15.1.1 Die Einbindung der österreichischen Volkswirtschaft in grenzüberschreitende Warenketten: Klimarelevante Folgen
Österreich ist als kleine, offene Volkswirtschaft hinsichtlich Produktion und Konsum stark in weltwirtschaftliche Produktions- und Austauschprozesse eingebunden. Knapp die Hälfte (48 Prozent) aller österreichischen Exporte in monetären Einheiten bemessen findet innerhalb von globalen Warenketten statt (WTO,
o.J., Daten für 2015).
3 Damit weist Österreich im Vergleich mit anderen Ländern des Globalen Nordens und „emerging economies“ im Globalen Süden eine überdurchschnittliche Beteiligung auf. Im Durchschnitt ist die Einbettung österreichischer Produktionsstandorte in globale Warenketten für die Herstellung von Investitions- und Vorleistungsgütern wesentlich höher als für Konsumgüter. Das ist typisch für Hocheinkommensländer.
Österreichische Standorte sind in Form von Rückwärts- und Vorwärtsintegration in globale Warenketten eingebunden. Rückwärtsintegration bedeutet, dass für Fertigungsschritte in Österreich Zwischengüter bzw. Wertschöpfungsanteile aus dem Ausland importiert und hierzulande weiterverarbeitet werden. Der ausländische Wertschöpfungsanteil in Österreichs Exporten lag 2015 bei 26,5 Prozent (OECD-WTO,
2015; WTO,
o.J.). Chemische und Grundstoffindustrie, Maschinenbau, Elektro- und Fahrzeugindustrie greifen auf importierte Vorleistungen zurück; die Fahrzeug(zuliefer)industrie in Österreich weist mit fast 50 Prozent den höchsten Anteil an ausländischer Wertschöpfung auf. Die meisten Importe kommen aus Deutschland; diese sind allerdings rückläufig, genauso wie Vorleistungen aus der EU-12. Demgegenüber steigen die Wertschöpfungsimporte aus den BRIC-Staaten, vor allem aus China und Russland.
4 Während aus Russland vorrangig Bergbauprodukte kommen, werden aus chinesischen Produktionsstätten Metalle, Metallprodukte, Agrarerzeugnisse, elektrische Maschinen und elektrotechnische Waren bzw. Teile davon importiert (Kulmer et al.,
2015, S. 39–40; Stöllinger et al.,
2018).
Welche Materialien werden für die Produktion importiert? Der relativ höchste ausländische Wertschöpfungsanteil steckt in Grundstoffen (Koks, Holz, Metall, Bergbauprodukte, Papier, Zellstoff). Generell besteht eine ausgeprägte Abhängigkeit von Rohstoffimporten, der Großteil in jeder Rohstoffgruppe kommt aus nichteuropäischen Ländern. Metalle werden zu 71 Prozent, fossile Energieträger zu 58 Prozent und Mineralien zu 55 Prozent aus dem nichteuropäischen Ausland für die Weiterverarbeitung zu Zwischengütern (und anschließenden Export) eingeführt, wobei sich die Importe von Mineralien und fossilen Energieträgern seit 2000 erhöht haben (Giljum et al.,
2017, jeweils ohne Endnachfrage, Zahlen für 2016). Auch 40 Prozent des Biomasseeinsatzes werden aus dem Ausland importiert (Eisenmenger et al.,
2020, S. 35; nach Kalt et al.,
2021 30 Prozent). Zusätzlich zur Entnahme auf österreichischen Landflächen werden ein Drittel der verarbeiteten Feldfrüchte und die Hälfte des verarbeiteten Holzes importiert (Eisenmenger et al.,
2020).
Der Anteil der österreichischen Inputs in Exporten (Vorwärtsintegration) liegt bei 21,3 Prozent und besteht vor allem aus produktionsbezogenen Dienstleistungen, Investitionsgütern und Inputs für langlebige Konsumgüter (z. B. Maschinenteile, Fahrzeugteile). Alleine die gehobenen Unternehmensdienstleistungen sorgen für ein Drittel des heimischen Wertschöpfungsanteils an den Exporten. Auch die Wertschöpfung im österreichischen Groß- und Einzelhandel und Transportsektor fließt der ausländischen (End-)Nachfrage zu. Die inländische Wertschöpfung ist höher als jene, die in importierten Produkten enthalten ist. Das bedeutet, dass österreichische Unternehmen Vorleistungen mit niedrigerer Wertschöpfung importieren und diese „aufgewertet“ exportieren. Das entspricht den Ergebnissen der Forschung zu Warenketten: Aktivitäten mit vergleichsweise weniger Wertschöpfung finden im Globalen Süden oder in Osteuropa statt, hochwertige Aktivitäten wie unternehmensbezogene Dienstleistungen in den Hocheinkommensländern (UNCTAD,
2020).
