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Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 6/2023

Open Access 22.08.2023 | Schwerpunkt

Analyse der Rolle Künstlicher Intelligenz für eine menschenzentrierte Industrie 5.0

verfasst von: Dirk Schmalzried, Marco Hurst, Marcel Wentzien, Max Gräser

Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik | Ausgabe 6/2023

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Zusammenfassung

Die Künstliche Intelligenz ist eine bedeutende Technologie für Industrie 4.0. Sie trägt in vielen Bereichen zu Disruptionen bei. Die Nummerierung der „Industrie x.0“-Begriffe bezeichnete in der Vergangenheit disruptive Sprünge (sog. „Revolutionen“). Die aktuell für „Industrie 5.0“ vorgeschlagenen Kernelemente Menschenzentrierung, Resilienz und Nachhaltigkeit sind für sich genommen bereits im „Industrie‑4.0‑Kontext“ zentral und bezüglich ihrer Disruption diskutabel. Dieser Artikel erörtert, welche Rolle die Künstliche Intelligenz voraussichtlich in Industrie 5.0 spielen wird, insbesondere in Bezug auf das Kernelement „Menschenzentrierung“. Dazu wird der Stand der Technik zur Anwendung von künstlicher Intelligenz in Industrie 4.0 systematisiert und vorgestellt. Zu erwartende Veränderungen werden ausgehend von absehbar verfügbaren Technologien beschrieben. Die betrachteten Technologien sind Edge-AI, Metaversum, Robotik sowie erklärbare und vertrauenswürdige künstliche Intelligenz. Insgesamt kommen die Autoren zu dem Schluss, dass der Einfluss der künstlichen Intelligenz tatsächlich einen ganzen Nummernsprung rechtfertigen kann.

1 Aktuelle Situation und Ziele von Industrie 5.0

Zur fünften industriellen Revolution wurde formal durch die Veröffentlichung eines Dokumentes der Europäischen Kommission (Breque et al. 2021) mit dem Titel „Industry 5.0: Towards a Sustainable, Human-centric, and Resilient European Industry“ am 4. Januar 2021 aufgerufen. Die Vision für die Zukunft der europäischen Industrie unter dem Namen „Industrie 5.0“ ergänzt dabei das bestehende Konzept der „Industrie 4.0“, indem sie über die Ziele von Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen hinaus auch gesellschaftliche Ziele wie das Wohlergehen der Arbeitnehmer und die planetaren Grenzen im Sinne der Nachhaltigkeit respektiert und in den Mittelpunkt des Produktionsprozesses stellt.
Die Entwicklungszeit von der vierten zur fünften Industriellen Revolution betrug dabei lediglich zehn Jahre. Die ersten drei industriellen Revolutionen, von Ende des 18. Jahrhunderts bis um 1970, ereigneten sich hingegen in einem Zeitraum von etwa 200 Jahren (Lukač 2015). Im Jahr 2011 folgte durch eine Top-down-Initiative der deutschen Bundesregierung das Konzept der Industrie 4.0 (Xu et al. 2021). Die transformative Wirkung einer datengesteuerten, digitalen und hochgradig vernetzten Industrie wird als vierte industrielle Revolution bezeichnet. Der Fokus liegt dabei auf allgemeinen technologischen Fortschritten, welche in die industrielle Wertschöpfungskette einfließen und diese verändern (Breque et al. 2021).
Xu et al. (2021) führen als einen Hauptgrund für die Einführung des wertorientierten Konzepts der Industrie 5.0 an, dass der Fokus in den vergangenen Jahren der Umsetzung von Industrie 4.0 weniger auf den ursprünglichen Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit als vielmehr auf der Steigerung von Flexibilität und Effizienz der Produktionsprozesse durch die Digitalisierung der Produktion lag. Mit dem Konzept der Industrie 5.0 richtet die Europäische Kommission (Breque et al. 2021) den zukünftigen Fokus für die Industrie auf drei Kernelemente: Menschenzentrierung, Nachhaltigkeit und Resilienz. Diese Ziele sollen durch die Nutzung von Technologien wie Big Data und künstlicher Intelligenz (KI) erreicht werden, sodass z. B. die Wertschöpfungsketten robuster gegenüber Störungen werden, eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft ermöglicht wird und sich die Technologie zukünftig an die Bedürfnisse der Arbeitnehmer anpasst (Breque et al. 2021). Laut Xu et al. (2021) und Bendig et al. (2021) sind einige dieser Überlegungen, sowie prognostizierte Auswirkungen aufgrund gesellschaftlicher Bedürfnisse wie Nachhaltigkeit, Resilienz und Menschenzentrierung, bereits im technologiegetriebenen Konzept der Industrie 4.0 erkennbar. Hierbei stellt sich die Frage, ob die in diesem Artikel vorgestellten KI-basierten Technologien einen derart disruptiven Charakter besitzen, dass sie als fünfte industrielle Revolution bezeichnet werden sollten.
Die Europäische Kommission (Breque et al. 2021) sieht dies als gegeben und benennt neben der KI fünf weitere „Enabler“-Technologien für Industrie 5.0: Individualisierte Mensch-Maschine-Interaktion, bioinspirierte Technologien und intelligente Werkstoffe, Digitale Zwillinge und Simulationen, Datenübertragungs‑, Speicher- und Analysetechnologien sowie Technologien für erneuerbare Energien, Energieeffizienz, -speicherung und -autonomie. Vor allem aber durch Methoden der KI könne der Wandel gelingen. Methoden der „Explainable Artificial Intelligence“ werden dazu beitragen, Vertrauen in die Technologie zu schaffen.

