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2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

9. Kommunikationsmacht

verfasst von : Jo Reichertz

Erschienen in: Kommunikationsmacht

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Manchmal haben auch amerikanische Gangster der Kommunikationswissenschaft etwas zu sagen. So z. B. John Dillinger (1903–1934), der, angesprochen auf die Macht der Kommunikation, folgende von der Erfahrung gesättigte Weisheit vorgetragen haben soll: „Nichts ist so überzeugend wie ein gutes Argument. Außer vielleicht“, so soll Dillinger, der im Alter von 31 Jahren von einem FBI Agenten erschossen wurde, nach einer kurzen Weile des Nachdenkens ergänzt haben, „ein gutes Argument verbunden mit einer geladenen Pistole.“ Dieses Arrangement von Argument und geladener Pistole ist später in der Formulierung: „Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann.“ erst in die Mediengeschichte und dann in den gesellschaftlichen Bestand der geläufigen Redensarten eingegangen. Es besagt, dass hinter dem Argument die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Gewaltanwendung stehen, und dass diese letztlich die Kraft des Arguments ausmachen.

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Fußnoten
1
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, soll hier erwähnt werden, dass in einer anderen Film-Geschichte Al Capone diese Weisheit von der Macht der Pistole zugeschrieben wird. So soll Al Capone (bzw. Robert de Niro als Darsteller von Al Capone) gesagt haben: „You can go a long way with a smile. You can go a lot farther with a smile and a gun“. Nach dieser Version ergänzt Al Capone nicht das gute Argument mit einer geladenen Waffe, sondern das Lächeln. Lächeln ist der gestisch-mimische Ausdruck einer freundlichen Zuwendung. Entscheidend ist, dass Al Capone als letztlich ausschlaggebenden Faktor für die Durchsetzung seiner Wünsche die Androhung direkter und massiver Gewalt ansieht. Deshalb wird er hier als Verkörperung des Idealtypus Körpermacht angesehen. Dabei ist völlig unwichtig, ob er das jemals wirklich so oder in ähnlicher Form gesagt hat.
 
2
Auch hier zeigt sich, wie wenig die Sprache auf die Logik angewiesen ist. Denn natürlich geht es nicht darum, dass jemand sein Geld freiwillig hergibt. Aber das bedeutet ein solcher Satz auch gar nicht. Wollte man den Räuber auf die logische Ungenauigkeit hinweisen, wäre das ein interessantes Krisenexperiment.
 
3
Vieler gegenteiliger Einschätzungen zum Trotz hat das Mittelalter sein Selbstverständnis nicht nur in Texten und Monumenten formuliert, sondern (und diese Formen findet man außerhalb und innerhalb von Europa auch heute noch) vornehmlich und vorrangig in theatralen Prozessen, also in Festen, Spielen, Ritualen, Wettkämpfen, politischen Veranstaltungen, Events, Konzerten, allen Arten von Schauspielen. ‚Aufführung‘ meint dabei, so Erika Fischer-Lichte, „ein strukturiertes Programm von Aktivitäten, das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort von einer bestimmten Gruppe von Akteuren vor einer Gruppe von Zuschauern“ (Fischer-Lichte 2003: 15) durchgeführt wird. Aufführungen sind demnach stets ‚performativ‘, insofern sie a) mittels Durchführung eine Handlung setzen, b) selbstreferentiell und c) wirklichkeitskonstituierend sind. Sie sind aber auch Ereignisse, „insofern sie einmalig und unwiederholbar sind“ (ebd.). Das Performative ist getragen von einem gesellschaftlich bekannten Code, ohne den es nicht auskommen kann, aber in dem performativen Prozess als singuläres Ereignis wird neue Bedeutung geschaffen, auch jenseits des kulturellen Codes. „Als solches ereignet sich Bedeutung hier – Bedeutung emergiert als ein Ereignis, Bedeutung wird zum Ereignis“ (ebd.: 30).
 
