herrschaft, inszenieren also praktisches Verfassungsleben und übersetzen formales Recht in politische Kommunikation.
Klaus Ferdinand Gärditz
Politische Rücktritte im Recht
Zusammenfassung
Politische Rücktritte, verstanden als die einseitige Loslösung von hohen politischen Staatsämtern vor Ablauf der regulären Amtszeit, haben neben einer politischen stets auch eine verfassungsrechtliche Dimension. Diese betrifft neben der Frage nach der prinzipiellen Zulässigkeit entsprechender Rücktritte vor allem diejenige nach dem konkreten Rücktrittsverfahren und den rechtlichen Rücktrittsfolgen. Der Blick in das Grundgesetz hilft insoweit allerdings kaum weiter, da sich darin für keines der hohen Staatsämter eine explizite Rücktrittsregelung findet, obwohl den Verfassungsvätern und -müttern selbstverständlich bewusst war, dass es zu solchen Vorgängen kommen könnte. Der Beitrag will diese Fragen daher durch die Entwicklung allgemeiner verfassungsrechtlicher Rücktrittsgrundsätze beantworten, die anschließend auf die einzelnen hohen Staatsämter, namentlich Bundespräsident, Bundeskanzlerin, Bundesministerinnen und -minister sowie Bundestagsabgeordnete, angewandt werden. Rücktritte sind danach bei all diesen Ämtern im Grundsatz zulässig, zur Sicherstellung der Kontinuität der Staatsleitung bestehen jedoch amtsspezifische Einschränkungen eines völlig freien Rücktrittsrechts. Auch die Rücktrittsverfahren und Rechtsfolgen sind jeweils unterschiedlich ausgestaltet. Ob es in einer konkreten Situation tatsächlich zu einem (zulässigen) Rücktritt kommt ist allerdings auch eine Frage der im politischen Raum vorherrschenden politischen Rücktrittskultur. Die verfassungsrechtliche Möglichkeit des Rücktritts führt mithin nicht dazu, dass ein solcher auch stets stattfindet, wo man ihn erwarten würde – eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Rücktritt besteht auch in vermeintlich eindeutigen Fällen nicht.
Alexander Thiele
Mediale Reaktionsmuster und Inszenierungen von Rücktritten
Zusammenfassung
Sofern es sich nicht um einen geplanten Rückzug aus dem Amt handelt, erfolgen Rücktritte von Politikerinnen und Politikern meist aufgrund von Skandalen. Die Enthüllung solcher Normverletzungen liegt bei den Medien. Öffentlicher Druck auf Skandalisierte nimmt zu, wenn sich in der Folge von Veröffentlichungen Empörung über das Fehlverhalten aufbaut. Dem durch Skandalisierungsprozesse drohenden Reputationsverlust versuchen die Skandalisierten durch Imagemanagement zu begegnen. Nicht zuletzt mit der Ausbreitung der sozialen Netzwerke, die die mediale Umgebung verändert haben und politische Akteure unter Dauerbeobachtung stellen, ist die Reaktion auf die mit der Aufdeckung von Normverletzungen unterbreiteten Empörungsangebote eine Herausforderung, für die es im Einzelfall kein sicheres Rezept gibt. Die Entscheidung für Rücktritt oder Nicht-Rücktritt gehört zu diesem Imagemanagement, ist aber auch abhängig von der Haltung des politischen Umfeldes. Dass Politikerinnen mit öffentlichen Vorwürfen anders umgehen als ihre männlichen Kollegen, ist erwartbar als Folge eines allgemeinen Medienbias sowie im Netz verbreiteter sexistischer Angriffe, denen Frauen in der Politik ausgesetzt sind.