2 Motivation

Der Stand der KI wird gegenwärtig intensiv diskutiert. So forderten am 22. März 2023 eine Reihe prominenter Unternehmer und Experten in einem offenen Brief an die KI-Forschung eine sechsmonatige Entwicklungspause für solche KIs, die mächtiger als das Sprachmodell GPT‑4 des US Unternehmens OpenAI sind. Sie soll der Gesellschaft die notwendige Zeit geben, sich an die Existenz dieser neuen Technologien zu gewöhnen, Regulatorien für deren sichere Entwicklung zu finden und den Fokus in der Forschung auf die Transparenz, die Interpretierbarkeit, die Sicherheit, die Vertrauenswürdigkeit, die Genauigkeit und die Robustheit der Systeme zu legen (Jones 2023). Bereits im Juni 2022 hat der ehemalige Google Mitarbeiter Lemoine ähnliche Gedanken zu Googles Chatbot LaMDA geäußert (Tiku 2022).
In diesem Kontext scheint eine Bestandsaufnahme des Einsatzes der KI in Industrie 4.0 und der absehbaren Möglichkeiten für Industrie 5.0 relevant. Denn heute konvergieren möglicherweise die zwei Betrachtungsweisen der generativen KI und spezifischen, KI-basierten Industrieanwendungen. Sehr domänenspezifische KI-basierte Industrie‑4.0‑Lösungen werden womöglich nicht nur verbessert, sondern sich im Zusammenspiel mit generativer KI autonom weiterentwickeln können. Die Programmierung eines Roboters wird erkennen können, dass es eine Ineffizienz gibt, und aufgrund dieser Erkenntnis eine KI fragen können, seine Programmierung zu verbessern. Im Resultat, also im Verhalten des Roboters, wird dies einer neuen industriellen Revolution gleichkommen.
Im Rahmen dieses Artikels werden mögliche Veränderungen ausgehend von ausgewählten verfügbaren Technologien vorgestellt und diskutiert. Insbesondere die Menschenzentrierung wurde bereits im Kontext der Society 5.0 in Verbindung mit Industrie 4.0 diskutiert (Nair et al. 2021, Pereira et al. 2020). Society 5.0 ist Teil eines 2015 von der japanischen Regierung initiierten Programms, welches das Ziel einer menschenzentrierten „super smart society“ verfolgt (Cabinet Office 2015). Die Menschenzentrierung stellt eine direkte Schnittstelle aus Society 5.0 und Industrie 5.0 dar (Huang et al. 2022). Aufgrund des anhaltenden Interesses bietet sich daher eine Bestandsaufnahme der KI für Menschenzentrierung im industriellen Umfeld für diesen Artikel an. Auch die ausführlichere Betrachtung gesellschaftlicher sowie ethischer Gesichtspunkte, welche bei der Auswahl von KI-Systemen in jedem Fall durchgeführt werden sollte, wird hier nicht weiter vertieft. Empfehlungen hierzu gibt unter anderem der Deutsche Ethikrat (2023). Hier soll es vor allem um die absehbaren technischen und prozessualen Implikationen gehen, die nicht minder wichtig sind.