4
Ähnlich und etwas genauer heißt es bei Weber 1972: „Unter ‚Macht‘ wollen wir dabei hier ganz allgemein die Chance eines Menschen oder einer Mehrzahl solcher verstehen, den eigenen Willen in einem Gemeinschaftshandeln auch gegen Widerstand anderer daran Beteiligter durchzusetzen“ (Weber 1972: 531). Aus ‚jede Chance‘ ist ‚die Chance‘ geworden, aus ‚Widerstreben‘ wird ‚Widerstand‘, was etwas aktiver ist und der Mensch ist ergänzt um ‚eine Mehrzahl‘, was Gruppen und korporierte Akteure mit ins Spiel bringt und den Machtbegriff erweitert.
 
5
Giddens, der Macht ähnlich wie Weber entwirft, betont allerdings das transformative Potential der Macht. „Wir können nun Macht definieren als den Gebrauch von Ressourcen (welcher Art auch immer), um ein Ergebnis zu erzielen. Macht wird dann ein Element des Handelns. Es bezieht sich auf die ganze Bandbreite von Eingriffen, zu denen ein Akteur fähig ist. In diesem weiten Sinne ist Macht gleichbedeutend mit der transformativen Kapazität menschlicher Handlungen: der Fähigkeit menschlicher Wesen nämlich, in eine Abfolge von Geschehnissen so einzugreifen, dass ihr Verlauf geändert wird. (…) Die Produktion und Reproduktion von Interaktion beinhaltet Macht als transformatives Element (Giddens 2012: 166).
 
6
Ähnliches gilt auch für die Herrschaft aufgrund des Gewohnheitsrechts. Herrschaft resultiert hier vor allem aufgrund der früheren bewährten Tradition. Hier vertraut der Nachfolger einer sich historisch entfalteten Rationalität der Lebensführung.
 
7
Eine ähnliche Erklärung findet sich, wenn es um den Kult des Bildes geht. So galten bis ins Mittelalter Bilder, auf denen Christus und die Heiligen zu sehen waren, in der westlichen und hier insbesondere in der christlichen Kultur nicht als Darstellungen von historischen oder biblischen Ereignissen, sondern die Bilder waren selbst eine Form des Göttlichen bzw. die Heiligen selbst. Bilder waren die Repräsentation des abwesenden Jenseits im aktuellen Diesseits. Deshalb verdienten diese Bilder, da sie Idole waren, nicht nur Verehrung (Proskynesis), sondern auch und handgreiflich Anbetung (Latreia). Das Bild besaß magische Kraft, es konnte Wunder bewirken, es konnte heilen, weshalb eine Berührung Kraft besaß. Bilder waren Kultgegenstände. Bilder waren Teil eines Bilderkults (siehe auch: Belting 1993). Bilder suchte man auf, wenn man krank war, berührte sie und erhoffte sich Besserung – und manchmal erhielt man sie auch.
 
8
Siehe dazu auch Soeffner: „Ähnlichkeiten hierzu lassen sich im Spiel von Kindern finden. Hier gibt es offenkundig eine Parallelität in der Sprechmagie der Kinder und jener der ‚frühen‘ Kulturen: Benennen Kinder ein Stuhl als Schiff, dann ist er ein Schiff, jedenfalls solange das Spiel andauert. Hier gibt es einen Wortzauber, mit dessen Hilfe man die gesamte Welt verwandeln kann, in die dann die spielende Gemeinschaft eintritt. So entsteht eine Welt, die ihre Existenz den Worten und dem Zauber der Sprache verdankt.“ (Soeffner 2000: 36).
 
9
Zur Macht der Magier schreibt Bourdieu: „Alle diese Leute, die darum kämpfen, sagen zu dürfen, wie die Welt zu sehen ist, sind Professionelle einer Form des magischen Handelns, die mittels Wörtern, die zum Körper sprechen, ihn ,berühren‘, ,treffen‘ können, eine bestimmte Sicht und einen bestimmten Glauben erzeugen und damit völlig reale Effekte, Handlungen hervorbringen“ (Bourdieu 1992b: 234).
 
10
Siehe hierzu das Thomas-Theorem: „Wenn die Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen real“ (Thomas 1965: 114).
 