Christina Holtz-Bacha
Rücktrittsreden in der politischen Kommunikation als Instrument des Reputations- und Krisenmanagements
Zusammenfassung
Rücktrittsreden in der politischen Kommunikation dienen nicht nur der Deklaration der Demission, sondern lassen sich gezielt als Instrumente des Reputations- und Krisenmanagements einsetzen. Der Beitrag empfiehlt die Differenzierung des Einsatzes von Rücktrittsreden im Normalmodus und im Krisenmodus der Politik. Im Normalmodus dienen Rücktrittsreden der Darlegung oder Verschleierung persönlicher oder politischer Rücktrittsgründe; im Krisenmodus ermöglichen sie die Distanzierung von den Krisenverantwortlichen bzw. dem Krisenmanagement, die Krisenbegrenzung oder die Krisenlösung. Rücktrittsreden werden vor einem Präsenzpublikum vorgetragen, richten sich aber auch an die Medien, die Partei und andere institutionelle Partner, die Bevölkerung und ausländische Beobachter. Die Mehrfachadressierung und die Normal- oder Krisenmodi beeinflussen Struktur und Inhalt von Rücktrittsreden. Vor allem bei der Begründung des Rücktritts, der öffentlichen Entschuldigung und Schuldzuweisungen werden aus Perspektive des Reputations- und Krisenmanagements Fehler in der politischen Kommunikation gemacht. Die Inszenierung von Rücktrittsreden ist darauf ausgerichtet, in einem neutral-positiven Rahmen die Weichen für die Zukunft zu stellen: Im politischen Normalmodus sollen die Leistungen im öffentlichen Bewusstsein verankert werden und im Krisenmodus die Voraussetzungen für die Wiederherstellung des guten Rufs geschaffen werden. Mit dem Verzicht auf Rücktrittsreden durch Publikation von Rücktrittserklärungen vergeben Politikerinnen und Politiker die Chance, eine souveräne Abschiedsvorstellung zu inszenieren, die ihnen in schwierigen Zeiten Respekt einbringt und den Weg für den Reputationsaufbau in der Zukunft ebnet.
Steffen Burkhardt
Aktualisierung von Verantwortung durch Rücktritt?
Zusammenfassung
Der Zusammenhang zwischen politischer Verantwortung und Rücktritt von einem Regierungsamt ist in Deutschland im Zeitalter des monarchischen Konstitutionalismus durch die Stellung der Minister als Garanten der Verfassung angelegt gewesen. Im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland tritt das Element des medial hergestellten politischen Vertrauens hinzu. Damit hat sich die Stellung der Regierungsmitglieder zu Exponenten politischer Richtungen erweitern und verändern können. Für das Ausscheiden aus der Regierung können zwei aktive, selbst gewählte Formen von zwei außeninduzierten, passiven Zurechnungen unterschieden werden: bekenntnishafte Übernahme und externe Anlastung von Geschehnissen steht für die letztgenannte, Resignation aufgrund der Ablehnung einer missbilligten Entscheidung oder fanalhafter Appell für die erstere. Bei reflektierter und differenzierter Verwendung des mehrstelligen, an einen Aufgaben- bzw. Zuständigkeitsbereich gebundenen Verantwortungsbegriffs erweist sich dieser zur Erfassung sämtlicher Varianten empirisch anzutreffender Amtsniederlegungen als zu eng. Das Vertrauen in Potenziale und Intentionen von Regierungsmitgliedern ist notwendigerweise einzubeziehen. Dazu werden aus den Regierungen aller bislang amtierender Kanzler ausgewählte, chronologisch (1949–1989) und kategorial (1990–2022) geordnete Fälle von Gustav Heinemann (CDU, 1950) bis Christine Lambrecht (SPD, 2023) knapp dargestellt und ausgewertet.
Jürgen Plöhn
Warum treten Personen aus politischen Ämtern zurück? Versuch einer Typologisierung
Zusammenfassung
Bereits der Begriff des Rücktritts wirft definitorische Fragen auf. Ausgehend von der begrifflichen Schärfung, dass in dem Fall sinnvoll von Rücktritten zu sprechen ist, wenn eine Person aus einem (partei-)politischen Amt vor Ende der Amtszeit dieses Amt aktiv niederlegt oder abgibt – gleich aus welchen Gründen, wird ein orientierender Überblick über den bisherigen Forschungsstand zu Rücktrittsgründen gegeben. Auf dieser sowie auf der Grundlage von 97 Einzelfällen seit der Wiedervereinigung wird ein neuer Vorschlag zur Typologisierung von Rücktrittsgründen erarbeitet, für den die prinzipielle Unterscheidung zwischen konsensualen und konfliktuösen Rücktritten eine Rolle spielt. Zu beiden Kategorien lassen sich zwei Untertypen bilden, denen bis auf zwei Ausnahmefälle alle weiteren 95 Rücktritte zugeordnet werden können. Im Anschluss an die Typologie erfolgt eine Reflexion, inwiefern die Begriffe „erfolgreich“ und „nicht erfolgreich“ sinnvolle Erkenntnisse für Rücktrittsanalysen liefern können.