Österreich exportiert zwar den größten Teil seiner Wertschöpfung nach Deutschland, von dort gelangen Exporte dann aber vielfach nach China, Kanada und in die USA (Stöllinger et al.,
2018, S. 30–31). Das verdeutlicht den Warenkettencharakter heutiger Produktionssysteme. Dass sich wirtschaftliche Beziehungen in der „Factory Europe“ verdichten, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die regionale Verdichtung von Fertigungsprozessen mit „global sourcing“ – bei Rohstoffen, Maschinenteilen, Halbleitern etc. und der darin enthaltenen Arbeit – und globalen Exporten überlagert.
Daten zu monetären und materiellen Export- und Importflüssen geben zwar erste Anhaltspunkte für die Einbindung der österreichischen Volkswirtschaft in globale Warenketten, reichen jedoch nicht aus, um ein abschließendes Bild zu zeichnen. Denn über die Handelsflüsse hinaus sind – vor allem in der Abschätzung von Umweltfolgen der Produktion und des Konsums – sogenannte indirekte Vorleistungen, sowohl in Österreich als auch anderswo, von großer Bedeutung. Wenn in der österreichischen Viehwirtschaft Soja aus Brasilien verfüttert wird, dann geht der Fleischkonsum in Österreich mit gravierenden Landnutzungsveränderungen auf der anderen Seite des Atlantiks einher. Solche Zusammenhänge sind oftmals intuitiv eingängig, aber nicht direkt aus der internationalen Handelsstatistik abzulesen. Sie sind abbildbar mithilfe von monetären Input-Output-Tabellen, die Verflechtungen unterschiedlicher Wirtschaftssektoren national und international messen und indirekte Vorleistungen schätzen (Plank et al.,
2021). Vor allem die Verflechtungen unterschiedlicher Sektoren werden jedoch in der Praxis viel zu wenig berücksichtigt: Gelingt beispielsweise in der Produktion eine Emissionsreduktion in einem Sektor, zum Beispiel in der Automobilzulieferindustrie in Österreich, können Emissionen in einem vor- oder nachgelagerten Sektor im Ausland hoch sein oder gar steigen. Energieeffiziente Fertigungsprozesse und „saubere“ Dienstleistungsinputs in der Automobilzulieferindustrie in Österreich sind auf Rohmaterialen (z. B. Lithium, Kupfer, Bauxit, Magnesium) und Zwischengüter angewiesen, die anderswo unter hohem Ressourcenaufwand und Umweltverbrauch (z. B. Energie, Wasser, Flächenverbrauch) abgebaut bzw. hergestellt werden (Piñero et al.,
2019).
Studien zum globalen Rebound-Effekt – dem Paradoxon, dass durch den Einsatz ressourcensparender Technologie und die Steigerung der Ressourceneffizienz Anreize geschaffen werden, mehr Energie zu verbrauchen – verdeutlichen, dass zum Beispiel Kosteneinsparungen durch Energieeffizienz den Output und Export (und damit Energieverbrauch und Emissionen) steigern können (Barker et al.,
2009; Wei & Liu,
2017). Modellrechnungen zum globalen Rebound-Effekt sind vergleichsweise selten und fehlen für Österreich. Für Deutschland zeigt eine Studie, dass eine zehnprozentige Verbesserung der Energieeffizienz in der deutschen verarbeitenden Industrie mit einem globalen Rebound von 48 Prozent verbunden ist. Das bedeutet, dass fast die Hälfte der erwarteten Energieeinsparung durch verbesserte Energieeffizienz in der Produktion durch Rebound-Effekte aufgezehrt wird (Koesler et al.,
2016).