11
Das tut z. B. Malinowski, wenn er schreibt: „Die Worte wirken vielmehr […] auf den Magier selbst, auf sein Gefolge und alle, die mit ihm zusammenarbeiten. Der gesellschaftliche Hintergrund ist das eigentlich Wichtige am Studium der Magie; denn dieser mittelbare Einfluß der Worte auf Psyche und Physis der Eingeborenen und folglich auch auf die soziale Organisation liefert den wohl besten Schlüssel zum Wesen magischer Bedeutung“ (Malinowski 1986: 178 f., siehe auch Malinowski 1973 und 1981).
 
12
Eine sehr wichtige Wurzel der antiken Rhetorik ist sicherlich die Rhetorik von Aristoteles (Aristoteles 1999). Er hat in seiner Rhetorik dem Redner völlig zu Recht eine große Bedeutung für die Überzeugungskraft der Rede zugeschrieben. Für ihn hat der Charakter des Redners, sein Ethos, „fast die bedeutendste Überzeugungskraft“ (Aristoteles 1999: 12). Ganz wesentlich hängt diese Überzeugungskraft oder in meinem Begriff: die Kommunikationsmacht des Redners davon ab, dass die Zuhörer_innen ihm vertrauen, dass sie glauben, dass er Charakter besitzt und für das Gesagte einsteht (siehe auch Knappe 2000: 33, Ueding 2005). Mein Konzept der Kommunikationsmacht entwickelt in Teilen eine vergleichbare Argumentation, ergänzt sie jedoch um die Bedeutung der Beziehung zwischen Sprecher_innen und Angesprochenen.
 
13
Zur aktuellen Entwicklung der Rhetorik siehe Adams 2023.
 
14
Darauf, nämlich auf die Bedeutung der Situation, weist Austin im Übrigen in einem anderen Kontext hin, nämlich bei der Frage, ob es sinnvoll ist, kontextfrei Sätze zu deuten: „Was das Zusammentreffen von Feststellungen angeht, sind außerdem – ganz wie bei der Frage, ob ein Rat gut ist – Ziel und Zweck und der ganze Zusammenhang der Äußerung von Bedeutung“ (Austin 1972: 159).
 
15
Dieser These von der Kraft der Konventionen wird in der Literatur häufig widersprochen. Ausdrücklich spricht sich Donald Davidson dagegen aus: „Es gibt keine bekannte, vereinbarte, öffentlich als solche erkennbare Konvention für das Aufstellen von Behauptungen. (…) Aber daß wir Erfolg haben, ist keiner Konvention zu verdanken“ (Davidson 1986: 378).
 
16
Aber auch bei Habermas finden sich Anleihen bei der magischen Kraft der Sprache: So schrieb er in seinem opus magnum von der ‚Versprachlichung des Sakralen‘. Im Anschluss an Mead und vor allem an das Durkheimsche Konzept von der Religion als Ergebnis kollektiv und rituell herbeigeführter außergewöhnlicher Erfahrung formulierte Habermas nämlich die Hypothese „dass die sozialintegrativen und expressiven Funktionen, die zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, auf das kommunikative Handeln übergehen, wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird. Das bedeutet eine Freisetzung des kommunikativen Handelns von sakral geschützten normativen Kontexten. Die Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs vollzieht sich auf dem Wege einer Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grundverständnisses (…). Die Aura des Entzückens und Erschreckens, die vom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und veralltäglicht“ (Habermas 1981, 2. Bd.: 118 f.). Trotz solcher Beschwörungsbemühungen vom kritischen Olymp am Main konnte der von der Kommmunikation getragene Diskurs aber zu keiner Zeit die bannende Kraft des Heiligen erlangen – im Gegenteil: Je häufiger der Diskurs geführt wurde, desto mehr verlor er an Kraft.
 
17
Deshalb beruht die Kritik Bourdieus eher auf einem Missverständnis der Ausführungen von Habermas: „Die illocutionary force, die außersprachliche Macht von Aussagen, ist nun einmal – genau wie bei den ,performativen Aussagen‘, in denen sie bedeutet oder besser, in doppeltem Sinne, repräsentiert wird – in den Wörtern selber nicht zu finden“ (Bourdieu 2005: 101 – ähnlich auch ebd.: 48).
 
