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2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Die Präsenz der Unmittelbarkeit

verfasst von : Werner Pfab

Erschienen in: Die Unmittelbarkeit sozialer Interaktion

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

In diesem Kapitel werden vier Facetten interaktiver Unmittelbarkeit beleuchtet: zum einen werden elementare Merkmale interaktiver Unmittelbarkeit skizziert, zum zweiten wird die Feingliederung interaktiver Unmittelbarkeit modelliert, zum dritten wird die Bedeutung interaktiver Unmittelbarkeit für Intersubjektivität in sozialer Interaktion deutlich gemacht und zum vierten wird die professionell Relevanz interaktiver Unmittelbarkeit am Beispiel des Kommunikationsformats Coaching gezeigt.

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Fußnoten
1
Die gängige interaktionstheoretische oder gesprächsanalytische Darstellung interaktiven Geschehens ist demgegenüber eine von den je konkreten Umständen inklusive der beteiligten Personen losgelöste abstrakte Typisierung von Handlungen, sei es als „Sprechakt“, „sprachliches Verfahren“, „soziale Praktik“ o.ä.
 
2
Die Qualität der Unmittelbarkeit entzieht sich einer gängigen objekt-bezogenen verbalen Beschreibung; diese „[…] unterwirft die phänomenale Welt Kategorien, die nur für die Welt der Wissenschaft Sinn haben“ (Merleau-Ponty 1966, S. 30). Merleau-Ponty erläutert dies am Beispiel der Müller-Lyer-Täuschung: „Sie fordert, zwei wahrgenommene Strecken, als zwei wirkliche Strecken, müßten gleich oder ungleich sein, […] ohne ein Auge dafür zu haben, daß es dem Wahrgenommenen wesentlich ist, Zweideutigkeiten, Schwankungen, Einflüsse des Zusammenhangs einzuschließen. In der optischen Täuschung von Müller-Lyer ist die eine der Linien der anderen nicht gleich, ohne ihr darum ,ungleich‘ zu sein: sie ist vielmehr ,anders‘. M.a.W. für die Wahrnehmung sind eine isolierte objektive Linie und dieselbe in einem Gestaltzusammenhang nicht „dasselbe“ (Merleau-Ponty 1966, S. 30). Zu Überlegungen für eine angemessene verbale Darstellung siehe Abschnitte 4 und 5.
 
3
Man muss sich vergegenwärtigen, dass Vorstellungen von Suggestion und damit zusammenhängend von Hypnose um die Wende zum 20. Jahrhundert geläufige Gedankenfiguren in den Geisteswissenschaften gewesen sind. Schmitz erwähnt in seiner Besprechung von Tarde, für den dies in hohem Maße gilt, Mauthner, Gomperz, Wegener und Bühler, der 1927 selbstironisch konstatiert: „Jeder von uns wachenden und kritikgewohnten Menschen, der als Hörer den Worten eines Sprechers Einlass gewährt, hängt zunächst einmal in irgendeinem Grade am Leitseil des Sprechers. Und das ist im strengen Wortsinn Suggestion“ (Bühler, zitiert in Schmitz 1987, S. 291). In diesem Zusammenhang kann auch Freuds Faszination für die Telepathie gesehen werden.
 
4
Das Originalzitat lautet: „Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht“ (Kracauer 1990b, S. 186) und bezieht sich auf seine Darstellung der Räumlichkeiten der Arbeitsvermittlung im Text „Über Arbeitsnachweise“.
 
5
Pfab und Klemm (2022, S. 59 f.) veranschaulichen diesen Zusammenhang am Beispiel der Schilderung des „Rundgangs“ durch Sofsky und Paris (1994). Die atmosphärische Wirkung eines Kontrollgangs eines Meisters durch die Werkhalle, ihr bedrohlicher Charakter (ihre soziale Energie), kommt durch das Gesamt des konkreten Ereignisses zustande, aber eben auch nur deshalb, weil dieses Geschehen auf einem spezifischen sozio-strukturellen Hintergrund stattfindet, ohne den es sich als „leer“ erweisen würde.
 