Doch nicht nur emissionsseitig sind Warenketten entscheidend, wenn wir Österreichs Rolle in der Klimakrise verstehen wollen. Mit der erhöhten Klimavulnerabilität österreichischer Produktions- und Konsummuster setzt sich das Projekt COIN („Cost of inaction: Assessing the costs of climate change for Austria“) auseinander. Durch Importe wasserintensiver Konsumgüter (wie z. B. Textilien) „spart“ Österreich zwar Wasser in der inländischen Produktion, erreicht jedoch auch einen Importanteil von 93 Prozent für das Wasser, das es braucht, um den Endkonsum zu befriedigen. 34 Prozent davon stammen aus Ländern, in denen es bereits jetzt regionale Wasserknappheit gibt (China, Pakistan, Indien und Russland) und die sich mit der fortschreitenden Klimakrise weiter verschärfen wird (Coin-Int,
2019a). Auch wegen der besonderen Abhängigkeit von Wasserressourcen ist die Landwirtschaft in vielen Ländern schon jetzt stark von der Klimakrise betroffen, was – wegen der Einbindung in globale Warenketten – auch die Versorgung in Österreich betrifft: 66 Prozent des in Österreich konsumierten Getreides (für Tierfutter, Lebensmittelindustrie und industrielle Verwertung) stammt aus Importen. Dieser Anteil macht zugleich schon jetzt 98 Prozent der künstlichen Bewässerung aus, die global notwendig ist, um Österreichs Endkonsum zu decken (Coin-Int,
2019b).
Durch seine Integration in Warenketten verbindet Österreich also nicht nur Produktionsstandorte mit unterschiedlichen Emissionsintensitäten miteinander, sondern auch unterschiedlich klimavulnerable Regionen. Das bedeutet: Selbst wenn Österreich eine ausgeglichene Außenhandelsbilanz hätte – also genauso viele Ressourcen von globalen Märkten beziehen würde, wie es bereitstellt (Österreich ist aber Netto-Importeur) –, wäre diese Bilanz hinsichtlich der Umweltauswirkungen noch lange nicht ausgeglichen. Eine „Gegenrechnung“ der Rückwärts- gegen die Vorwärtsintegration der österreichischen Wirtschaft ist aus klimapolitischer Sicht nicht aufschlussreich. Aus globaler Perspektive interessieren die absoluten Emissionen und die mit ihnen verbundenen Umweltauswirkungen, die es zu reduzieren gilt, egal wo in der Welt sie stattfinden.
15.1.2 Bestehende Ansätze internationaler und europäischer Klimapolitik und deren Umsetzung in Österreich
In der Europäischen Union (EU) und in Österreich gibt es verschiedene klimapolitische und industriepolitische Ansätze, die die Struktur von Warenketten beeinflussen (können). In der EU ist das wichtigste Instrument zur Regulierung von Emissionen aus großen Energie- und Industrieanlagen seit 2005 das
europäische Emissionshandelssystem (European Union Emissions Trading System, EU-ETS, im Folgenden
ETS). Dieses marktorientierte Instrument soll CO
2- und andere Treibhausgasemissionen reduzieren und dazu beitragen, das Emissionsreduktionsziel zu erreichen, zu dem sich die EU im Rahmen des Pariser Abkommens (COP16) verpflichtet hat, nämlich die Reduzierung seiner Treibhausgasemissionen um 40 Prozent bis 2030 (im Vergleich zu 1990). Dieses Ziel wurde im Rahmen des europäischen Green Deal (EGD) „auf mindestens 50 % und angestrebte 55 %“ (Europäische Kommission,
2019a) angehoben. Am ETS müssen Energieanlagen und energieintensive Industrien teilnehmen, z. B. die Eisen- und Stahlverhüttung, Kokereien, Raffinerien und Cracker (Dampfspaltungsanlagen), Zement- und Kalkherstellung, Glas-, Keramik- und Ziegelindustrie, die Papier- und Zelluloseproduktion sowie der Flugverkehr und ab 2024 die Seeschifffahrt (Europäische Kommission,
2023a). Im November 2019 präsentierte die High Level Expert Group on Energy-intensive Industries (HLG EIIs) einen „Masterplan for a Competitive Transformation of EU Energy-intensive Industries“ (Europäische Kommission,
2019c). EU-ETS II reguliert ab 2027 die Emissionen im Straßenverkehr und von Gebäuden.
