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18.04.2024 | Nachhaltigkeit | Interview | Online-Artikel

„Keine Investition, die höhere Entropieproduktion verursacht!“

verfasst von: Frank Urbansky

8:30 Min. Lesedauer

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Die Entropie, also die nicht mehr nutzbare Energie, wird bisher bei der Diskussion technologischer Ansätze zur Reduktion der CO2-Konzentration viel zu wenig beachtet. Im Interview erklärt Springer-Autor Dr. Bernhard Weßling, warum eine Orientierung an den Leitsätzen des Zweiten Satzes der Thermodynamik und damit an der Entropie zwingend erforderlich ist.


springerprofessional.de: Sie machen in drei Artikeln den Vorschlag, Entropie als quantitatives Kriterium für „Nachhaltigkeit“ zu verwenden. Warum das, und wie würden Sie das Wesen der Entropie in einem Satz beschreiben?

Bernhard Weßling: Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird inzwischen inflationär verwendet, alles ist plötzlich nachhaltig, ohne dass dies begründet, überprüfbar, geschweige denn messbar wäre. Diese Lücke kann „Entropie“ füllen: Entropie ist niederwertige (also: nicht mehr nutzbare) Energie, ein Maß für den Effizienzverlust eines Prozesses, eines Verfahrens, mit dem wir ein Produkt herstellen oder mit dem wir etwas anderes erreichen. Je höher die Entropie, desto geringer ist der Wirkungsgrad, desto höher sind die Verluste, die nicht nutzbar oder sogar schädlich sind.

Inwieweit ist die Entropie für die Umstellung der Energiewirtschaft auf erneuerbare Energien von Bedeutung?

Mit Hilfe der Entropie können wir eine quantitative Aussage darüber treffen, wie effizient uns bestimmte Maßnahmen in die gewünschte Richtung bringen und ob wir vielleicht irgendwo unbewusst mehr Schaden anrichten, als wir an positiven Effekten erzielen. Wir können also nicht immer nur auf „Klimaneutralität“ oder „CO2-Freiheit“ schauen, ohne gleichzeitig auch die Biodiversität im Auge zu behalten oder gar auf den Zusammenhalt der Gesellschaft zu achten.

Was würde mit der Energiewende passieren, wenn die Prinzipien der Entropie nicht beachtet würden?

Wenn wir nicht aufpassen, werden wir vielleicht alle CO2-Ziele erreichen, aber der Biodiversität dramatischen Schaden zufügen.

Sie beschreiben ausführlich, warum CCS aufgrund der Entropie nicht nachhaltig, sondern sehr schädlich sein kann. Wie kann man das kurz und bündig erklären?

CO2 selbst ist ein Stoff mit einem sehr hohen Entropiewert, es ist ein nicht direkt nutzbares Abfallprodukt. Mehr noch, die Verdünnung von CO2 in der Atmosphäre oder in Abgasen etwa von Zementwerken führt zu einer hohen Entropiezunahme. Wenn wir also CO2 aus der Luft oder aus Abgasen zurückgewinnen wollen, müssen wir dort die Entropie verringern! Das ist den meisten Menschen nicht klar.

Um in einem System Entropie abzubauen (es also wieder nutzbar oder funktionsfähig zu machen), müssen wir ein Vielfaches an hochwertiger Energie einsetzen – und um diese bereitzustellen, erzeugen wir an anderer Stelle wieder Entropie, aber ein Vielfaches dessen, was wir z.B. in der Atmosphäre an Entropie abbauen.

Nach meinen Berechnungen wird etwa die dreifache Entropie neu erzeugt, um die Entropie der Atmosphäre oder der Abgase um eine Einheit zu verringern.

Nun ist die Entropie keineswegs etwas Abstraktes oder nur für akademische Diskussionen geeignet, wie viele meinen. Sie zeigt sich im Insektensterben, in Müllbergen, in zerstörten Landschaften, in Ackerböden ohne Humus und mit extrem wenig Bodenleben, in pestizid- und nitratbelastetem Grundwasser und vielem anderen mehr. Sie zeigt sich in der Natur, in der Landwirtschaft, in der Fischerei, in der Forstwirtschaft, in den Städten und in der Landwirtschaft.

Welche anderen, besseren Möglichkeiten gibt es, CO2 und andere Treibhausgase zu binden?