6
Den Einwand, das Objekt müsse doch zunächst mit den einzelnen Sinnen wahrgenommen werden, bevor es als anziehend oder abstoßend erlebt werde, weist Landgrebe zurück. Er hält den Einwand für einen „[…] Versuch des Herausspringens aus der rein phänomenologischen Analyse, indem dabei das Wissen um das Objekt in Anspruch genommen wird, das bereits aus anderen Quellen stammt als aus dem zu analysierenden Erlebnis selbst“ (Landgrebe 1963, S. 118, mH). Für Landgrebe ist klar: „Das empfindende Sichbewegen ist also gesteuert von jenen elementaren Momenten; es ist ein Sichhinrichten zu dem Anziehenden, ein Fliehen des Bedrohlichen und Abstoßenden und erst diese Hinbewegung ermöglicht es, daß die Sinne in derjenigen optimalen Weise affiziert werden können, auf Grund deren eine Wahrnehmung zustande kommt“ (Landgrebe 1963, S. 119, m.H.).
 
7
Es ist bemerkenswert, dass demgegenüber für pragmatische Theorien der Kommunikation das Moment der Verzögerung entscheidend ist, während derer erst Vorstellungen gebildet werden können sollen, die als Grundlage von Kommunikation betrachtet werden. Diese Vorstellung von Verzögerung bildet die Grundlage für ein Modell dezentrierter Kommunikation mit einem situationsentbundenen Sprachgebrauch, in dem Subjekte auf der Grundlage als permanent existierend angenommener Objekte (inclusive sprachlicher Zeichen und ihrer Bedeutungen) rational bedacht handeln. Habermas bekennt, dass er sich in der Entwicklung seiner Theorie des kommunikativen Handelns „stillschweigend“ am Rationalitätsmodell Piaget orientiert hat (zit. in Meyer-Drawe 1986, S. 260). Und auch die Vorstellung eines „Austauschs von Perspektiven“ ist nur auf der Grundlage dieses Modells denkbar. Leys zeigt dies für Mead: „Verzögerung [wird von] Mead in klassisch funktional-pragmatischer Manier in einem Atemzug mit Intelligenz und Kontrolle, das heißt Autonomie und Freiheit [genannt]“ (Leys 2009, S. 86).
 
8
Die Mehrdeutigkeit interaktiven Geschehens entsteht erst als Ergebnis der Reflexion unmittelbaren Erlebens. Sie stellt sich ein, wenn danach gefragt wird, was das Geschehen „bedeutet“ und diese Frage je nach Blickwinkel der Betrachtung, angelegten Mustern, mitgebrachtem Interesse, drängender Frage etc. unterschiedlich beantwortet wird.
 
9
Über diese Bezüge hinaus gibt es Affinitäten zu Kristevas Konzept der s.g. „semiotischen Modalität der Sinngebung“ (z. B. Kristeva 1978). Kristeva sieht den Phänomenbereich einer vorsymbolischen „Zeichenpraktik“ (S. 33), „[…] in der das Sprachzeichen noch nicht die Stelle des abwesenden Objekts einnimmt und noch nicht als Unterscheidung von Realem und Symbolischen artikuliert wird“ (S. 37). Im Unterschied zu den hier angestellten Überlegungen sind für Kristeva die Bezugsgesichtspunkte aber eine Sprachtheorie und eine – psychoanalytische – triebtheoretische Subjekttheorie, nicht eine Theorie sozialer Interaktion. Ich greife an einzelnen Stellen Formulierungen Kristeva’s auf.
 
10
Eine ähnliche Gedankenfigur benutzt Reichertz im Hinblick auf die Wirkungsweise von Macht (2009).
 
11
Husserl war einer der Wenigen, die sich des Phänomenbereichs des vor-prädikativen Erlebens angenommen haben. In Anbetracht der Komplexität der Husserlschen Gedanken und auch deren Veränderungen im Zeitverlauf ist die folgende Darstellung zwangsläufig skizzenhaft. Die Differenziertheit des Husserlschen Konzepts unmittelbaren Erlebens sollte aber deutlich werden.
 