Mit dem sogenannten Cap-and-Trade-System hebt das ETS weder eine Steuer auf Emissionen ein, noch legt es einen Preis für Emissionen fest. Vielmehr benötigen Firmen die Erlaubnis, in einem bestimmten Ausmaß CO
2 zu emittieren. Diese Erlaubnis erhält man durch den Erwerb von Emissionszertifikaten, sogenannten „allowances“. Eine vorher festgelegte Menge dieser Zertifikate, die sich im Laufe der Zeit verringert, wird jedes Jahr ausgegeben. Es gibt eine maximale Menge an CO
2, die innerhalb der vom ETS abgedeckten Sektoren emittiert werden darf („cap“). Unternehmen steht es allerdings frei, Zertifikate zu kaufen, wenn sie nicht in der Lage sind, die Emissionen zu reduzieren („trade“). Zudem gibt es Gratiszuteilungen an Unternehmen, bei denen wegen der Kostenbelastung durch das ETS das Risiko besteht, dass sie zu Carbon Leakage beitragen, also die Produktion in Drittstaaten außerhalb der EU verlagern (WKO,
2020). Beschlüsse im Rahmen des „Fit für 55“-Pakets haben das ETS nachgeschärft. Die Zuteilung kostenloser Emissionszertifikate nimmt in höherem Tempo ab; bis 2040 soll es keine Gratiszuteilungen mehr geben. Die EU reagierte damit auf die Kritik, dass der Überschuss an (Gratis-)Zertifikaten Klimaschutzinvestitionen verzögert und den Unternehmen Extragewinne beschert hat. Zudem werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Einnahmen aus der Versteigerung von Zertifikaten zur Gänze für Klimaschutzmaßnahmen auszugeben.
Einschätzungen über die Motive für die Einführung des ETS und dessen Wirksamkeit gehen in der Literatur auseinander. Während einige darin den Willen der EU zur globalen Führungsrolle in Sachen Nachhaltigkeit sehen und den Einfluss von Umwelt-NGOs erkennen (Fischer,
2009), werten Kritiker_innen das ETS als taktisches Mittel zur Verwässerung verbindlicher Reduktionsverpflichtungen und eine kosteneffiziente Maßnahme, die vor allem die internationale Konkurrenzfähigkeit nicht gefährdet. Es wird kritisiert, dass marktbasierte Lösungen zu hohe Erwartungen an technologische Innovationen knüpfen; diese dürfen verpflichtende Klimaziele nicht ersetzen. Darüber hinaus spielen beim ETS Importe keine Rolle, was angesichts der transnationalen Produktionsbeziehungen ein Problem darstellt (Beckmann & Fisahn,
2009; Corporate Europe Observatory,
2020; Krüger,
2015, Überblick über Positionen in Bailey et al.,
2011).
Im Bereich der Industriepolitik existieren aktuell mehrere EU-Initiativen, die auch für klimafreundlichere Warenketten sorgen sollen. Ende 2019 präsentierte die Europäische Kommission (EK) den
European Green Deal (EGD), der Richtlinien und Vorgaben für die Mitgliedsländer beinhaltet. Dieser legt Klimaambitionen und einen vorläufigen Zeitplan fest und benennt Maßnahmen, die in verschiedenen Feldern getroffen werden sollen und die auch globale Warenketten betreffen (Europäische Kommission,
2019a,
2019b).
Laut EGD soll Nachhaltigkeit zu einem Querschnittthema aller EU-Politikbereiche werden. Im Bereich der Agrarpolitik wird eine „Vom-Hof-auf-den-Tisch-Strategie“ („From Farm to Fork“) vorgeschlagen. Um die Resilienz regionaler und lokaler Lebensmittelsysteme zu verbessern, hält die Kommission fest, kürzere Lieferketten unterstützen und die Abhängigkeit von Langstreckentransporten verringern zu wollen (Europäische Kommission,
2020c, S. 12–13) [
Kap. 3]. Zumindest im Agrarbereich wird die Verkürzung von Warenketten explizit als Ziel genannt.
In seiner Gesamtheit weist der EGD jedoch in Richtung ökologische Modernisierung. Diese soll durch die Steigerung von Energie- und Materialeffizienz und durch technologische Innovationen die Klimakrise lösen. In seiner jetzigen Form bleibt der EGD wachstums- und innovationsorientiert sowie EU-zentriert. Globale Überlegungen fokussieren auf die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit am Weltmarkt, auf geopolitische Erwägungen und auf Fragen der Rohstoffsicherung (Europäische Kommission,
2019a,
2020b,
2020d).