18
„Sprecher ohne legitime Sprachkompetenz sind in Wirklichkeit von sozialen Welten, in denen diese Kompetenz vorausgesetzt wird, ausgeschlossen oder zum Schweigen verurteilt“ (Bourdieu 2005: 60).
 
19
„Folglich gehört zur Ausübung symbolischer Macht eine Arbeit an der Form, die (…) dazu bestimmt ist, die Sprachbeherrschung des Redners zu beweisen und ihm die Anerkennung der sozialen Gruppe zu verschaffen“ (Bourdieu 2005: 83).
 
20
Besonders bemerkenswert (und schlagend) sind in diesem Zusammenhang die Studien zu religiösen Sekten mit konkreten Endzeiterwartungen. Wiederholt wurde gezeigt, dass selbst dann, wenn die Erde trotz aller genauen Angaben doch nicht untergeht, dies nicht dazu führt, dass bei den Gläubigen der Glaube an das Weltbild der Sekten nachlässt oder verschwindet, sondern im Gegenteil: der Glaube festigt sich. Siehe hierzu die klassiche Studie von Festinger, Riecken/Schachter 1956. Dass dies alles auch heute noch genauso gilt, zeigt Vyse 2021. Bemerkenswert ist dieser Sachverhalt, weil er zeigt, dass selbst wenn die Fakten augenscheinlich etwas widerlegen, dies noch kein Grund ist, eine Vorstellung aufzugeben. Entscheidend ist hier allein die Kommunikationsmacht der Glaubensführer_innen.
 
21
Beispielhaft hierfür eine Erinnerung von Paul Feyerabend über die Wirkung seiner Argumente: „My use of examples from astrology should not be misunderstood. Astrology bores me to tears. However it was attacked by scientists, Nobel Prize winners among them, without arguments, simply by a show of authority and in this respect deserved a defense.” (Feyerabend 1991: 165).
 
22
In alltäglichen, aber auch in wissenschaftlichen Formen des Argumentierens wird die Angabe der Geltungsansprüche gerne kurzgeschlossen mit dem mystifizierenden Hinweis, dass man ‚Experte‘ auf diesem Gebiet sei. Das Label ‚Experte‘ ist jedoch nichts weiter als eine erworbene und/oder zugeschriebene persönliche Eigenschaft, nämlich dass man sich hinsichtlich eines bestimmten Wissensraums besser als andere auskennt und somit eine Auslegungsautorität besitzt. Der Experte muss deshalb gerade nicht die Geltungsansprüche darlegen und zur Diskussion stellen, sondern für seine Aussagen reklamiert er (unausgesprochen) so etwas wie einen Blankoscheck.
 
23
Bezüglich der Macht der Argumentation herrscht jedoch Skepsis vor: „Theoretische Argumentation hat aber nicht die Überzeugungskraft des praktischen Erfolgs. Was den einen überzeugt, kann den anderen ganz kalt lassen.“ (Berger/Luckmann 1969: 128).
 
24
Eine Bedingung ist z. B., dass man innerhalb einer Argumentation bleibt – was im nichtwissenschaftlichen Alltag meist recht schwierig ist.  Hier ist es oft nicht einfach, jemanden dazu zu bringen, im wissenschaftsnahen Argumentationsspiel zu bleiben. Im Alltag ist es nämlich sehr einfach, daraus auszubrechen. In der Erziehung erreichen dies Eltern oder Lehrer_innen über Anerkennung: „Nur wenn du weiter argumentierst, erkenne ich Dich als erwachsen an.“ In der Wissenschaft geht das ähnlich. Letztlich ist das Kommunikationsmacht. Oft aber auch soziale Macht. Siehe dazu auch Goffman 1977b. Dort hat Goffman gezeigt, dass Rahmen, also auch der Rahmen ‚Argumentation’, in konkreten Situationen nur sehr selten ganz rein vorkommt, und dass es jederzeit möglich ist, diesen Rahmen zu modulieren oder zu wechseln (Goffman 1977b). So kann z. B. jeder während einer Argumentation sagen: „Das ist doch alles Theorie, in der Praxis sieht das ganz anders aus!“ oder: „Das ist doch Wortklauberei, das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun!“. Es geht auch noch einfacher – der Ausruf: „Das ist doch alles Quatsch!“ beendet jede Argumentation. Und wenn einer dies tut, ist jede Argumentation und jede Argumentationskraft dahin.
 