12
Daher erweist sich die Frage, ob Wirkungen in Interaktion aufgrund der Wirksamkeit des Geschehens oder der Rezeption des Handlungssubjekts zustande kommen, als Scheinproblem, weil eine Trennung in autonomes Handlungs-Subjekt einerseits und Geschehen andererseits präsupponiert wird, die für interaktive Unmittelbarkeit gerade nicht angenommen werden kann.
 
13
Nothdurft (1998, 2002) hat sich in diesem Sinne mit dem interaktionstheoretischen Status von Wörtern auseinandergesetzt. Er setzt einer kognitivistischen Bestimmung der Bedeutung von Wörtern die Vorstellung des Hantierens mit Wörtern im Sinne eines situativen Zurechtkommens und interaktiver Stabilisierungen entgegen und weist darauf hin „[…] dass dieses ,Hantieren‘ bei den Interaktionsbeteiligten zu kommunikativen Erfahrungen mit diesen Wörtern führt, die diesen sehr wohl ein ,Gefühl‘ für diese Wörter geben, ohne dass die Wörter in ihrer (eigentlichen?) Bedeutung bekannt sein müssten. Carman spricht von ,immediate familiarity‘, die als Erlebensweise mit diesem,Hantieren’verbunden ist: ,[…] the immediate familiarity I have with my own concrete agency differs fundamentally from the representational knowledge I have of objects’ (Carman 1999:211)“ (Nothdurft 2002, S. 65).
 
14
In diesem Sinn kann Plessner von „vermittelter Unmittelbarkeit“ schreiben, vgl. Plessner (1981, S. 396 ff.) Kristeva fasst beides im „Prozess der Sinngebung“ in den zwei Modalitäten „semiotische“ und „symbolische“ Modalität, z. B. Kristeva 1978.
 
15
Empirische Belege dazu finden sich etwa in Studien der kognitiven (z. B. Rosch et al. 1976) und linguistischen (z. B. Hanks 1990) Anthropologie sowie in metapragmatischen Studien (Silverstein 1993; Nothdurft 2013).
 
16
Die Vorstellung der „Einfühlung“ erfasst dies nicht. „Einfühlen kommt immer zu spät und ist höchstens eine sekundäre Interpretation dessen, was bereits in der elementaren Ebene entstanden ist“ (Yamaguchi 1997, S. 62, mH).
 
17
„Erst auf einer solchen Basis können Verhaltensweisen als sinnhafte Ausdrucksformen isoliert und gedeutet, instrumentalisiert und kommunikativ gezielt reproduziert werden“ (Müller und Raab 2017, S. 262). Scheler sieht darin eine Entwirklichung bzw. Entfremdung des Erlebten (Scheler 1983).
 
18
Vgl. dazu die Kritik Schröers: „Das übliche Ausweichen auf die Unterstellung von intersubjektiven Schnittmengen ist nicht nur aus erkenntnistheoretischer Perspektive problematisch: Es ist kaum möglich, aus divergierenden Wissenskontexten identische Wissensbestände herauszuschneiden, da sich die Bedeutung von Wissensausschnitten stets aus dem Gesamtkontext ergibt“ (Schröer 1999, S. 207). „Common ground“, so könnte man sagen, wird an der falschen Stelle gesucht: im Zeichensystem statt in der Unmittelbarkeit des Geschehens.
 
19
Krämer (2006) schreibt von einem „affektiven Raum unserer Verständigung, […] bevor überhaupt die wechselseitige intersubjektive Anerkennung von Geltungsansprüchen durch die argumentierende Rede […] zu greifen vermag“ (Krämer 2006, S. 7).
Merleau-Ponty stellt klar, dass das Problem der Intersubjektivität i.S.d. Unzugänglichkeit des Anderen das Ergebnis der Fehlkonstruktion des Subjektbegriffs ist, nämlich einer objektivistischen Vorstellung des Subjekts: „Der also entstellte lebendige Leib [ist] nicht mehr mein Leib, sichtbarer Ausdruck eines konkreten Ich, sondern nur mehr ein Gegenstand unter anderen Entsprechend konnte auch der Leib eines Anderen mir nicht mehr als die Hülle eines anderen Ich erscheinen“ (Merleau-Ponty 1966, S. 79. m.H.). Folgerichtig kann dann auch der Andere mir nur noch in objektivistischer Betrachtung gegeben sein.
 
