Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

4. ISG-virtuos – der Digitale Zwilling für die Praxis

verfasst von : Christian Scheifele, Dieter Scheifele, Ulrich Eger, Christian Daniel, Edmund Buchal, Sascha Röck

Erschienen in: Echtzeitsimulation in der Produktionsautomatisierung

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …

Zusammenfassung

Das in verschiedenen Forschungsarbeiten am Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW, Universität Stuttgart) entwickelte Konzept einer Softwarelösung zur Hardware-in-the-Loop Simulation für die Virtuelle Inbetriebnahme von industriellen Steuerungssystemen stellt die wissenschaftliche Grundlage für das kommerzielle Simulationswerkzeug ISG-virtuos der Firma ISG Industrielle Steuerungstechnik GmbH dar. Dieser Beitrag stellt die Simulationsplattform ISG-virtuos und deren praktische Anwendung im Maschinen- und Anlagenbau vor. ISG-virtuos deckt die Erstellung und den Einsatz von Simulationsmodellen entlang des gesamten Lebenszyklus einer Automatisierungslösung vom digitalen Engineering über die Virtuelle Inbetriebnahme bis in den Vertrieb und in die Betriebsphase, beispielsweise zur Schulung und Qualifizierung des Betreiberpersonals, für die Produktionsoptimierung, für innovative Service-Anwendungen oder das Retrofit, ab. Der Funktionsumfang dieser Simulationsplattform resultiert aus Anforderungen, die aus der Schlüsseldisziplin der Automatisierung von Maschinen und Anlagen – der Steuerungsentwicklung – kommen.