Manuel Becker

Rücktrittskulturen im Vergleich

Frontmatter
Rücktritte in der in der politischen Kultur der „Bonner Republik“ 1949–1990
Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die Frage, ob und inwiefern die Rücktritte in der Bonner Republik vor der Wiedervereinigung deren politische Kultur widerspiegeln. Hierzu werden die vorzeitigen Amtsbeendigungen auf Bundesebene in den Blick genommen: Die Rücktritte, Entlassungen und Nicht-Wiederberufungen in den Bundeskabinetten von Adenauer I bis Kohl III sowie die Ämter des Bundestagspräsidenten und des Bundespräsidenten. Deutlich wird, dass es nicht sehr viele der sog. Push-Rücktritte gegeben hat, bei denen Minister wegen eines Fehlverhaltens zurücktreten (müssen) – die Art von Demission, die in der Öffentlichkeit weithin als „echter“ Rücktritt verstanden wird. Überdies sind die wahren Gründe für eine vorzeitige Amtsbeendigung kaum trennscharf zu ermitteln; die meisten geschehen aus einem Bündel von Ursachen, die in der Person, ihrer Amtsführung, der Statik der Regierung, den Bedürfnissen des jeweiligen Koalitionspartners sowie dem Rückhalt des Amtsinhabers in der Öffentlichkeit, den Medien, innerhalb der Partei, des Kabinetts oder beim Bundeskanzler begründet liegen. Im Umkehrschluss zeigt sich, dass die Minister, die eigentlich rücktrittsreif waren, aber im Amt blieben, dies in aller Regel konnten, weil andernfalls die Koalition aus der Balance geraten wäre. Auch wenn sich der Bonner Republik kaum eine einheitliche politische Kultur der Demission attestieren lässt, spiegeln die Ursachen und der Stil insbesondere der herausragenden Amtsbeendigungen eine kontinuierliche Entwicklung der gesellschaftlichen Verfasstheit und politischen Kultur wider.
Knut Bergmann
Rücktritte in der politischen Kultur der DDR
Zusammenfassung
Der Fokus der politischen Kulturforschung liegt meist bei demokratisch verfassten Staaten. Die Herausarbeitung einer DDR-spezifischen Rücktrittskultur erfolgt daher induktiv anhand von Fallbeispielen. In der nachfolgenden Analyse wird verdeutlicht, dass die öffentliche Meinung nur einen verschwindend geringen Beitrag zu Rücktrittsentscheidungen leistete. Zudem war das Interesse der Bevölkerung an einzelnen politischen Persönlichkeiten ohnehin schwach ausgeprägt. Eine lange Karriere innerhalb der Einheitspartei wurde viel mehr durch die Verbindung zur KPdSU-Führung und den Rückhalt innerhalb der SED ermöglicht. Nach einem Verlust dieser waren die Betroffenen dem innerparteilichen Machtkampf gnadenlos ausgesetzt und mussten früher oder später ihren Platz räumen. Anschließend wurde ihnen keinerlei Chance für eine politische Rehabilitierung geboten. Über den gesamten Prozess der Entlassung eines SED-Mitgliedes stand für die verbleibenden Genoss*innen die Erhaltung des Parteiimages der Unfehlbarkeit im Vordergrund.
Alina Kröber
Wechselwirkung mit der Bundespolitik: Rücktritte in der politischen Kultur des Landes Nordrhein-Westfalens
Zusammenfassung
Rücktritte aus politischen Spitzenpositionen sind ein fester Bestandteil der politischen Kultur Nordrhein-Westfalens: Alleine ein Drittel der bisherigen Amtsinhaber sind aus der Position des Ministerpräsidenten (Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Text das generische Maskulinum verwendet. Die in dieser Arbeit verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.) zurückgetreten. Auch auf Minister-Ebene kam es zu zahlreichen Rücktritten. Neben den klassischen (konsensualen sowie konfliktuösen) Gründen, zeigt sich jedoch auf Länder-Ebene ein besonderes Rücktrittsmotiv: der Aufstieg in bundespolitische Positionen. Diese Wechselwirkung ist beispielsweise für mehr als die Hälfte der Ministerpräsidenten-Rücktritte entscheidend. Dabei könnte es sich aber – durch Größe und politisches Gewicht des Bundeslandes sowie der Landesverbände der Parteien – um ein nordrhein-westfälische Besonderheit handeln. Ungeachtet dessen lässt sich auch feststellen, dass in zahlreichen Fällen der Rücktritt, trotz starker Motive, ausgesessen werden konnte, was mit einem – länderspezifisch – geringerem (öffentlichen) Druck als in der Bundespolitik erklärt werden könnte.