25
Da hier keine Einführung in das Charismakonzept erfolgen soll, weise ich nur auf die wichtigsten Studien hin. Grundlegend: Gebhard 1994 und Soeffner 1993; ergänzend hierzu: Joas 1996: 69 ff. Eine erweiterte Konzeption von Charisma findet sich in Lenze 2002 und die Diskussion, ob Charisma sich mithilfe von Kommunikationstrainings erwerben lässt, findet sich in Heinen 2008.
 
26
Ähnliches gilt auch für die Liebe: Wo Liebe ist, da ist keine Herrschaft, sondern Macht und freiwillige Nachfolge.
 
27
„Sie muß die Stimmen der Vergangenheit und der Zukunft verstehen. Nur so kann sich eine Identität eine Stimme sichern, die durchschlagkräftiger ist als die der Gemeinschaft“ (Mead 1973: 211).
 
28
Ähnlich, wenn auch kritisch gewendet, sieht das Hans Joas. Er glaubt, dass in Webers charismatischem Führer ein Nachhall von Nietzsches Persönlichkeitstheorie zu verspüren ist. denn beim Charismatiker handele es „(…) sich um ein positives Individuum, das imstande ist, mit allen traditionellen oder rationalen Normen souverän zu brechen und eine revolutionäre Umwälzung alle Werte zu initiieren“ (Joas 1996: 73).
 
29
Bekanntlich haben Sokrates, Jesus und Mohammed sich nicht der Schrift bedient und dennoch Nachfolge erreicht. Andere haben selbst dann breite Nachfolge geschaffen, wenn sie schlechte Redner waren. Charisma erwächst nicht aus der guten Rede, sondern aus einer sozialen Übereinkunft zwischen Charismatiker und Gefolgschaft, nicht aus einer besonders gelungenen Form der Präsentation einer Botschaft. Daraus folgt, dass man an der Botschaft arbeiten muss, will man Charismatiker werden oder anderen zu Charisma verhelfen, und nicht an der Fähigkeit des Sprechens und der Kunst der Selbstdarstellung als Charismatiker.
 
30
Hier wird nur die Bedeutung der nicht vermittelten Kommunikation betrachtet. Natürlich hat auch mediale Kommunikation beachtliche Auswirkungen auf die Identitätsbildung – wie z. B. Dagmar Hoffman, Lothar Mikos und Klaus Neumann-Braun nachdrücklich gezeigt haben (vgl. Hoffman/Mikos 2007, Mikos/Hoffman/Winter 2007, Neumann-Braun/Richard 2005).
 
31
Vgl. hierzu auch die Formulierung von Peirce aus dem Jahr 1902: „Eine Behauptung ist eine Handlung, durch die eine Person sich für die Wahrheit einer Proposition verantwortlich erklärt“ (Peirce 1986: 411) und eine weitere aus dem Jahr 1903: „Denn ein Akt der Behauptung setzt voraus, dass, wenn eine Proposition ausgesprochen wird, eine Person eine Handlung vollzieht, die sie den Sanktionen des sozialen Gesetzes (oder jedenfalls des moralischen Gesetzes) unterwirft, sollte sich diese nicht als wahr erweisen, es sei denn, diese Person hat eine bestimmte und ausreichende Entschuldigung“ (Peirce 1983: 75).
 
32
Aus dieser Sicht kann man auch Teile der Kommunikation im Internet (Chats, Rollenspiele etc.) als gesellschaftlichen Großversuch werten zu ermitteln, was möglich und was nicht mehr möglich ist, wenn Worte und Handlungen systematisch entkoppelt werden. Wer neue Seiten von sich selbst erproben und auch ausleben will, findet im Chat gute Möglichkeiten. Wer jedoch Geschäfte machen will, muss sich überlegen, wie sich auch im Netz Wort und Handlung fest aneinander binden lassen.
 
33
Siehe hierzu die Umgrenzung von Max Weber: „Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden“ (Weber 1972: 28). Disziplin resultiert, so kann man Weber ergänzen, aus Einübung, aus immer wieder eingeübter und immer wieder selbstverständlich gelebter Praxis.
 