3 KI-basierte Anwendungen für Industrie 5.0

KI-Methoden werden bereits heute in den verschiedensten Bereichen von Industrie 4.0 erfolgreich angewendet, KI ist folglich keine Industrie‑5.0‑spezifische Technologie. In Abb. 1 sind 15 Domänen dargestellt, die insgesamt 41 konkrete Anwendungsbereiche von KI zusammenfassen. Diese 41 Anwendungsgebiete sind in Abb. 2 anhand VDI 5600 strukturiert. Abb. 1 verortet diese Anwendungsbereiche in einer erweiterten ISA95-Pyramide. „Erweitert“, weil insbesondere die vertikale Integration über die Ebenen des Industrie‑4.0‑Bilanzkreises hinaus hin zu strategischer Planung in SCM und ERP als essentiell für die nächste Entwicklungsstufe eingeschätzt wird (Schmalzried 2013).
Die KI-Verfahren können einerseits in mathematische Verfahren und symbolische KI als Vertreter eines regelbasierten und nicht lernfähigen Ansatzes von andererseits lernenden Verfahren, die vor allem auf Daten basieren, unterschieden werden (Wahlster und Winterhalter 2022). Der Vorteil lernender Verfahren ist, dass kein explizites Regelwissen benötigt wird, sondern die Zusammenhänge von den Machine-Learning Methoden erkannt werden. Selbstfahrende Systeme können z. B. in einer Werkhalle angelernt werden, um anschließend deren KI-Modell auf andere Systeme zu übertragen. So können die erlernten „Fahrkünste“ auch in neuen Umgebungen angewendet werden, lediglich bisher unbekannte Szenarien müssen zusätzlich angelernt werden. Diese Weiterentwicklungsfähigkeit ist ein klarer Vorteil gegenüber einem Ansatz mit starren Regeln. Ihr Nachteil ist, dass es zu Fehlinterpretationen bei mangelnder Datenqualität oder mangels Ausgewogenheit bei der Auswahl der Trainingsdaten kommen kann. Dem kann mit Methoden der Erklärbaren KI (engl. Explainable AI, kurz XAI) entgegengewirkt werden, um ein besseres Verständnis der erkannten Zusammenhänge zu erhalten.
Im Bereich Industrie 4.0 werden mathematische Verfahren und symbolische KI vornehmlich für Wissensmanagement, für die Planung sowie für Bedarfs- und Absatzprognosen genutzt. Insbesondere die Aspekte der Selbstlernfähigkeit, Übertragbarkeit von Modellen und Erklärbarkeit ermöglichen einen Sprung von Industrie 4.0 auf Industrie 5.0. Abb. 2 gibt einen systematischen Überblick, welche KI-Methoden für welche Anwendungsfälle in Industrie 4.0 nutzbar sind. Diese Anwendungsfälle sind den Aufgaben der Industrie 4.0 nach VDI 5600 zugeordnet. Damit wird ein systematischer Überblick über die aktuellen Einsatzfelder der KI im Bereich Industrie 4.0 gegeben. Inhaltlich wurde Abb. 2 auf Basis des Fachwissens der Autoren sowie gemeinsamer Diskussionen erstellt. Die einzelnen Aspekte stehen hiermit zur öffentlichen Diskussion. Den Anwendungsfällen werden die dabei eingesetzten KI-Technologien zugeordnet. Dunkelgrau hinterlegt sind solche Technologien, die einen disruptiven Beitrag für Industrie 5.0 leisten. Abb. 2 benennt Large Language Modells (LLMs) als separaten Punkt, um ihrer aktuellen Popularität gerecht zu werden. Unter generativer KI werden alle sonstigen Methoden zur künstlichen Generierung von Bild, Ton und Video zusammengefasst. Weiter ist der Einfluss auf die Industrie‑5.0‑Aspekte Menschenzentrierung, Nachhaltigkeit und Resilienz hervorgehoben.
Abb. 2 zeigt bei den drei hellgrauen Methodenspalten, dass sämtliche Prozessbeispiele bereits mit Methoden abgedeckt sind, die mit Industrie 4.0 assoziiert werden. Bei 29 der insgesamt 41 Prozessen und damit in jedem Aufgabengebiet bahnen sich deutliche Verbesserungen an, davon gehen acht auf generative KI zurück, neun weitere auf LLMs und 23 auf XAI (Doppelnennungen vorhanden). Über alle Prozesse hinweg sind alle drei Aspekte von Industrie 5.0 in gleicher Häufigkeit vertreten. Planungs- und Prognoseprozesse profitieren derzeit noch nicht von den neuen Technologien. Generative KI und LLMs tragen hauptsächlich zur Menschenzentrierung bei. Explainable AI trägt zu allen Aspekten bei, mit leichtem Überhang bei Nachhaltigkeit und Resilienz.
Die Mehrheit der Prozesse lässt deutliche Verbesserungen in Bezug auf Menschenzentrierung, Nachhaltigkeit und Resilienz durch die drei Kategorien des maschinellen Lernens erwarten. Einzelne Aspekte von Abb. 2 mit Fokus auf Menschenzentrierung werden im nächsten Kapitel anhand verschiedener Beispiele genauer betrachtet, um den disruptiven Charakter und die Gedanken dahinter zu verdeutlichen.