20
Von „Verschmelzung“ schreiben auch Müller und Raab 2017, S. 263. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Vorstellungen intersubjektiver Verschmelzung in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg gängige Denkfiguren gewesen sind, allerdings mit je unterschiedlichen Akzentuierungen. Lüdemann weist auf Freud (Identifizierung), Canetti (Verwandlung) und Benjamin (mimetisches Vermögen) hin (vgl. Lüdemann 2009, 1997). Später hat sich die Gedankenfigur der Subjektivierung sozialer Interaktion durchgesetzt – eine Gedankenfigur, die bereits bei Adam Smith angelegt ist und die sich im 20. Jhdt. durch Konzepte wie Empathie und Perspektivenübernahme etabliert hat – auch deshalb, weil sie mit der Grundvorstellung individueller Autonomie wesentlich kompatibler war als Vorstellungen der Verschmelzung (vgl. Pfab 2021). Eine kritische Weiterentwicklung der Gedankenfigur der Verschmelzung wurde seinerzeit in Deutschland durch die faschistische Wissenschaftsvernichtung abgebrochen und später durch die Erfahrung des Faschismus beeinträchtigt.
 
21
In diesem Abschnitt werden Vorüberlegungen aus Pfab (2019) aufgegriffen.
 
22
In deren Studien geht es zwar um psychotherapeutische Interaktion. Diese ist aber, was ihre interaktiven Charakteristika angeht, vergleichbar mit Coaching. Beides sind Formate reflexiver Beratung. Insofern lassen sich die Ergebnisse auf Coaching übertragen.
 
23
„Solche Momente, so hat Stern beobachtet, werden häufig durch ein Innehalten im Dahingleiten angekündigt (2006, S. 35). Ihnen folgt zunächst Schweigen („An dieser Stelle herrscht immer Schweigen“) (S. 35). Die Angesprochene gerät aus der Fassung, sie ist überrascht, konfus, sie weiß nicht weiter, Vertrautes steht auf dem Spiel. Martens-Schmid beschreibt ähnlich: ,Zu diesen Momenten gehören zum Beispiel Pausen und Unterbrechungen im Gespräch, Blicke, auch das Nichteintreffen selbst gebildeter Prophezeiungen, das Fehlen einer Antwort auf eine Frage oder ähnliche interaktive „Kleinigkeiten“ (Martens-Schmid 2009, S. 70)“ (Pfab 2019, S. 67 f.).
 
24
Diesem Gedanken liegt die interaktionstheoretische Auffassung zugrunde, dass das Selbstkonzept in hohem Maße auf dem jeweiligen Beziehungsmuster gründet.
 
25
,Improvisation‘ ist auch ein Kernelement im Kommunikationsleitbild des ,Gemeinsamen Musizierens‘ bei Nothdurft und Schwitalla (1995).
 
26
An dieser Stelle sei nur hingewiesen auf die Studien zur Emergenztheorie der Grammatik, die nahelegen, dass Gesprächsteilnehmer ihre verbale Beteiligung an Interaktion inkremental und prozess-sensitiv unter Zuhilfenahme grammatikalischer Formate und damit improvisierend vollziehen. So stellt einer der Hauptvertreter dieser Theorie fest: „[S]peakers do not create utterances by matching them in advance of the utterance to an a priori schema, but rather improvise at each point as the discourse unfolds“ (Hopper 2011, S. 31).
 
Metadaten
Titel
Die Präsenz der Unmittelbarkeit
verfasst von
Werner Pfab
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-44382-5_3

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