4.1 Digitale Zwillinge für den Steuerungstest

Von zentraler Bedeutung für den Maschinen- und Anlagenbau ist die Methode der Virtuellen Inbetriebnahme (VIBN), welche in den letzten Jahren vermehrt zur Anwendung kommt [1]. Die VIBN bezeichnet „den der realen Inbetriebnahme (IBN) vorgelagerten Gesamttest des Automatisierungssystems mithilfe eines Simulationsmodells der Anlage“ [2]. In einer vom VDMA im Jahr 2017 durchgeführten Studie sehen 57 % der befragten Maschinen- und Anlagenbauer zukünftig eine steigende bis stark steigende Nachfrage nach Lösungen zur VIBN im Entwicklungsprozess neuer Produktionsanlagen [3]. Die VIBN unterscheidet zwischen drei Konfigurationen, welche sich „in der Repräsentation der Steuerung sowie in der Implementierungsform des Steuerungscodes“ [2] unterscheiden:
  • Die Model-in-the-Loop Simulation (MiLS) für den Test von modellierten Steuerungsfunktionen,
  • die Software-in-the-Loop Simulation (SiLS) für den Test einer virtuellen Steuerung (rein softwarebasiert) und
  • die Hardware-in-the-Loop Simulation (HiLS) für den Test einer realen Steuerung (inkl. Hardware und Feldbus).
Während MiLS und SiLS im frühen Entwicklungsprozess zum Einsatz kommen, ermöglicht die HiLS am Ende des Entwicklungsprozesses die Durchführung einer realitätsnahen IBN des industriellen Steuerungssystems [4]. Dabei wird das reale Steuerungssystem über die reale Kommunikationsperipherie ohne Anpassungen am Steuerungsprogramm oder der Steuerungskonfiguration mit einem digitalen Modell (Simulationsmodell) der Produktionsanlage zu einem Digitalen Zwilling gekoppelt. Für den Test und die Optimierung der eingesetzten Steuerungstechnik (Steuerungskonfiguration, -logik und -algorithmen) bildet der Digitale Zwilling das logische Feldbusverhalten ab, damit die eingesetzte Steuerungstechnik keinen Unterschied zwischen dem echten Verhalten einer Produktionsanlage und dem Verhalten seines Digitalen Zwillings am digitalen Feldbus erkennt. Abb. 4.1 stellt die MiLS, SiLS und HiLS mit ISG-virtuos dar.
Praxiserfahrungen im Maschinen- und Anlagenbau bestätigen, dass Digitale Zwillinge, eingesetzt in MiLS, SiLS und HiLS, die Entwicklungsprozesse und Inbetriebnahmen optimieren [4]. Bei einer VIBN wird im Wesentlichen die Steuerungssoftware samt ihren logischen Abläufen und den bewegungserzeugenden Funktionen an digitalen Modellen einer Maschine bzw. einer komplexen Produktionsanlage getestet und somit die reale Inbetriebnahme an der Anlage vorbereitet und abgesichert. Das Modell der Anlage wird zur Verkürzung der Modellierungszeiten aus Komponenten- oder Baugruppen-Modellbibliotheken manuell oder über Ansätze der automatischen Modellgenerierung aufgebaut. Die Modelle bilden ihre realen Ebenbilder in den für die Steuerungstechnik notwendigen Aspekten 1:1 ab – von den Parametern bis hin zu dem Komponentenverhalten an ihren Schnittstellen. Diese realitätsnahe Abbildung ermöglicht die Kopplung eines unveränderten realen Steuerungssystems mit einer virtuellen Produktionsanlage im Rahmen einer HiLS.
Das in [5] vorgestellte und im Rahmen verschiedener Forschungsarbeiten am Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW, Universität Stuttgart) entwickelte Konzept einer Softwarelösung zur HiLS mit realen Steuerungssystemen stellt die wissenschaftliche Grundlage für das kommerzielle Simulationswerkzeug ISG-virtuos [6] der Firma ISG Industrielle Steuerungstechnik GmbH dar. Auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Vorarbeiten wurde eine innovative Simulationslösung entwickelt, welche den eingehenden Test von Steuerungsapplikationen, insbesondere für den entscheidenden Systemtest, in HiLS ermöglicht. Die Idee, Steuerungsalgorithmen mithilfe einer virtuellen Maschine bzw. Anlage zu testen, wurde zunächst nur für den internen Gebrauch im Entwicklungsprozess von ISG-kernel, einer Softwarelösung zur Steuerung von Maschinen und Anlagen in den Bereichen CNC, Robotik und Motion Control, eingesetzt. Seit 2005 wird ISG-virtuos als Softwarelösung für die Virtuelle Inbetriebnahme von Maschinen und Anlagen kommerziell angeboten. In partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus aus unterschiedlichsten Branchen wurde seitdem der Funktionsumfang von ISG-virtuos stetig ausgebaut.