34
Da das Antworten seinerseits Sprechen ist, gilt hierfür das Gleiche wie für die Disziplinierung des Sprechens.
 
35
In jeder Gesellschaft gibt es so etwas wie eine spezifische Wahrheitskultur. Sie liefert Wissen und Praktiken dazu, wann man wem gegenüber wie die Wahrheit zu sagen hat bzw. wann man wem gegenüber wie die Unwahrheit sagen darf (siehe hierzu Liessmann 2005, Dietz 2003, Reinhard 2006). Es wäre eine reizvolle Aufgabe, einmal eine solche Wahrheitskultur einer Gesellschaft zu rekonstruieren. Ein Teil dieser Wahrheitskultur besteht aus einer Kultur des Vergessens – also dem Wissen und den Praktiken, wann man gegenüber wem glaubhaft geltend machen kann, das, was man gesagt hat, vergessen zu haben. Auch wenn das Vergessen als physiologischer Vorgang sich dem Willen des Akteurs systematisch entzieht, gibt es kulturell bestimmte Sachverhalte, die man nicht vergessen darf. Wenn man es dennoch tut, hat das soziale Folgen.
 
36
Ein Lehrsatz im Übrigen, der für jede Art der sozialwissenschaftlich orientierten Hermeneutik (also auch für die objektive und wissenssoziologische) eine unhinterfragte Prämisse darstellt.
 
37
Besonders deutlich wird der Sachverhalt, dass Wissenschaftler, wenn sie beschreiben auch vorschreiben, bei den schon weiter oben erwähnten Gesprächsmaximen von Grice (1996). Die Maximen: ‚Sei informativ, sei wahr, sei relevant und sei klar!‘ ergäben sich, so der Befund von Grice, nicht aus Macht und Vertrag, sondern allein aus der Vernunft. Deshalb sei deren Befolgung rational (ebd.: 171). Das kann mit guten Gründen bestritten werden, formuliert doch Grice vor allem die Normen der englischen Mittelschicht, wenn es ihr darum geht, ein gesittetes Gespräch zu führen: Wer dagegen jemals Transkripte von natürlicher Interaktion (und nicht nur ausgedachte Beispielsätze) untersucht hat, weiß, dass diese Maximen nicht nur systematisch mit der Sozialschicht und den Gesprächsrahmen variieren, sondern selbst für Angehörige der Mittelschicht nur als grobe Orientierungslinien dienen. Die Unterschicht hat eigene Formen gefunden, ohne die Geltung dieser Maximen erfolgreich zu kommunizieren.
 
38
Die Sprechakttheorie und auch die linguistische Pragmatik glaub(t)en lange Zeit, sie hätten mit dieser oder ähnlichen Formulierungen nur eine wirksame gesellschaftliche Norm rekonstruiert. Sie haben aber mit dem Modell von der Wirklichkeit des Sprechaktes gleichzeitig auch die Norm für eine neue Wirklichkeit in die Welt gesetzt.
 
39
Deshalb kann man überspitzt davon sprechen, dass Demente sehr stark in Gefahr sind, vor dem eigentlichen körperlichen Tod den ‚kommunikativen Tod‘ zu erleiden.
 
40
Wie sehr Schweigen ein aktives kommunikatives Handeln bzw. Tun ist, zeigt sich sehr deutlich, wenn man die kleine Schrift von Hugo von St. Victor De institutione novitorum liest. Dort heißt es in dem Kapitel über die disciplina des Schweigens: „Zeit zu schweigen ist, wenn ein anderer zuerst zu sprechen beginnt, damit wir seine Rede nicht durch das Aussprechen unserer Worte unterbrechen und dadurch den, der spricht, und die, die ihm zu hören, gleichermaßen verletzen. Zeit zu schweigen ist auch, wenn wir feststellen, dass der Sinn der Zuhörer noch nicht bereit ist für das, was wir sagen wollen. Zeit zu schweigen ist auch, um Vielrederei zu meiden und wenn wir selber, die wir sprechen wollen, noch nicht die angemessene Form der Rede gefunden haben; denn der Sinn der Zuhörer wird mehr verletzt, wenn die Rede, die sie erbauen soll, verworren und ungeordnet geäußert wird. Zeit zu schweigen ist, wenn die Anwesenden nicht so geachtet sind, dass wir das Wort an sie richten sollen“ (Hugo von St. Victor zitiert nach Bumke 1999: 75 f.).
 