4 KI für Disruptionen in Industrie 5.0 am Beispiel der Menschenzentrierung und Mensch-Maschine-Kollaboration

4.1 Überblick

Das Werkzeug KI wurde mittlerweile zu einem Werkzeugkasten entwickelt, wie man am „Hype Cycle for Articifial Intelligence“ und dem „Impact Radar“ von Gartner sehen kann (Jaffri und Wiles 2022; Nguyen 2023). Zudem wird KI über den erreichten Stand der Technik hinaus deutliche Weiterentwicklungen hin zu einer menschenzentrierten Industrie ermöglichen. Um dies zu illustrieren, werden die folgenden vier konkreten Teildisziplinen und Anwendungsgebiete betrachtet: Künftige Arbeitsumgebungen basierend auf Edge-Technologien, Metaversen, adaptive kollaborative Roboter und Vertrauen in die Automatisierung durch XAI. In diesen Anwendungsgebieten wird der Einsatz von KI industrielle Prozesse menschenzentrierter gestalten.

4.2 Künftige Arbeitsumgebungen durch Edge-AI und Chatbots

Computer Vision, also die computergestützte Verarbeitung und Analyse von Bildern, ist eine der am weitesten vorangeschrittenen Technologien und kann bereits auf Edge-Geräten laufen. Große Sprachmodelle für die Generierung von Verarbeitung menschlicher Sprache benötigen noch Entwicklungszeit bis sie auf Embedded Geräten laufen (Jaffri und Wiles 2022). Allerdings ist mit Computer Vision bereits ein Schritt zur Edge AI getan, welche die schnelle und intelligente Datenverarbeitung ohne Cloud-Anbindung ermöglicht. Für autonome Roboter und Fahrzeuge bietet dies einen Mehrwert in der Reaktionsfähigkeit und der Nutzung in entlegenen Regionen. Es fördert zudem den Grundsatz der Datensparsamkeit und somit der Privatsphäre, da nicht alle Bilder einer Überwachungskamera zur Analyse in die Cloud übertragen werden müssen. Die entsprechenden Prozesse finden sich in Abb. 2 vor allem als Teil der Muster- und Anomalieerkennung in den Ebenen der Datenerfassung und Informationsmanagement sowie den kollaborativen Robotern und autonomen Transporten in der Feinplanung und Steuerung.
Automatische Sprachsysteme unterstützen bereits vielseitig bei der Programmierung. In veröffentlichten Ergebnissen von Programmierbenchmarks erreicht GPT‑4 im April 2023 ein durchschnittliches Entwicklerniveau (OpenAI 2023). Es ist zu erwarten, dass diese Fähigkeit in Zukunft weiter verbessert wird und sich damit die Art und Weise, wie Softwareentwickler arbeiten, ändert. Aus der Sicht des Unternehmens bedeutet der Wandel von einem technologiegetriebenen Ansatz hin zu dem menschenzentrierten Ansatz der Industrie 5.0, dass der Fokus zukünftig stärker auf der Ausbildung der Arbeitnehmer und dem lebenslangen Lernen liegen sollte als auf der Anschaffung neuer Technologien (Zizic et al. 2022). Die neuen Technologien dienen im Konzept der Industrie 5.0 dazu, sich an die Bedürfnisse und die Diversität der Arbeitnehmer anzupassen und so ein sicheres und integratives Arbeitsumfeld zu schaffen, welches die körperliche und geistige Gesundheit sowie das Wohlbefinden priorisiert und die Grundrechte der Arbeitnehmer wie Autonomie, Menschenwürde und Privatsphäre schützt (Xu et al. 2021).

4.3 KI in Metaversen, Virtualisierung und Augmented Reality