Jäger & Schmidt (
2020, S. 35, 44) betonen allerdings, dass eine effizientere Ressourcennutzung in der Vergangenheit nicht zu einem geringeren Ressourcenverbrauch geführt hat, weil der Wachstumsimperativ des kapitalistischen Wirtschaftssystems weiter fortbesteht. Sie gehen außerdem davon aus, dass auch bei grünem Wachstum in Zukunft vermehrt globale Ressourcenkonflikte zu erwarten sind und dass die Folgen des Klimawandels vor allem die ärmeren Länder, insbesondere die städtischen und ländlichen Arbeiter_innen in der globalen Peripherie, treffen werden. Corporate Europe Observatory (
2020) bezeichnet den EGD gar als „Grey Deal“, weil nach Einschätzung der Autor_innen die Lobby für fossile Energieträger ihren Einfluss auf die Formulierung des europäischen Green Deal geltend machen konnte.
Der EGD wurde im Februar 2023 durch den
Industrieplan zum Grünen Deal ergänzt. Er ist der Beitrag der EU im globalen Wettlauf um grüne Subventionen und soll vor allem Entwicklung, Herstellung und Einsatz CO
2-neutraler Technologien und Produkte im europäischen Raum fördern. Das übergeordnete Ziel besteht darin, die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Industrie am Weltmarkt zu erhalten bzw. diese in jenen Feldern aufzubauen, in denen sie verloren gegangen oder bisher nicht vorhanden ist. Im Gegensatz zu früheren industriepolitischen Publikationen kommt ein stärker interventionistisch orientierter Ansatz zum Tragen. Gleichzeitig bleibt eine der vier Säulen des Industrieplans offener Handel, der die notwendigen Lieferketten „reißfest“ machen und diversifizieren soll. Teil des Industrieplans sind das
Netto-Null-Industrie-Gesetz sowie das
Gesetz über kritische Rohstoffe (Europäische Kommission,
2023b und
2023c). Während ersteres auf Investitionen in die Entwicklung und Produktion sauberer Technologien abzielt, soll zweiteres den Zugang zu kritischen Rohstoffen sichern. Um „sichere und widerstandsfähige Lieferketten“ zu gewährleisten, sollen Rohstoffquellen diversifiziert und die Zusammenarbeit mit „verlässlichen Partnern“ ausgebaut werden. Die geoökonomische und geopolitische Dimension der Rohstoffsicherung für die Energietransformation wird als „Klimakolonialismus“ oder „grüner Imperialismus“ kritisiert (Paul & Gebrial,
2021).
Zur Stärkung strategischer europäischer Wertschöpfungsketten werden von der EU seit 2014
Important Projects of Common European Interest (IPCEI) gefördert. Die Förderung grüner Technologien spielt eine Rolle, allerdings sind diese klar auf Innovationen ausgerichtet und streben keinen Bruch mit bestehenden Produktionspfaden an: „The dominance of innovation further emphasises this focus on
addition to rather than
disruption of existing unsustainable industries.“ (Pichler et al.,
2021, S. 144, Hervorhebungen im Original)
Aktuell sind österreichische Unternehmen an drei IPCEI-Projekten in den Feldern Mikroelektronik (ME I), Batterieherstellung (EuBatIn) und Wasserstoff (Hy2Use und Hy2Tech) beteiligt (BMAW,
2023). Außerdem wird die Teilnahme am IPCEI Mikroelektronik II (ME II) angestrebt. Das IPCEI „Low CO
2 Emissions Industry (LCI)“ schaffte es in Österreich nicht von der Phase I „Bedarfserhebung“ in die Phase II „Interessenbekundung“ (BMK,
2022a). Dieses sieht die Kooperation von Unternehmen in der EU entlang der gesamten Wertschöpfungskette nach Prinzipien der Kreislaufwirtschaft vor, um die Ressourcen- und Energieeffizienz zu erhöhen. Insgesamt sollen die bestehenden und geplanten IPCEI Innovationen fördern, wo diese marktgetrieben nicht (ausreichend) entstehen (Europäische Kommission,
2020b, S. 14). Ihr Hauptfokus liegt aktuell auf der Absicherung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit sowie auf der Herstellung technologischer Souveränität bei strategischen Gütern. Ökologische Nachhaltigkeit spielt eine Rolle, ist diesen Zielen aber untergeordnet.