Moritz Küpper
Routine und Skandale: Ministerrücktritte in Großbritannien
Zusammenfassung
Die Facetten der britischen Rücktrittskultur umfassen die Ministerverantwortlichkeit, Kabinettsumbildungen, die Reaktionen auf Sex- und Finanzskandale, sowie die Konsequenzen politischer Meinungsverschiedenheit. Insgesamt bietet sich ein Bild relativer Volatilität bei der Wahrnehmung von Spitzenämtern. Wann ein Amtsinhaber/eine Amtsinhaberin gehen „muss“, wird im historischen Kontext eher pragmatisch entschieden. Dass dies möglich ist, ermöglicht das geringe Maß an Kodifikation der Rücktrittsgründe ebenso wie Einparteienregierungen. Wichtigster Rücktrittsmaßstab, neben dem jeweiligen Rücktrittsgrund, sind die Erfolgsaussichten der betroffenen Partei bei der nächsten Wahl.
Roland Sturm
„Die Schnauze halten oder zurücktreten“: Rücktritte im Spiegel der politischen Kultur Frankreichs
Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden Rücktritte von Politikerinnen und Politikern vor dem Hintergrund der politischen Kultur und der demokratischen Praxis Frankreichs untersucht. Nach einer Skizzierung des institutionellen Rahmens der Fünften Republik werden Rücktritte anhand von zwei Hauptkategorien behandelt: Zum einen als Folge von politischen Meinungsverschiedenheiten, die auf die Idee eines ehrenwerten oder sogar reinen Verhaltens der betroffenen Personen verweisen; zum anderen nach Skandalen unterschiedlicher Natur, oft gezwungen und mit einem Makel versehen, die insbesondere seit den 2010er-Jahren zum Bestreben geführt haben, durch den Gesetzgebungsapparat das öffentliche Leben zu moralisieren. Schließlich sind Rücktritte auch ein Hinweis auf das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Akteure und Institutionen ihres Staates, das in Frankreich geringer ist als in anderen europäischen Ländern.
Claire Demesmay
Rücktritte im amerikanischen Repräsentantenhaus und dem Supreme Court: Determiniert durch ideologische Grabenkämpfe?
Zusammenfassung
Rücktritte aus dem amerikanischen Repräsentantenhaus stellen seit einem halben Jahrhundert den Großteil der dortigen Fluktuation dar. Neben einer Vielzahl von Faktoren, die traditionell Rückzüge mitbestimmen, ist nunmehr die größere Relevanz nationaler politischer Trends ebenso von Bedeutung. Diese erschweren es Kongressabgeordneten eine eigenständige und unabhängige Reputation aufzubauen und binden ihre politische Zukunft an die Popularität der nationalen Partei. Im Obersten Gericht kann der Zeitpunkt von Rücktritten die ideologische Ausrichtung der Institution für Jahrzehnte prägen. Will ein scheidender Richter seine Rechtsphilosophie wahren, muss er den rechten Zeitpunkt für den Abtritt abpassen. In beiden Organen beeinflusst schlussendlich die wachsende Polarisierung des Landes auch die Entscheidung, von einem Amt zurückzutreten.
Philipp Adorf

Fallbeispiele

Frontmatter
Ein Rücktritt aus politischer Verantwortung. Der Fall Rudolf Seiters
Zusammenfassung
Im Folgenden soll der Rücktritt von Rudolf Seiters einer umfassenden Einzelfallanalyse unterzogen werden. Der Fall erscheint aus mindestens drei Gründen für eine genauere Analyse lohnenswert: Erstens steht er im Zusammenhang mit einem der dunkelsten und wichtigsten Kapitel deutscher Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Zweitens handelt es sich um einen der wenigen Fälle, in denen ein Politiker für einen Vorgang keine unmittelbare, wohl aber eine gesamtpolitische Verantwortung trug und darum die persönliche Konsequenz des Rücktritts zog. Drittens eröffnet der Fall ganz grundsätzlich faszinierende Perspektiven auf das Zusammenspiel von Staatsraison, Handlungsspielräumen und Grenzen von Amtspersonen sowie nicht zuletzt auf die Rolle der Medien in einer freiheitlichen Demokratie.
Manuel Becker
Eine Frage der Haltung: Der Rücktritt von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und ihr Kampf gegen den „Großen Lauschangriff“
Zusammenfassung
Der Rücktritt der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Dezember 1995 gehört ohne Frage zu den bekanntesten Rücktritten der Bundesrepublik, gerade vor dem Hintergrund seiner Gründe und Motive. Als Grund für den Rücktritt kann ausschließlich das Ergebnis des Mitgliederentscheids zum „Großen Lauschangriff“ genannt werden. Grundsätzlich war der Rücktritt zwar vermeidbar und nicht alternativlos, jedoch unterlag er einer gewissen Zwangsläufigkeit vor dem Hintergrund des Abstimmungsergebnisses. Der Beitrag schildert und analysiert diesen besonderen, weil freiwilligen und aus Überzeugung vollzogenen Rücktritt und nimmt dabei die Hintergründe und parteipolitischen Kontexte mit in den Blick.