Nach Leng et al. (2022) bietet das Metaversum das Potenzial „Enabler“ für die Industrie 5.0 zu sein. Das Metaversum ist ein in der Literatur divers definiertes Konzept (Park und Kim 2022, Peukert et al. 2022). Eine übliche Betrachtungsweise ist das Metaversum als Weiterentwicklung des World Wide Webs zu verstehen, also eine durch Standards ermöglichte interoperable Gesamtheit virtueller Welten (Mystakidis 2022). Dionisio et al. (2013) definieren das Metaversum treffend als integriertes Netzwerk dreidimensionaler virtueller Welten, welches die Merkmale Realismus, Ubiquität, Interoperabilität und Skalierbarkeit zum zentralen Betrachtungsgegenstand hat. Inzwischen etabliert sich der Begriff auch im Kontext der Industrie unter dem Schlagwort industrielles Metaversum. Erste Bestrebungen für die Umsetzung bekunden Siemens und NVIDIA mit einer Kollaboration. Als Ausgangspunkt für diese dienen NVIDIA Omniverse, eine Entwicklungsplattform für das Metaversum, und Siemens Xcelerator, eine offene digitale Business Plattform (Siemens 2022).
Obgleich das industrielle Metaversum ebenfalls ein nicht feststehender Begriff ist, kann darunter die virtuelle Abbildung realer Produktionsanlagen und -prozesse verstanden werden (Kshetri 2023). Die virtuelle Abbildung realer Objekte als zentrale Charakteristik des industriellen Metaversums steht in engem Zusammenhang zu dem bereits in Industrie 4.0 etablierten Konzept des digitalen Zwillings (Tao et al. 2019). Abb. 2 beschreibt als Prozessbeispiel die 3D-Modellierung von Fabrikationsstätten. In Industrie 5.0 bietet das Metaversum das Potenzial, insbesondere durch virtuelle und augmentierte Realität, digitale Zwillinge für die Ziele Menschenzentrierung und Nachhaltigkeit zu verbessern. Für die automatisierte Umsetzung digitaler Zwillinge ist nach Lee et al. (2021) KI erforderlich. Hierbei ist der Einsatz von KI insbesondere für die Erstellung der Szene, der Avatare und der Nicht-Spieler-Charaktere (NPC) denkbar (Bhattacharya et al. 2023, Huynh-The et al. 2023, Zhao et al. 2022).
Die Menschenzentrierung, als Merkmal der Industrie 5.0, ist dem Metaversum immanent. Der Mensch ist im Metaversum durch einen Avatar verkörpert. Das Zusammenspiel aus Szene, Avatar und NPC (Zhao et al. 2022) sorgen für Präsenz und damit verbunden Immersion. Durch diese Merkmale ergeben sich in Verbindung mit KI Möglichkeiten Industrie 5.0 im Kontext der Menschenzentrierung im Metaversum umzusetzen. So kann bspw. ein digitaler Zwilling von Fertigungsanlagen zur Schulung von Personal dienen (Huynh-The et al. 2023). Auch Sicherheitsschulungen sind ein mögliches Anwendungsfeld, da in einer virtuellen Umgebung auch risikoreiche Tätigkeiten gefahrlos trainierbar sind (Li et al. 2018, Xu und Zheng 2021). KI kann hierfür bspw. die virtuelle Umgebung realistischer gestalten oder Szenarien für die Schulungen generieren. Abb. 2 beschreibt dieses Prozessbeispiel als Arbeitsschutz durch Augmentation. Außerdem unterliegt das industrielle Metaversum keinen lokalen Restriktionen, wodurch eine globale Kollaboration von Menschen umsetzbar ist.