41
Auch hier wieder ein Zitat von Hugo von St. Victor: „Eine junge Dame soll selten etwas sagen, wenn man sie nicht fragt. Und auch eine erwachsende Dame soll nicht viel sprechen, wenn sie meinen Worten vertraut; besonders beim Essen soll sie nicht reden“ (Hugo von St. Victor zitiert nach Bumke 1999: 76).
 
42
Verwandt mit dieser Funktion des Schweigens ist die Andeutung, über deren Formen und Leistungen man noch sehr wenig weiß.
 
43
Alfred Schütz und Thomas Luckmann sehen dies noch pessimistischer. Sie befürchten: „Wenn, im Grenzfall, der Bereich des gemeinsamen Wissens und der gemeinsamen Relevanzen unter einen kritischen Punkt zusammenschrumpft, ist Kommunikation innerhalb der Gesellschaft kaum noch möglich. Es bilden sich ‚Gesellschaften innerhalb der Gesellschaft‘ heraus. Ob man dann noch von einer Gesamtgesellschaft sprechen kann, hängt natürlich nicht allein von der Struktur des gesellschaftlichen Wissensvorrats, sondern auch von der faktischen Sozialstruktur, vor allem aber von der Machtverteilung ab“ (Schütz/Luckmann 2003: 427).
 
44
Siehe hierzu ausführlicher Kap. 10 Formen und Qualitäten der Macht.
 
45
Grundlegend hierzu: Durkheim/Mauss 1987.
 
46
Hier wird bewusst der Begriff ‚Indiz‘ und nicht der Begriff ‚Symbol‘ verwendet, denn das Symbol repäsentiert etwas, während das Indiz Geschichten erzählt – Geschichten davon, wie etwas vorher war und nachher sein wird, wer der Andere ist, was er im Leben erreicht hat und was er noch erreichen wird. Auch wenn diese Geschichten sozialen Fiktionen sind und manchal auch die Indizien bewusst verfälscht werden, sind sie dennoch interpretaions- und handlungsleitend (vgl. hierzu Ginzburg 1993, Eco/Sebeok 1985, Reichertz 2003 und Krämer et al. 2007).
 
47
Dass die Sorge um das Gesicht des Anderen auch in westlichen Gesellschaften nicht gleich verteilt ist, zeigt sich sehr schön daran, dass wissenschaftliche Tagungen mit deutscher Beteiligung bei Engländern, Schweizern und Amerikaner stets einen gewissen Unmut auslösen. Der deutsche Diskussionsstil, so ein oft gehörtes Argument, ziele nämlich darauf ab, den Anderen klein(er) und den Sprecher groß bzw. größer zu machen. Dabei bliebe nicht nur das Argument auf der Strecke, sondern auch das gute Klima der Diskussion. Als besonders unangenehm wird der Typ von deutschem Wissenschaftler empfunden, der, statt sich mit dem Argument auseinander zu setzen, sich auf die systematische Suche nach formalen Fehlern (falsche Jahreszahlen etc.) begibt und diese dann im Ton eines Oberlehrers vor allen ausbreitet, und zugleich glaubt, auf die Zurkenntnisnahme des Arguments verzichten zu können.
 
48
Deontisch ist abgeleitet vom altgriechischen ‚deon‘, das Seinsollende.
 
49
Eine spezielle Variante des kommunikativen Patronising ergibt sich daraus, dass Erkenntnisse der Freudschen Psychoanalyse, der Hermeneutik und der Kommunikationsforschung trivialisiert in die Alltagspraxis diffundiert sind: Zufällige Versprecher, abseitige Doppeldeutigkeiten, selbst das Fehlen von kommunikativen Handlungen werden als bedeutungsvoll gedeutet und in die Kommunikation wieder eingebracht.
 
Metadaten
Titel
Kommunikationsmacht
verfasst von
Jo Reichertz
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31635-8_9