Auf nationaler Ebene veröffentlichte das Bundesministerium Digitalisierung und Wirtschaftsstandort (BMDW,
2021) Informationen zu der in Erarbeitung befindlichen
Standortstrategie 2040 „Chancenreich Österreich – digital, nachhaltig wirtschaften“. Ein Schwerpunktbereich ist mit „Nachhaltigkeit und Wertschöpfungsketten“ überschrieben. Ergebnisse wurden bislang allerdings keine präsentiert (Stand Juni 2023). Parallel initiierte das Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) das Projekt „Grüne Industriepolitik“, das drei Projektberichte und eine Begleitstudie vorlegte (Diendorfer et al.,
2021). Das Ziel des Projekts bestand darin zu erheben, welche Unterstützung die österreichische Industrie für die Dekarbonisierung benötigt und wie Emissionen, z. B. durch eine Umgestaltung der Vorketten, reduziert werden können (BMK,
2022b). Inwieweit die erhobenen Daten Eingang in die Praxis finden, bleibt vorerst offen.
Ein weiteres klimarelevantes EU-Projekt, das bestehende Warenketten modifizieren könnte, ist die
Bioökonomie-Strategie (2012, aktualisiert 2018, siehe Europäische Kommission,
2018). Der Ansatz ist eng verwoben mit jenem der Kreislaufwirtschaft und versucht vom Einsatz fossiler Rohstoffe zum Einsatz nachwachsender Ressourcen zu gelangen [zu Bioökonomie siehe auch
Kap. 5; zur Kreislaufwirtschaft weiter unten und im Detail
Kap. 14]. Österreich hat 2019 eine Strategie für Bioökonomie verabschiedet, einen Aktionsplan erstellt und mit „Bioeconomy Austria“ eine Plattform gegründet, um die Bioökonomie in Österreich zu stärken (BMNT, BMBWF & BMVIT,
2019; BMNT, BMBWF & BMVIT,
o.J.; Bioeconomy Austria,
o.J.). Die Maßnahmen zielen auf Forschung, soziotechnische Innovationen und öffentliche Förderung. Gleichzeitig gilt die Bioökonomie als Wachstumsmotor in ländlichen Regionen und als Arbeitsplatzbeschaffer.
Bioökonomie-Strategien werden in der Literatur unterschiedlich bewertet (für einen Überblick siehe Kiresiewa et al.,
2019). Die einen sehen darin einen wichtigen Beitrag zu Klimaschutz und nachhaltiger Entwicklung und heben das Innovationspotenzial der Biowissenschaften hervor. Kritiker_innen verweisen auf die in den Strategien vernachlässigte globale Dimension, wie z. B. die negativen Umweltauswirkungen in den Exportländern, die Inwertsetzung von Biodiversität im Globalen Süden oder die internationale Konkurrenz bei Forschung und Entwicklung. Der Wettbewerbsvorteil europäischer Unternehmen bei Umwelttechnologien könne ärmere Länder bei Erwerb und Anwendung vor Probleme stellen und bestehende Ungleichheiten weiter vertiefen (Backhouse et al.,
2021; Backhouse & Lühmann,
2020).
Eine Bilanzierung der in Österreich verbrauchten Biomasse zeigt, dass diese zu 55 Prozent aus der heimischen Forst- und Landwirtschaft und zu 30 Prozent aus den Nachbarländern stammt; Biomasse aus Nicht-EU-Ländern (verwendet vor allem für Tierfutter) macht 7,6 Prozent des Biomassefußabdrucks aus (Kalt et al.,
2021). Biomasse zur Energiegewinnung ist stark regional verankert. Dennoch braucht es nach Kalt et al. (
2021), gerade weil es sich um einen globalen „Wachstumsmarkt“ handelt, eine integrierte Analyse globaler Biomassestoffströme und des Fußabdrucks, den sie in den Exportländern hinterlassen [zu den Ziel- und Interessenkonflikten bei Bioökonomiestrategien siehe
Kap. 5].
Neben der Bioökonomie hat in der EU das Konzept der
Kreislaufwirtschaft während der letzten Jahre immer größere Bedeutung erlangt (Europäische Kommission,
2020a). Es zielt darauf ab, von einem linearen Modell der Produktion und des Konsums zu einem nachhaltigen, kreislaufartigen Modell zu gelangen [
Kap. 14]. Zirkuläre Wirtschaftsmodelle würden die Struktur von Warenketten verändern. Die Europäische Investitionsbank hat im Jahr 2019 mit fünf nationalen Förderbanken aus Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen die „Gemeinsame Initiative für die Kreislaufwirtschaft“ gestartet. Bis 2023 sollen mindestens zehn Milliarden Euro investiert werden (EIB,
2020). In Österreich wurde auf Vorschlag des BMK Ende 2022 eine nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie beschlossen. Darin werden neben einer Steigerung der Ressourcenproduktivität und des Recyclings auch absolute Reduktionsziele beim Ressourcenverbrauch formuliert (BMK,
2022c). Die Erstellung wurde vom Umweltbundesamt und der überparteilichen Plattform ÖGUT betreut; das Beratungsunternehmen Pöchhacker Innovation Consulting lieferte Analysen zu Förderinstrumenten und Initiativen, die in EU-Mitgliedsländern im Einsatz sind (z. B. Scherk & Pöchhacker-Tröscher,
2022). Mit „Circular Futures“ besteht eine Multi-Stakeholder-Plattform, die sich als Think Tank und Katalysator „für mehr Kreislaufwirtschaft in Österreich“ versteht (Circular Futures,
o.J.).