4.4 KI für adaptive, lernfähige und kollaborative Robotik

Kollaborative Roboter (kurz Cobots) sind so konzipiert, dass sie direkt mit ihren menschlichen Kollegen zusammenarbeiten können. Ihre Hauptfunktion liegt dabei vor allem in der Unterstützung des Menschen bei unangenehmen oder gefährlichen Tätigkeiten. Hierbei spielt die intuitive Kommunikation des Menschen mit dem Cobot eine zentrale Rolle. Umgekehrt benötigt der Cobot zur Erfüllung seiner Aufgabe semantisches Wissen über das Ziel sowie über die Absichten und das Verhalten seines menschlichen Kollegen (Jabrane und Bousmah 2021). Laut Zizic et al. (2022) können die Methoden der KI den Cobots ermöglichen vom Menschen zu lernen und basierend auf diesem Wissen Aufgaben auszuführen. Jabrane und Bousmah (2021) beschreiben als das Ziel der Cobotik die Imitation menschlicher Fähigkeiten durch einen Roboter, welcher auch bei einer sich verändernden Umgebung in der Lage ist, die Eingaben reibungslos in motorische Reaktionen zu integrieren. Durch KI sollen sie fortgeschrittene Lernfähigkeiten erwerben, ohne dass hierfür eine Art von Programmierung erforderlich ist. Dabei stellt die Anwendung von KI für die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter aktuell noch eine große Herausforderung dar. Jedoch werden mit einer Weiterentwicklung von Techniken zur visuellen Bildverarbeitung, Aufgabenplanung, reaktiven Steuerung, dem Lernen sowie dem Erkennen von Handlungen, der Speicherung großer Datenmengen und einer Verkürzung der benötigten Lernzeit natürliche Echtzeitinteraktionen im Arbeitsablauf zwischen Cobot und Mensch ermöglicht (Jabrane und Bousmah 2021).
Eine weitere Entwicklung der Robotik ist in adaptiven Systemen zu sehen. Klassisch sind darunter Hardwarekomponenten wie adaptive Greifer, welche sich an Objekte unterschiedlicher Abmessungen, Masse und Geometrien anpassen können, zu verstehen. Durch die neuen softwaretechnischen Möglichkeiten, welche die Entwicklung der KI-Technologie für die Robotik schafft, wird das Verständnis von adaptiven Robotern erweitert. So beschreiben Enayati et al. (2022) unter dem neuen Konzept der adaptiven Robotik ein System, welches in der Lage ist, sich aufgrund einer Veränderung der Aufgabe ohne menschliches Eingreifen selbstständig umzuprogrammieren. Diese Anpassungsfähigkeit der Software eines Systems ist zwar noch keine Realität, erscheint aber vor allem durch die Weiterentwicklung von Methoden wie Reinforcement Learning, Transfer Learning, Meta Learning, Devising Curriculums, Relational Programming und Context-adaptive Models in naher Zukunft umsetzbar (Enayati et al. 2022). Wie aus Abb. 2 hervorgeht, tragen diese Technologien des maschinellen Lernens auch zu einer verstärkten Menschenzentrierung im Industrie‑5.0‑Kontext bei.
Im Bereich Kommunikation sind durch die Veröffentlichung von Chatsystemen wie ChatGPT von OpenAI oder dem Konkurrenzsystem Bard von Google, einem auf der Sprachmodell-Anwendung LaMDA basierenden Chatbot bereits in verschiedenen Bereichen, wie Journalismus und Lehre, tiefgreifende Änderungen aufgekommen. In Verbindung mit Sprachsynthese sind ebenfalls dynamische Weiterentwicklungen von Assistenzsystemen zu erwarten, die ein neues Niveau in menschenzentrierter Kommunikation anstreben (siehe Abb. 2).