Zu den wichtigsten Anforderungen bei der Entwicklung von ISG-virtuos gehörte die Realisierung der nachfolgenden Aspekte, deren Notwendigkeit sich aus der Echtzeit-Kopplung mit realen Steuerungssystemen über digitale Feldbussysteme in Form einer HiLS ergeben:
  • Echtzeitfähigkeit im Steuerungstakt
    Der Simulator muss bei der Kopplung mit Steuerungs- und Regelungsalgorithmen über den Feldbus taktsynchron auf die eingehenden Steuerungssignale reagieren. Dies erfordert Echtzeitfähigkeit im Steuerungstakt, was bspw. bei der Kopplung mit einer NC-Steuerung mit Steuerungstaktzeiten von wenigen Millisekunden sehr hohe Anforderungen an den Simulator stellt.
  • Reproduzierbarkeit
    Die Simulationsergebnisse müssen nachweislich „auf den Takt genau“ reproduzierbar sein, um Fehlerfälle wiederholt nachzustellen.
  • Modularität/Wiederverwendbarkeit
    Zur Reduzierung des Modellierungsaufwands bei der Entwicklung eines Digitalen Zwillings muss durch Modularität des Simulationsmodells die Möglichkeit zur Wiederverwendung geschaffen werden. Die hohen Qualitätsansprüche an (Teil-)Modelle kann nur gewährleistet werden, wenn das Simulationsmodell in wiederverwendbare Module unterteilt und diese eingehenden Tests (Unit-Test) unterzogen werden können.
  • Offenheit/Erweiterbarkeit
    Der Einsatz einer Entwicklungsplattform für Digitale Zwillinge von diversen Automatisierungslösungen erfordert, dass die Softwarearchitektur über offene standardisierte Schnittstellen verfügt und damit eine einfache Erweiterbarkeit unterstützt.
  • Abbildbarkeit der Feldbuskopplung
    Für den Integrationstest der Steuerungssoftware müssen die eingesetzten Aktoren und Sensoren einer Produktionsanlage vollständig abgebildet werden. Neben Tests hinsichtlich der Erfüllung der funktionalen Anforderungen umfasst dies auch das Laufzeitverhalten der Feldbussysteme als Schnittstelle zwischen Steuerung und den Maschinen- bzw. Anlagenkomponenten.
  • Abbildbarkeit des Maschinen- und Anlagenverhaltens
    Der Systemtest eines komplexen Steuerungssystems kann nur unter Berücksichtigung des für die Steuerung relevanten Anlagenverhaltens vorgenommen werden. Dies erfordert eine hohe Modellierungsbandbreite, da je nach Anwendung sowohl logisches, kinematisches als auch dynamisches Verhalten relevant sein kann.
Erste Anwendungen von ISG-virtuos ab dem Jahr 2005 adressierten die Modellierung und Echtzeitsimulation von virtuellen Maschinen für den NC-Steuerungstest. Die Besonderheit von ISG-virtuos war die Berechnung des Simulationsmodells im Kommunikationstakt des Feld- und Antriebsbusses (bei NC-Steuerungen ≤ 1 ms), um die Steuerung ohne Anpassung anhand der virtuellen Maschine testen zu können.
Der steigenden Nachfrage im Bereich der Digitalen Fabrik sowie den Erwartungen an das virtuelle Engineering im Maschinen- und Anlagenbau konnte nur mit einer innovativen Softwarelösung und einer offenen Softwarearchitektur begegnet werden. Diese ermöglichte die Weiterentwicklung von ISG-virtuos zu einer Simulationsplattform für ein breites Spektrum von Produktionsmaschinen und – anlagen sowie den durchgängigen Einsatz in allen Phasen des Herstellungsprozesses.
Abb. 4.2 zeigt einen ISG-virtuos Simulationsarbeitsplatz nach heutigem Stand der Technik. Ein handelsüblicher Windows Engineering-PC wird zur Modellbildung und 3D-Visualisierung verwendet. Auf dem ISG-virtuos Realtime Target wird das Simulationsmodell unter Echtzeit-Bedingungen simuliert und über den digitalen Feldbus mit einem realen Steuerungssystem zur HiLS angebunden.