Eine Zwischenposition zwischen linearen Warenketten und kreislaufförmigen Warenketten nehmen „closed-loop supply chains“, „green supply chains“ oder „environmental supply chains“ ein, die als nachhaltig ausgerichtete Warenketten auch die Wiederverwertung oder Entsorgung eines Produktes nach Gebrauch miteinbeziehen. Farooque et al. (
2019) kritisieren allerdings, dass diese Konzepte kreislaufwirtschaftliches Denken nicht systematisch integrieren. Sie führen daher eine umfassende Literaturstudie zu „Circular Supply Chain Management (CSCM)“ durch, welches das Management von Warenketten mit dem Konzept der Kreislaufwirtschaft verbindet, und benennen Forschungslücken, die in dieser Hinsicht bestehen.
Das Konzept der Kreislaufwirtschaft stellt zwar auf globale Umweltrisiken ab und sucht diese zu minimieren; auch die Notwendigkeit der Kreislaufförmigkeit von globalen Warenketten wird als Bedingung für nachhaltige Produktion betrachtet (Geissdoerfer et al.,
2017). Wie sich die Anwendung kreislaufwirtschaftlicher Konzepte auf Lieferketten auswirkt, muss jedoch im Einzelfall untersucht werden. Es gibt Hinweise, dass eine regional gut funktionierende Kreislaufwirtschaft Nachhaltigkeitsprobleme an anderen Orten verursachen kann: „There are many examples of efficiency, environmental and social gains in local and regional economies that have resulted, either directly or indirectly, through supply chains, value chains, product life cycles and their networks, into difficult problems in other locations“ (Korhonen et al.,
2018, S. 42). So kann beispielsweise eine hocheffiziente Nutzung von Energie und Ressourcen in der Papierindustrie hierzulande mit Holzeinschlag und Entwaldung andernorts einhergehen.
Jüngst gelangten globale Lieferketten im Zuge der COVID-19-Pandemie in die öffentliche Diskussion. Dies war allerdings weniger klimapolitischen Erwägungen geschuldet. Die Debatte kreiste vielmehr um Fragen von Versorgungssicherheit bei „kritischen“ oder „essenziellen“ Gütern.
Re- oder Backshoring – die Rückverlagerung von Teilen oder der gesamten Produktion in die großen Verbrauchermärkte – beinhaltet zumindest indirekt eine klimapolitische Dimension durch eine Verkürzung der Transportwege und (potenziell) strengere Umweltauflagen. Eine Studie zu den EU-Lieferketten ausgewählter Medizinprodukte, von Halbleitern und Solarpanelen stellte fest, dass es auf EU-Ebene keine Einigkeit über einzuschlagende Resilienzstrategien gibt (Raza et al.,
2021a). Raza et al. (
2021a, S. 74) gehen jedoch davon aus, dass die „grüne Wende“ wahrscheinlich zu kürzeren und stärker regionalisierten Warenketten führen wird, da verschiedene geplante EU-Politiken wie die Einpreisung ökologischer Externalitäten, die Harmonisierung nationaler Regulierungsregime und die Förderung der Kreislaufwirtschaft Offshoring und Outsourcing in der Produktion weniger rentabel machen. Bislang klaffen politische Absichtserklärungen und Studien zu möglichen Reshoring-Projekten auf der einen und reale Unternehmensstrategien auf der anderen Seite allerdings auseinander (Kolev & Obst,
2022). Eher sind es geopolitische Konflikte, Probleme mit der Qualität oder die Abhängigkeit von einem einzigen Zulieferer, die Konzerne zur Veränderung ihrer Beschaffungsmodelle bewegen (Butollo,
2020).