4.5 Vertrauen in Automatisierung durch XAI

Im Idealfall hilft die Erklärbarkeit im Rahmen von Industrie 4.0 Anwendungen dabei, die darin verwendeten KI-Modelle besser zu verstehen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Bei Prozessen der Leistungsanalyse oder dem Materialmanagement in Abb. 2 können Interkationen bestimmter Parameter in den gelernten Daten sichtbar gemacht werden. XAI hilft so beim Nachvollziehen, warum bestimmte Entscheidungen in der automatischen Steuerung von Produktionsprozessen getroffen werden. Ebenso kann das Verhalten von Cobots hierüber erklärt und idealerweise genau vorhergesagt werden. Erklärbarkeit ist somit eine direkte Voraussetzung für Vertrauen in KI-Anwendungen (Burkart und Huber 2021).
Entsprechend muss ein maschinell lernendes System, sich und seine Eigenheiten für einen Menschen verständlich erklären können. Die Erklärung ist in der Art und der Präsentation dem Gegenüber anzupassen, sei es im Text, Bild, Sprache oder einer Kombination hieraus (Schwalbe und Finzel 2023). Deshalb ist es wichtig, verschiedene Stakeholder mit ihren Anforderungen in den Prozess einzubeziehen und das KI-System vollständig auf den Anwendungsfall anzupassen (Langer et al. 2021). Ebenso muss die inhaltliche Erklärung der eigenen Handlung genau, robust, zur Situation passend/örtlich passend, einfach, deterministisch und vollständig sein (Hedström et al. 2023). XAI hat somit die Möglichkeit, durch KI verbesserte Prozesse, in der Breite zugänglich zu machen und Anwender von dem (disruptiven) Nutzen der KI durch neugewonnenes Vertrauen zu überzeugen.
Im Ergebnis sollte idealerweise ein KI-Modell stehen, dass den Prinzipien einer „Responsible AI“ entspricht. Das Modell ist somit fair, transparent, nachvollziehbar, vertrauenswürdig und respektiert die grundlegenden Werte und Prinzipien der Gesellschaft (Dignum 2019). Gartner erwartet dies innerhalb der nächsten acht Jahre (Nguyen 2023).