4.2 Technologische Weiterentwicklung der Simulationsplattform

Die Architektur eines Simulators zur HiLS mit industriellen Steuerungssystemen geht zurück auf die wissenschaftlichen Arbeiten nach [5, 7]. In enger Zusammenarbeit mit Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus als Technologiepartner und dem ISW als Forschungspartner konnte der Funktionsumfang von ISG-virtuos in den vergangenen Jahren kontinuierlich weiterentwickelt werden. Abgeleitet aus Anforderungen aus dem praktischen Einsatz der Plattform im Maschinen- und Anlagenbau entstanden zahlreiche technologische Weiterentwicklungen. Nachfolgend soll auf eine Auswahl der wichtigsten Innovationen eingegangen werden.
Echtzeitsimulation von Produktionslinien mit Materialfluss [8]: Während die Virtuelle Inbetriebnahme mit ISG-virtuos anfänglich vorwiegend nur zum Test eines Steuerungssystems zur Anwendung kam, stellte sich schnell die Frage der Erweiterbarkeit und des Nutzens für ganze Produktionslinien oder Fabriken. Neben der Anwendung von ISG-virtuos im Bereich der NC-gesteuerten Maschinen, konnte mit der Entwicklung der Echtzeit-Materialflussbibliothek „MFPhys“ die Möglichkeit geschaffen werden, umfangreiche Materialflussszenarien zu simulieren (siehe Abb. 4.3). Die Echtzeitsimulation von Materialflüssen bei der HiLS stellt hohe Anforderungen an die eingesetzten Algorithmen und numerischen Methoden. Als wissenschaftliche Grundlage für die Entwicklung der Echtzeit-Materialflussbibliothek „MFPhys“ wird in [8] die Integration eines physikbasierten Materialflussmodells in die Echtzeit-Simulationstask vorgestellt und zur Verbesserung der Recheneffizienz die Reduzierung von Freiheitsgraden z. B. durch teilweise geführte Bewegungen und die Verwendung von primitiven Kollisionskörpern für die Kollisionsberechnung vorgeschlagen.
Automatisierte Modellerstellung [9]: Die Modularisierung und Wiederverwendung von (Teil-)Modellen in Simulationsprojekten wurde mit einer technologischen Lösung zur automatischen Modellgenerierung weitergeführt. Aufbauend auf der modularen und skalierbaren Architektur der Modellbibliotheken wurde ein Konzept für die automatisierte Modellerstellung entwickelt. Durch konsequente Anwendung des Baukastenprinzips können virtuelle Fabriken aus einzelnen Anlagenbereichen inklusive der Anbindung an übergeordnete Leitsysteme automatisiert konfiguriert werden. Beispielsweise konnte das in Abb. 4.4 dargestellte Anlagenmodell nach der Erstellung eines Baugruppen-Baukastens innerhalb von wenigen Minuten automatisiert erzeugt werden. Dabei wurden 246 Baugruppen in 53 Funktionsbaugruppen erstellt, 3242 E/A für die Kopplung über mehrere Feldbussysteme erzeugt, 143 Querverbindungen abgebildet und die HiLS mit zwei verschiedenen Steuerungssystemen ermöglicht. Grundlage dieser Technologie ist ein komponentenbasierter Aufbau des Modells mit ISG-virtuos.
Hybride Simulationsszenarien mittels Co-Simulation [10]: Bei der Virtuellen Inbetriebnahme von großen Anlagen kommen in der Praxis hybride Simulationsszenarien durch die Kombination einer HiLS und SiLS zum Einsatz, wodurch komplexe Co-Simulationsszenarien entstehen. Ein Beispiel hierfür zeigt Abb. 4.5. Dabei werden mehrere reale SPS (hier S. 7, Fa. Siemens) über das reale Feldbussystem (hier Profinet) an eine HiLS angeschlossen, um einen Teil des Systems inklusive der funktionalen Sicherheit (safety) sowie der Anbindung an übergeordnete Leitsysteme anhand echter Produktionsdaten testen zu können. Ein weiterer Teil des Systems, hier bestehend aus mehreren Robotersystemen, kann über virtuelle Steuerungen (hier KUKA OfficeLite) in Form einer SiLS in das Simulationsszenario eingebunden werden.