Chris Rensing
„Recht zu haben – und allein damit zu sein“: Die Rücktritte des Oskar Lafontaine
Zusammenfassung
Am 11. März 1999 trat Oskar Lafontaine ohne jede öffentliche Erklärung nach nur 135 Tagen im Amt nicht nur als Bundesminister der Finanzen zurück: Er legte auch den Vorsitz der SPD, den er bereits seit 1995 innehatte, und sein Mandat im Deutschen Bundestag, das er gerade erst bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 errungen hatte, nieder. Während man mitunter noch Wochen später in der Bundesregierung und der SPD mindestens vorgab, darüber zu rätseln, was ihn zu diesem Schritt bewogen haben mochte, stellt sich der plötzliche Rückzug spätestens in der Rückschau keineswegs – wie seither immer wieder kolportiert wurde – als „übereilt“ oder „Flucht ergreifend“ dar. Es war auch nicht allein das Ergebnis einer rein persönlichen Konkurrenz mit Bundeskanzler Gerhard Schröder um die Frage, wer von ihnen fortan als „Nummer 1“ – der Partei- oder der sozialdemokratische Regierungschef – „den Ton angeben“ solle. Vielmehr war es die logische Entscheidung eines „Überzeugungstäters“, der mit seinem politikinhaltlich-programmatischen Ansatz einer eher nachfrageorientierten, re-regulativen Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nicht nur an den in diesen Fragen eher angebotsorientierten sog. „Modernisierern“ in seiner eigenen Partei um Schröder, sondern allem voran an der Dominanz eines politischen Paradigmas scheiterte, das die Ordnung des Denk- und Sagbaren in seiner Zeit bestimmte.
Christopher Prinz
Von der Kunst des Rücktritts zur rechten Zeit: Franziska Giffey
Zusammenfassung
Unter den zahlreichen zurückgetretenen Politikerinnen und Politikern der jüngeren deutschen Geschichte nimmt Franziska Giffey eine Sonderrolle ein. Nicht nur tritt sie innerhalb von weniger als zwei Jahren von zwei unterschiedlichen Spitzenämtern zurück. Sie vollbringt zudem das Kunststück, aus ihren Rücktritten nahezu unbeschadet hervorzugehen und der Spitzenpolitik auch weiterhin erhalten zu bleiben. Eine Analyse der Rahmenbedingungen ihrer Rücktritte zeigt, dass dafür nicht nur fallspezifische Umstände verantwortlich sind, sondern ebenso ihre geschickte Kommunikation und ihr gutes Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Giffey gelingt es, ihre Rücktritte als politischen „Reset“ zu nutzen und die an sie gerichteten Vorwürfe und Belastungen mit dem Amt zurückzulassen.
Jakob Horneber
„Das kann man nicht abschütteln. Aber man kann den Blick wieder nach vorne richten.“ – Die Ministerentlassungen von Rudolf Scharping (SPD) im Jahr 2002 und von Norbert Röttgen (CDU) im Jahr 2012 in vergleichender Perspektive
Zusammenfassung
Der Beitrag leistet eine vergleichende zeitgeschichtliche Analyse der Ministerentlassungen von Rudolf Scharping als Verteidigungsminister durch Bundeskanzler Gerhard Schröder im Juli 2002 und von Norbert Röttgen als Umweltminister durch Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai 2012. Er ordnet die Ministerentlassungen in den jeweiligen politisch-historischen Kontext ein, beschäftigt sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen von Ministerrücktritten im deutschen Verfassungsrecht, rekonstruiert die jeweiligen Abläufe und versucht auf dieser Basis Rückschlüsse zu den damit verbundenen jeweiligen Motiven und dem politischen Kalkül von Gerhard Schröder und Angela Merkel zu ziehen. Auf diese Weise versteht sich die Analyse auch als ein Beitrag zur Regierungspraxis und Beleuchtung des persönlichen politischen Stils dieser beiden deutschen Regierungschefs.
Ulrich Schlie
Metadaten
Titel
Rücktritte von politischen Ämtern
herausgegeben von
Manuel Becker
Volker Kronenberg
Christopher Prinz
Copyright-Jahr
2024
Electronic ISBN
978-3-658-43947-7
Print ISBN
978-3-658-43946-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43947-7

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