5 Fazit und Ausblick

Wie Abb. 2 zeigt, findet der Einsatz von KI bereits in den Prozessen des Konzepts der Industrie 4.0 Anwendung. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Einfluss der jüngsten Fortschritte in der KI auf den bereits in Industrie 4.0 ebenfalls relevanten Aspekt Menschenzentrierung trotzdem einen ganzen Nummernsprung in der Zählung rechtfertigen kann. Generative KI, LLMs und vertrauenswürdige KI liefern nach der getroffenen Einschätzung deutliche Fortschritte für die Menschenzentrierung in der Industrie. Mit der Übersicht zu den KI-Technologien im Industrie‑4.0‑Kontext und der Identifikation für Industrie 5.0 relevanter Technologien wurden die Grundlagen für weitere systematische Betrachtungen gelegt.
Ob die KI als Enabler Technologie für eine fünfte industrielle Revolution einen ausreichend disruptiven Charakter besitzt, um den Nummernsprung zu rechtfertigen, ist in Fachkreisen eine andauernde Diskussion (Bendig et al. 2021; Müller 2020; Xu et al. 2021). Eine genauere Betrachtung der genannten Prozesse ist nötig, um die Tiefe der Auswirkung zu differenzieren. Ähnlich wie bereits bei der Industrie 4.0 wurden zudem geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse der Industrialisierung nicht betrachtet (Hessler und Thorade 2019), sodass hinterfragt werden kann, ob die bloße Erwartung einer Disruption diese selbst rechtfertigt oder es in der Tat zukünftig neuer Kriterien bedarf. Für die Aspekte der Nachhaltigkeit und der Resilienz, welche neben der Menschenzentrierung zwei weitere Kernelemente für den Schritt zur Industrie 5.0 darstellen, müssen weitere Untersuchungen durchgeführt werden. Zudem sollten in einer Gesamtbetrachtung der Fragestellung einer fünften industriellen Revolution auch weitere Enabler-Technologien zusätzlich zur KI aufgenommen werden.
Mit Blick in die Zukunft stellt sich die Frage, welche Rolle die Verknüpfung mobiler Roboter oder mobiler Entitäten mit KI spielen wird. Viele Forscher sind sich einig, dass die Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen und aktiv zu erkunden, wesentlich zur Intelligenzentwicklung beiträgt (Zhang und Tao 2021). Gerade der Industrie‑5.0‑Kontext ist besonders geeignet, diese mobile Komponente, sei es durch Roboter, fahrerlose Transportsysteme oder Drohnen beizusteuern.
Für die Zukunft werden Technologien wie generative KI, vertrauenswürdige KI und Augmented Work laut Marr (2022) neue Geschäftsfelder ermöglichen. Zudem fügt er hinzu, dass KI-Technologien durch mehr Apps und einfach zugängliche Online-Dienste, die kein spezielles Wissen über KI voraussetzen, eine schnelle, breite Verfügbarkeit erreichen werden. Er rechnet damit, dass Unternehmen KI zur Förderung nachhaltiger Produkte und resilienter Produktionsketten nutzen. Dieser Aspekt lässt sich weiter fassen und auf die gesamte vertikale Integration übertragen. Jaffri und Wiles (2022) bezeichnen dies im „Hype Cycle for Artifcial Intelligence“ als einen Teil von Causal AI und schreiben diesem einen hohen Einfluss auf die Geschäftswelt zu. So sollen neue Kausalketten im eigenen Unternehmen gefunden werden, die eine KI aus Domänenwissen der Firma generiert (Jaffri und Wiles 2022).
Als Handlungsempfehlung für die Forschungscommunity lässt sich ableiten, dass die entwickelten Werkzeuge für die Anwendung in der Industrie aufbereitet werden sollten, sodass Anwender bestehende und auf Vertrauenswürdigkeit geprüfte KI-Modelle zeit- und aufwandssparend für den eigenen, konkreten Bedarf anpassen können. So sollte es beispielsweise möglich sein, Domänenwissen aus Industrie 4.0 in generative Mechanismen einfließen zu lassen, um die Basis schnell einsetzbarer Werkzeuge und Modelle im Sinne des Konzepts der Industrie 5.0 für diese Anwendungsdomäne zu verbreitern. Anwendern sei empfohlen, die eigenen Potenziale in Hinblick auf die Prozesse der Abb. 2 zu analysieren.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Analyse der Rolle Künstlicher Intelligenz für eine menschenzentrierte Industrie 5.0
verfasst von
Dirk Schmalzried
Marco Hurst
Marcel Wentzien
Max Gräser
Publikationsdatum
22.08.2023
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik / Ausgabe 6/2023
Print ISSN: 1436-3011
Elektronische ISSN: 2198-2775
DOI
https://doi.org/10.1365/s40702-023-01001-y

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