Multi-Core Simulation mittels Echtzeit-Co-Simulation [10]: Für eine umfassende virtuelle Absicherung und Auslegung großer Produktionsanlagen im Rahmen einer virtuellen Inbetriebnahme muss die zur Modellberechnung nutzbare Rechenleistung erweitert werden. In [10] wird ein Ansatz zur Echtzeit-Co-Simulation für die Hardware-in-the-Loop Simulation vorgestellt. Dieser Ansatz ermöglicht eine parallelisierte Echtzeitberechnung in einer Co-Simulationsarchitektur. Dabei wird die Echtzeit-Berechnung auf mehrere Simulationstasks unter Berücksichtigung der Einbindung industrieller Steuerungssysteme für eine Virtuelle Inbetriebnahme aufgeteilt (Abb. 4.6). Neben der Aufteilung des Gesamtmodells auf die einzelnen Simulationstasks über Partitionierungsmechanismen, werden zur Echtzeit-Simulation sowohl Kopplungs- als auch Synchronisierungsmechanismen benötigt. Der Kopplungsmechanismus realisiert den Datenaustausch zwischen den einzelnen Simulationstasks. Für den Datenaustausch zwischen den Simulationstasks wird ein Synchronisationsmechanismus notwendig, um eine taktgenaue Reproduzierbarkeit von Simulationsläufen zu gewährleisten.
Testautomatisierung [11]: Durch die fortschreitende Digitalisierung von Fertigung und Produktion steigen Umfang und Komplexität sowohl der Steuerungssoftware als auch der für eine Virtuelle Inbetriebnahme eingesetzten Simulationsmodelle stetig an. Der daraus resultierende zunehmend höhere Aufwand für die bisher noch ausschließlich manuell durchgeführten Softwaretests lässt sich heute nicht mehr wirtschaftlich darstellen. Beim automatisierten Test von Simulationsmodellen können einzelne Modellteile (Komponenten- und Baugruppenmodelle) oder auch vollständige Maschinen- und Anlagenmodelle automatisiert, qualitativ abgesichert und hinsichtlich unterschiedlichster Kriterien überprüft werden. Beim automatisierten Test der Steuerungssoftware wird das Verhalten sowohl in normalen als auch in den üblicherweise in sehr viel größerer Anzahl auftretenden irregulären Betriebsfällen getestet. In [11] wird das Testautomatisierungs-Werkzeug ISG-dirigent vorgestellt, welches die Tests am Digitalen Zwilling mit ISG-virtuos automatisiert.
Online-Plattform für Digitale Modelle [12]: Zunehmend suchen Komponentenhersteller nach Lösungen zur Bereitstellung von digitalen Modellen ihrer realen Komponenten mit dem Ziel, dass deren Kunden neue Automatisierungskonzepte schnell und möglichst vollständig virtuell validieren und Steuerungssysteme im Entwicklungsprozess anhand einer Virtuellen Inbetriebnahme eingehend testen und optimieren können. Dabei spielt die Verfügbarkeit von Komponentenmodellen verschiedener Hersteller eine entscheidende Rolle. Dies kann mithilfe einer digitalen Modellaustauschplattform für Komponenten- und Anlagenlieferanten sowie Anlagenbetreiber erzielt werden. Die über das Internet zugängliche Online-Plattform „TwinStore“ ermöglicht die Bereitstellung und den Austausch von Simulationsmodellen zur Virtuellen Inbetriebnahme. TwinStore bildet damit eine digitale Wertschöpfungskette zwischen Komponentenherstellern, Systemlieferanten (Maschinen- und Anlagenbauer) sowie Betreibern der Anlagen.
Mixed-Reality-in-the-Loop Simulation [13, 14]: In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt „Hybrides Interaktionskonzept für Schulungen mittels Mixed-Reality-in-the-Loop Simulation (MRiLS)“ wird von einem Konsortium aus wissenschaftlichen und industriellen Partnern die Erweiterung der VIBN um moderne Visualisierungs- und Interaktionsmethoden der Mixed Reality für die Schulung technischer Fachkräfte im Maschinen- und Anlagenbau erforscht. Statt der bislang bei der VIBN eingesetzten exozentrischen (benutzerunabhängigen) auf einen 2D-Monitor projizierten Visualisierung kommt bei der MRiLS mittels Mixed Reality-Brille eine egozentrische (benutzerabhängige) Visualisierung sowie eine intuitive und multimodale Interaktion zwischen Mensch und Digitalem Zwilling zum Einsatz. Dazu wurde ISG-virtuos mit einer von der Hochschule Esslingen im Virtual Automation Lab (VAL) entwickelten Digital Twin as a Service Plattform gekoppelt. Diese Plattform ermöglicht eine standortunabhängige Visualisierung und Interaktion mit der virtuellen Szene. Die dadurch realisierte MRiLS integriert sowohl den Menschen und dessen Verhalten als auch die reale Umgebung vollständig in den Simulationskreislauf (Abb. 4.7).