Die Natur kann CO2 am besten verwerten, und auch das nur mit hohem Energieaufwand! Die dabei entstehende Entropie verbleibt aber zum größten Teil in der Sonne (bis die Sonne auch das nicht mehr kann, was sie derzeit so wunderbar für uns tut), und was bei der Photosynthese an Entropie entsteht, wird von der Erde abgestrahlt; nichts davon bleibt als nutzloser und schädlicher „Müll“ auf der Erde zurück.

Wir dürfen nur nicht glauben, wenn wir die Natur industriell ausbeuten – mit Monokulturen etwa von schnell wachsenden Bäumen oder Mais für „Bio“gasanlagen –, hätten wir nachhaltig gearbeitet. Nein: Wir müssen die Natur in ihrer Vielfalt und segensreichen Komplexität ohne unsere ständigen Eingriffe wirken lassen. Mischwälder mit Lichtungen, auf denen Wiederkäuer weiden, artenreiche Wiesen, biologisch bewirtschaftete Äcker und in diesen natürlichen Systemen Böden voller Kleinlebewesen und Pilzmyzel, dazu Moore, Feuchtgebiete, Seegraswiesen und Kelpwälder: So sollten wir die Natur CO2 binden lassen.

Es gibt genügend Studien, die zeigen, dass wir damit unsere Klimaziele erreichen könnten – ohne Kollateralschäden für die Umwelt, sondern im Gegenteil: mit der Wiederherstellung von Artenvielfalt und vielfältig funktionierenden Ökosystemen, die wir für ein lebenswertes Leben dringend brauchen!

Schlechte Energiebilanzen zeigen sich auch in einer geplanten globalen Wasserstoffwirtschaft. Auch hier sind die heutigen Technologien begrenzt. Bei der Entwicklung von E-Fuels wird wenig auf Effizienz geachtet. Gibt es andere Lösungen?

Schlechte Energiebilanzen deuten auf noch schlechtere Entropiebilanzen hin. Diese Grafik des Ökoinstituts zeigt, wie viel (genauer: wie wenig) von dem vorzugsweise regenerativ erzeugten Strom übrig bleibt:

Erstens erzeugt auch die Bereitstellung regenerativer Energie Entropie, nämlich bei der Herstellung der dafür notwendigen Anlagen und Infrastruktur mit all den dafür notwendigen rohstoff- und energieintensiven (entropieerzeugenden) Prozessen, und zweitens durch Verschleiß: Keine noch so regenerativ Strom erzeugende Anlage hält ewig, und selbst wenn man sie wartet und instand hält, erfordert auch das wieder Rohstoffe und Energie, erzeugt also Entropie, und der Wirkungsgrad dieser Anlage nimmt mit der Nutzungsdauer ab.

Die Lösung ist: Strom muss direkt genutzt werden, nicht über den Umweg der Wasserstofferzeugung mit all seinen Verlusten. Was völlig ignoriert wird: Für die Herstellung von Wasserstoff braucht man Wasser in Trinkwasserqualität, das dort, wo man die Elektrolyse betreiben will, in der Regel nicht zur Verfügung steht (und davon haben wir, global betrachtet, ohnehin nicht genug).

Was würden Sie sich von Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft wünschen – oder: Wie könnte ein allgemeines Prinzip aussehen, das bei allen Entscheidungen die Entropie berücksichtigt?

Vor allem müssen sich alle Entscheidungsträger – und die Medien, insbesondere die Wissenschafts- und Technikjournalisten – mit Thermodynamik und Entropie beschäftigen. Es gibt eine Begeisterung für alles, was mit Quanten zu tun hat, über die Relativitätstheorie kann jeder schlau plaudern, aber die Thermodynamik wird als irrelevant, uninteressant angesehen und deshalb völlig ignoriert.

Entropie wird bestenfalls nicht verstanden, schlimmstenfalls falsch verstanden. Das ist ein fundamentaler Fehler, der dringend korrigiert werden muss, auch an Schulen und Universitäten. Entropie muss im Sinne der Nichtgleichgewichts-Thermodynamik verstanden und angewendet werden.

Dann müssen für die wichtigsten Maßnahmen statt Ökobilanzen Entropieabschätzungen durchgeführt werden. Jedenfalls sollten keine Entscheidungen getroffen und Investitionen getätigt werden für Maßnahmen, die eine höhere Entropieproduktion bzw. einen höheren MIPS-Wert aufweisen. Dies gilt sowohl für CCS und CCU als auch für E-Fuels.

Am 10. April 2024 erschien die Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina (der Nationalen Akademie der Wissenschaften) „Schlüsselelemente des Kohlenstoffmanagements“. Die Leopoldina plädiert dafür, mindestens 60 bis 130 Millionen Tonnen CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen und mittels CCS auch an Land zu speichern und mittels CCU chemisch zu nutzen ...