Öffentliche Beschaffung ist eine weitere Möglichkeit, lokale und regionale Warenketten zu stärken und die Ökologisierung der Wirtschaft voranzutreiben. Die im Jahr 2014 verabschiedeten EU-Vergaberichtlinien ermöglichen bei öffentlichen Vergaben neben der Anwendung des Billigstbieterprinzips auch das Bestbieterprinzip sowie die Auswahl des Angebots mit den geringsten Kosten (gerechnet über den gesamten Lebenszyklus). Beim Bestbieterprinzip muss neben dem Angebotspreis mindestens ein weiteres Zuschlagskriterium angegeben werden. Die Kriterien müssen außerdem gewichtet werden. Hier bietet sich öffentlichen Einrichtungen die Möglichkeit für „strategische Beschaffung“, die auch ökologische (und/oder soziale) Kriterien in die Ausschreibung miteinbezieht. Da das öffentliche Beschaffungsvolumen in den meisten europäischen Staaten hoch ist, hat die öffentliche Verwaltung eine relevante Nachfragemacht und kann somit nachfrageorientierte Industriepolitik betreiben (Salhofer,
2019).
In Österreich gab es bereits vor der Verabschiedung des neuen Bundesbeschaffungsgesetzes im Jahr 2018 die Möglichkeit, das Bestbieterprinzip anzuwenden. Etwas mehr als die Hälfte der Vergaben wurden laut einer WIFO-Studie zwischen 2009 und 2016 nach dem Bestbieterprinzip abgewickelt, allerdings wurde in 44 Prozent der Fälle der Preis mit mindestens 80 Prozent gewichtet und in 20 Prozent der Bestbieterverfahren gar mit 95 Prozent. Die Studienautor_innen Hölzl et al. (
2017, S. 37) bemerken dazu: „Eine derart häufige äußerst geringe Gewichtung preisfremder Kriterien in Bestbieterverfahren wird von keinem anderen untersuchten Land [FR, UK, NL, FI, SE, DE, IT, SI, PL; Anm. d. A.] erreicht.“
Der bereits zehn Jahre bestehende Aktionsplan nachhaltige öffentliche Beschaffung (naBe) wurde 2021 mit neuen Kriterien für die Beschaffung von 16 Produktgruppen erweitert. Es soll die regionale Wertschöpfung gefördert werden und „Bewusstsein für die Auswirkungen entlang der gesamten Lieferkette eines Produkts“ geschaffen werden (naBe,
2021). In Österreich betonen zahlreiche Gemeinden, z. B. Wien und Linz, auf ökologische und nachhaltige Beschaffung zu achten (Stadt Linz,
o.J.; Stadt Wien,
o.J.). Die systematische Umgestaltung von Warenketten nach ökologischen Gesichtspunkten ist dabei aber kein Ziel.
Schließlich gibt es Initiativen, durch
Lieferkettengesetze transnationalen Konzernen umweltbezogene Sorgfaltspflichten entlang ihrer Lieferketten aufzuerlegen. Seit 2015 tagt im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe, um ein internationales Abkommen (UN-Treaty) auf den Weg zu bringen. Der vorliegende dritte Entwurf beinhaltet das Recht auf eine sichere, saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt als Teil der Grundfreiheiten, ohne Umweltgesetze und Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzung zu spezifizieren. Die EU-Kommission hat eine Richtlinie für ein EU-Lieferkettengesetz vorgelegt, die das EU-Parlament im Juni 2023 nachgebessert und beschlossen hat (Europäisches Parlament,
2023). In der EU ansässige Unternehmen ab 250 Beschäftigten und einem weltweiten Umsatz von über 40 Millionen Euro werden zu Sorgfaltspflichten entlang ihrer Lieferkette verpflichtet. Auch Unternehmen, die Teil eines Konzerns mit mindestens 500 Beschäftigten und 150 Millionen Umsatz sind, sollen einbezogen werden. Sie müssen Klimaschutzpläne umsetzen und negative Auswirkungen auf Umwelt oder auf Menschenrechte, die sie verursacht haben oder mit denen sie in Verbindung stehen, beseitigen. Zivilrechtliche Haftung, das heißt dass Betroffene vor einem EU-Gericht Klage einreichen und Entschädigung erwirken können, ist vorgesehen; Behörden können Sanktionen und Strafen verhängen. NGOs kritisieren die rechtlichen Hürden für Betroffene und Ausnahmen für den Finanzsektor. Trilog-Verhandlungen (Rat, Parlament, Kommission) entscheiden über den endgültigen Text [Stand Juni 2023; andere Initiativen im internationalen Klimaschutzrecht
Kap. 11].