4.3 Einführung der Virtuellen Inbetriebnahme im Unternehmen

Neben der technologischen Weiterentwicklung von ISG-virtuos wurden in den vergangenen Jahren Anwendungsszenarien für eine wirtschaftliche Einführung der Virtuellen Inbetriebnahme in einen digitalen Engineeringprozess im Maschinen- und Anlagenbau entwickelt. Aus Nutzersicht ergaben sich folgende Anwendungsszenarien für den Digitalen Zwilling:
  • Test der Steuerungsapplikation ohne die Notwendigkeit einer testbedingten Änderung der Steuerung oder des Steuerungsprogramms in Analogie zu den Tests an einer realen Maschine bzw. Anlage,
  • Test des Gesamtsystems unter Berücksichtigung aller an der Automatisierungslösung beteiligten Komponenten und der echten Produktionsdaten/Leitsysteme im Sinne eines Systemtests. Hierbei wird die kostenintensive Vorabinbetriebnahme in Produktionshallen des Anlagenherstellers durch die VIBN bei gleicher oder teilweise sogar besserer Testtiefe abgelöst,
  • Test von irregulären Szenarien, wie die Reaktion der Steuerung auf Fehlersituationen, sowie der funktionalen Sicherheit (safety),
  • Nutzung des Simulationssystems während des Produktionshochlaufs und begleitend während der Produktion zur Überwachung und Optimierung,
  • Nutzung als Schulungssystem für die Fortbildung und Qualifizierung des Personals beim Betreiber ohne Kosten und Risiken, die aus der Verwendung einer realen Anlage resultieren würden,
  • Nutzung des Simulationssystems für innovative Servicekonzepte parallel zur Betriebsphase.
Die o. g. Anwendungsszenarien zeigen, dass die erforderliche Simulationsplattform hohe Anforderungen hinsichtlich der realistischen Abbildung des Anlagenverhaltens an der Schnittstelle zwischen Anlage und Steuerung erfüllen muss.
Die meisten Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus nutzen zunächst die VIBN als Werkzeug, um die operativen Kosten der realen Inbetriebnahme zu reduzieren. Hierzu zählen im Wesentlichen Personal-, Material- und Transportkosten. Betrachtet man jedoch weitere von der Inbetriebnahme abhängige Kostenpositionen, wird deutlich, dass spät erkannte Fehler bei der Inbetriebnahme auch Gemeinkosten verursachen, die durch Kulanzen, Gewährleistungen, Vertragsstrafen usw. zustande kommen können. Neben den unmittelbaren kurzfristig Kosteneinsparungen ergeben sich zudem weitere wertschöpfende Potentiale im Betrieb einer Anlage wie bspw. die Einsparung von Stillstands- und Umrüstkosten sowie die Möglichkeit Schulungen und innovative Serviceangebote auf Basis des Digitalen Zwillings anbieten zu können. Die praktischen Erfahrungen bei der Einführung der VIBN in zahlreichen Unternehmen sind u. a. im Leitfaden „Virtuelle Inbetriebnahme“ des VDMA als Handlungsempfehlungen zum wirtschaftlichen Einstieg aufgenommen worden [15].
Abb. 4.8 zeigt den Einsatz eines Digitalen Zwillings über den Lebenszyklus einer Automatisierungslösung.
Unter Verwendung originaler Engineeringdaten können mithilfe des Digitalen Zwillings bereits im frühen Entwicklungsstadium Automatisierungslösungen entworfen, überprüft und optimiert werden. Bereits vorhandene CAD-Daten und Elektrokonfigurationen können direkt in ISG-virtuos importiert werden. Um einen möglichst effizienten Nutzen zu erzielen, ist der Einsatz des Simulationswerkzeugs bereits in einer sehr frühen Phase der Entwicklung empfehlenswert, da frühzeitig alternative Konzepte unter Beteiligung der mechanischen Konstruktion, der Elektrokonstruktion und der Softwareentwicklung im Sinne der mechatronischen Systementwicklung untersucht und die optimale Lösung für die Kundenanforderung hinsichtlich Funktionalität und Performance entwickelt werden kann.
Durch die Etablierung der Virtuellen Inbetriebnahme und die Verwendung von Digitalen Zwillingen im Unternehmen kann ein messbarer Nutzen generiert werden. Zu den qualitativen Nutzen gehören Verkürzung des „time to market“ und „time to produce“ resp. SOP, Imagesteigerung aufgrund der hohen Qualität der Anlagen sowie neue Geschäftsmodelle wie Dienstleistungen im After Sales. In der nachfolgenden Aufzählung werden die Nutzenpotentiale für Systemlieferanten zusammengefasst (nach [15]).
  • Verkürzung der Projekt-Durchlaufzeit (Zeit)
    • Effiziente und parallelisierte Engineeringprozesse (Simultaneous Engineering)
    • Frühzeitige Erprobung der Steuerungssoftware
    • Vermeidung des Aufbaus kompletter Anlagenteile zur Vorabnahme
    • Verkürzung der realen Inbetriebnahme und der Anlaufphase
  • Steigerung der Produktqualität (Qualität)
    • Höhere Softwarereife durch gesteigerte Testabdeckung
    • Evaluation der Kommunikation zwischen Steuerung und Hardwarekomponenten
    • Vermeidung von fehlenden Komponenten oder fehlender Software
    • Virtuelle Tests kritischer und riskanter Anlagenzustände
    • Vermeidung von Unfall- und Gefahrensituationen für Personen
    • Optimierung von Steuer- und Regelstrategien in frühen Engineeringphasen
  • Höhere Effizienz in der Projektabwicklung (Kosten)
    • Vermeidung von nachträglichen Änderungen im Engineering
    • Reduzierung von Hardwarekosten und Aufbauarbeiten für Testzwecke
    • Automatisierte Testausführungen
    • Reduzierte Reisekosten für die Inbetriebnahme
    • Vermeidung von Vertragsstrafen
  • Verbessertes Maschinen- und Prozessabbild (Transparenz)
    • Höhere Transparenz der Anlagen (-funktionalität) für Engineering und Management
    • Testläufe mittels Simulation, Reproduzierbarkeit von Testszenarien
    • Abstimmung und Anpassung mit Betreiber im Engineering
  • Kurzzyklische Regelkreise (Reaktionsfähigkeit)
    • Frühzeitiges Feedback
    • Interdisziplinäre Projektteams und kurzzyklische Meilensteine zur Synchronisierung
    • Dezentrale, virtuelle Durchführung von Inbetriebnahmeprozessen