Man muß schon sagen: Die Leopoldina geht an diese Frage ziemlich unbekümmert einseitig heran. „Nachhaltigkeit“ wird nicht mal erwähnt, genausowenig wie „Biodiversität“. Natürliche Speichermöglichkeiten über Wälder und Moore werden ganz kurz angesprochen, aber als „noch nicht quantifizierbar“ abgewertet. Ich habe in einer kürzer gefaßten Analyse im wesentlichen auf den Energiebedarf dieser Forderung hingewiesen (die Entropiebilanz hatte ich in den 3 Artikeln1 bereits dargelegt): Wenn man etwa 100 Mio Tonnen CO2 in Deutschland aus der Luft entfernen und abspeichern will, benötigt man mehr als 18 % des für 2030 vom Umweltbundesamt angepeilten Primärenergieverbrauchs.

Die Leopoldina hält aber zusätzlich doch auch die chemische Nutzung von CO2 für vielversprechend. Was könnte man damit erreichen? Ist es nicht vielleicht sogar viel sinnvoller, Erdöl als Rohstoffquelle für Chemikalien zu ersetzen, als eine so viel Energie verbrauchende Endlagerung des CO2?

Mit CCU Klimaschutz betreiben zu wollen, ist noch viel absurder; denn sogar weltweit könnten nur 10 % der nicht vermeidbaren CO2-Emissionen aufgefangen und umgewandelt werden, und dennoch würden dafür 2/3 des globalen Gesamtstrombedarfs benötigt (wenn alles, was rein theoretisch aus CO2 hergestellt könnte, bisherige Rohstoffe ersetzen sollte). Das ist natürlich nicht einmal praktisch, geschweige denn aus ökologischer Sicht durchführbar. Mir ist absolut unklar, weshalb diese Zusammenhänge von den Klimawissenschaftlern nicht gesehen werden.

Aber was ist die Alternative?

Wir sollten erkennen, dass Mischwälder mit Lichtungen, Moore, Feuchtgebiete, Biolandwirtschaft mit Weidewirtschaft – und alle diese Ökosysteme mit ihren ausgedehnten unterirdischen Pilzmycelnetzwerken, wenn man sie wachsen läßt –, zusätzlich Kelpwälder und Seegraswiesen ,ohne Umweltschäden zu verursachen, eine viel größere CO2-Speicherkapazität haben, als CCS-Anlagen sie jemals bringen können.

Zugleich tragen sie zur Milderung der Biodiversitätskrise bei. Und zusätzlich strahlt die Natur die Entropie ab ins Weltall, ganz im Gegensatz zu den angedachten CCS- und CCU-Fabriken. Die Entropie aus technologischen Maßnahmen heraus sehen wir in Form von Umweltschäden aller Art: Artenvernichtung, Müll, Abwasser, vergiftetes Grundwasser uvam.

Vita

Dr. Bernhard Weßling wurde am 1951 geboren und promovierte 1977 in Naturstoffchemie. Als forschender, neue Technologien entwickelnder und vermarktender Chemiker und Unternehmer entdeckte, beschrieb und vermarktete er weltweit erstmalig eine vollständig neue Stoffklasse, ein „Organisches Metall“ (ein Nanometall, eine Spezialform elektrisch leitfähiger Polymerer). Die Erforschung dieser Stoffe führte zu zwei umfassenden Theorien auf dem Gebiet der Nicht-Gleichgewichtsthermodynamik von Dispersionen und Emulsionen sowie auf dem der Turbulenz nicht-newtonscher Flüssigkeiten.

Bernhard Weßling hat über 150 wissenschaftliche und technische Fachartikel veröffentlicht sowie mehr als 30 Patente angemeldet. Als Sachbuchautor veröffentlichte er das Buch „Der Ruf der Kraniche“ über seine ehrenamtliche Kranich-Verhaltensforschung und Artenschutzprojekte (Goldmann 2020; englische Ausgabe „The Call of the Cranes“, Springer Nature 2022) und eine populärwissenschaftliche Einführung in die Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik (englischer Titel: „What a Coincidence! On Unpredictability, Complexity and the Nature of Time“, Springer Nature 2023). Ein weiteres Buch befasst sich mit interkulturellen Erfahrungen in China, wo Weßling von 2005 an 13 Jahre verbrachte („Der Sprung ins kalte Wasser. In China mit offenen Augen und Ohren leben und arbeiten.“, Verlagsgruppe Eulenspiegel, 2023).

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