4.4 Zusammenfassung und Ausblick

Im vorliegenden Beitrag wurden die Innovationsschritte bei der Entwicklung von ISG-virtuos von einem Simulationswerkzeug für die Steuerungsentwicklung hin zu einer umfassenden Entwicklungsplattform zum Aufbau von Digitalen Zwillingen für alle entscheidenden Phasen des Engineerings im Maschinen- und Anlagenbau beleuchtet. Es wurden die maßgebenden Anforderungen an die Simulationsplattform aufgezeigt und daraus die erforderlichen Technologien und Funktionen abgeleitet sowie Weiterentwicklungen beschrieben. Neben den technologischen Aspekten wurde auch die Einführung der Virtuellen Inbetriebnahme (VIBN) in Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus auf Basis dieser Simulationsplattform anhand praktischer Erfahrungen dargestellt. Die VIBN ist heute in führenden Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus entweder bereits etabliert oder als Teil der digitalen Wertschöpfung strategisch geplant. Sie kann als Keimzelle für die Einführung und Umsetzung von Digitalen Zwillingen in Maschinenbau-Unternehmen dienen und hat das Potenzial auf alle Phasen der Wertschöpfung ausgerollt zu werden. In enger Kooperation mit Forschungseinrichtungen werden fortlaufend die zukünftigen Technologieentwicklungen untersucht und in die Weiterentwicklung der Simulationsplattform einfließen.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Literatur
2.
Zurück zum Zitat Verein Deutscher Ingenieure (2015) Virtuelle Inbetriebnahme – Modellarten und Glossar. Beuth, Berlin Verein Deutscher Ingenieure (2015) Virtuelle Inbetriebnahme – Modellarten und Glossar. Beuth, Berlin
4.
Zurück zum Zitat Daniel C (2020) Ganze Fabriken simulieren. AUTOCAD & Investor Magazin 5:2020. WIN-Verlag GmbH & Co. KG Daniel C (2020) Ganze Fabriken simulieren. AUTOCAD & Investor Magazin 5:2020. WIN-Verlag GmbH & Co. KG
5.
Zurück zum Zitat Röck S (2007) Echtzeitsimulation von Produktionsanlagen mit realen Steuerungssystemen, Dissertation. Jost-Jetter Verlag, Heimsheim Röck S (2007) Echtzeitsimulation von Produktionsanlagen mit realen Steuerungssystemen, Dissertation. Jost-Jetter Verlag, Heimsheim
6.
Zurück zum Zitat Scheifele D, Eger U, Röck S, Sekler P (2007) Potentiale der Hardware-in-the-Loop Simulation für Maschinen und Anlagen. In: Verl A, Bender K (Hrsg) Elektrische Automatisierung – Systeme und Komponenten: SPS/IPC/Drives 2007, Fachmesse & Kongress, 27.–29. Nov. 2007. ISBN 9783800730698. VDE-Verlag, Nürnberg Scheifele D, Eger U, Röck S, Sekler P (2007) Potentiale der Hardware-in-the-Loop Simulation für Maschinen und Anlagen. In: Verl A, Bender K (Hrsg) Elektrische Automatisierung – Systeme und Komponenten: SPS/IPC/Drives 2007, Fachmesse & Kongress, 27.–29. Nov. 2007. ISBN 9783800730698. VDE-Verlag, Nürnberg
7.
Zurück zum Zitat Pritschow G, Röck S (2004) Hardware in the loop. Simulation of machine tools. Annals of the CIRP 53(1):295–298. Elsevier Pritschow G, Röck S (2004) Hardware in the loop. Simulation of machine tools. Annals of the CIRP 53(1):295–298. Elsevier
8.
Zurück zum Zitat Hoher S (2017) Ein gekoppeltes Materialflussmodell zur durchgängigen Entwicklungsunterstützung von Materialflusssteuerungen. Fraunhofer, ISBN 978–3–8396–1197–5 Hoher S (2017) Ein gekoppeltes Materialflussmodell zur durchgängigen Entwicklungsunterstützung von Materialflusssteuerungen. Fraunhofer, ISBN 978–3–8396–1197–5
9.
Zurück zum Zitat Scheifele S (2019) Generierung des Digitalen Zwillings für den Sondermaschinenbau mit Losgröße 1. Stuttgarter Beiträge zur Produktionsforschung 107. Stuttgart, Univ., Diss., ISBN 978–3–8396–1618–5. Fraunhofer Verlag, Stuttgart Scheifele S (2019) Generierung des Digitalen Zwillings für den Sondermaschinenbau mit Losgröße 1. Stuttgarter Beiträge zur Produktionsforschung 107. Stuttgart, Univ., Diss., ISBN 978–3–8396–1618–5. Fraunhofer Verlag, Stuttgart
10.
Zurück zum Zitat Scheifele C (2019). Plattform zur Echtzeit-Co-Simulation für die virtuelle Inbetriebnahme. Stuttgarter Beiträge zur Produktionsforschung 95. Stuttgart, Univ., Diss., 2019. ISBN 978–3–8396–1534–8. Fraunhofer, Stuttgart Scheifele C (2019). Plattform zur Echtzeit-Co-Simulation für die virtuelle Inbetriebnahme. Stuttgarter Beiträge zur Produktionsforschung 95. Stuttgart, Univ., Diss., 2019. ISBN 978–3–8396–1534–8. Fraunhofer, Stuttgart
11.
Zurück zum Zitat Kübler K, Krebser G (2018) Steuerungssoftware automatisiert prüfen. MM Maschinenmarkt „Der Fokus“ 4. Vogel Communications Group Kübler K, Krebser G (2018) Steuerungssoftware automatisiert prüfen. MM Maschinenmarkt „Der Fokus“ 4. Vogel Communications Group
12.
Zurück zum Zitat Scheifele C, Verl A, Tekouo W, Belgharda S, Mauderer T (2020) Eine Online-Plattform für Digitale Zwillinge. Austausch, Pflege und Bereitstellung von Simulationsmodellen zur virtuellen Inbetriebnahme. atp magazin 62:11–12. Vulkan Scheifele C, Verl A, Tekouo W, Belgharda S, Mauderer T (2020) Eine Online-Plattform für Digitale Zwillinge. Austausch, Pflege und Bereitstellung von Simulationsmodellen zur virtuellen Inbetriebnahme. atp magazin 62:11–12. Vulkan
13.
Zurück zum Zitat Schnierle M, Röck S (2018) Plattform für die Mixed-Reality-in-the-Loop-Simulation – Ein Beitrag zur Mixed-Reality-in-the-Loop-Simulation als Erweiterung der X-in-the-Loop-Methodenreihe. wt-online. Springer-VDI Schnierle M, Röck S (2018) Plattform für die Mixed-Reality-in-the-Loop-Simulation – Ein Beitrag zur Mixed-Reality-in-the-Loop-Simulation als Erweiterung der X-in-the-Loop-Methodenreihe. wt-online. Springer-VDI
14.
Zurück zum Zitat Hönig J, Schnierle M, Scheifele C, Spielmann T, Münster C, Roth A, Röck S, Verl A (2021) Mixed-Reality-in-the-Loop Simulation von Produktionssystemen zur Aus- und Weiterbildung. atp magazin, atp 63 (6–7), Vulkan-Verlag Hönig J, Schnierle M, Scheifele C, Spielmann T, Münster C, Roth A, Röck S, Verl A (2021) Mixed-Reality-in-the-Loop Simulation von Produktionssystemen zur Aus- und Weiterbildung. atp magazin, atp 63 (6–7), Vulkan-Verlag
Metadaten
Titel
ISG-virtuos – der Digitale Zwilling für die Praxis
verfasst von
Christian Scheifele
Dieter Scheifele
Ulrich Eger
Christian Daniel
Edmund Buchal
Sascha Röck
Copyright-Jahr
2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66217-5_4

    Marktübersichten

    Die im Laufe eines Jahres in der „adhäsion“ veröffentlichten Marktübersichten helfen Anwendern verschiedenster Branchen, sich einen gezielten Überblick über Lieferantenangebote zu verschaffen.