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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

20. Produktentwicklungsprozess

verfasst von : Heiner Hans Heimes, Achim Kampker, Fabian Schmitt, Michael Demming

Erschienen in: Elektromobilität

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Im Produktentwicklungsprozess wird das methodische Vorgehen der Produktenwicklung definiert. Sie wird in der Regel in einem Projektumfang durchgeführt. Dabei bildet der Produktentwicklungsprozess die Grundlage für das Projektmanagement. Im Bereich der Fahrzeugentwicklung können diese Projekte eine neue Baureihe, eine neue Fahrzeuggeneration oder eine Modellpflege sein.
Im Produktentwicklungsprozess wird das methodische Vorgehen der Produktenwicklung definiert. Sie wird in der Regel in einem Projektumfang durchgeführt. Dabei bildet der Produktentwicklungsprozess die Grundlage für das Projektmanagement.1 Im Bereich der Fahrzeugentwicklung können diese Projekte eine neue Baureihe, eine neue Fahrzeuggeneration oder eine Modellpflege sein.
Bei der Definition des Produktentwicklungsprozesses von Elektrofahrzeugen orientiert man sich an bewährten Methoden zur Lösung von komplexen Aufgabenstellungen. Diese Methoden umfassen die iterative Lösungsfindung auf Basis des neu gewonnenen Kenntnisstandes, die Zerteilung einer Gesamtaufgabe in mehrere Teilaufgaben und das anschließende Zusammenfügen zu einer Gesamtlösung (Dekomposition) sowie die systematische Erweiterung des Lösungsraums (Divergenz) und die anschließende Selektion möglicher Lösungsvorschläge auf eine handhabbare Anzahl (Konvergenz). Zur Lösung der komplexen Aufgaben sind Fachkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen im Produktentwicklungsprozess zu berücksichtigen.2
Zur Erfüllung des Projektziels bedarf es einer transparenten Prozessplanung. Darin müssen Meilensteine definiert werden, an denen sich der qualitative Fortschritt des Projekts nachvollziehen lässt.3 Im Rahmen der Planung der Produktenwicklung müssen die Aspekte der inhaltlichen Planung, der zeitlichen Planung, der Budgetplanung des zu entwickelnden Produkts und des damit verbundenen Entwicklungsprozesses adressiert werden. Während der Entwicklung muss das Projektziel kontinuierlich entsprechend dem aktuellen Kenntnisstand neu justiert werden. Dazu muss ein Entwicklungsprozess Iterationen vorsehen, in denen die neuen Erkenntnisse berücksichtigt werden können. Diese Iterationen erschweren jedoch die detaillierte Planung des Entwicklungsprozesses. Dennoch ist die Unterteilung in Hauptphasen für die Planung und Steuerung des Entwicklungsprozesses bedeutsam.4

20.1 Schritte des Produktentwicklungsprozesses

In der Praxis der Fahrzeugentwicklung hat sich eine Aufteilung in die Konzeptphase und die Serienentwicklungsphase etabliert (vgl. Abb. 20.1).5
Basis für die Konzeptphase bildet die Produktdefinition, in der die Ziele der Entwicklung in einem Anforderungskatalog festgehalten werden. In vielen Entwicklungsmodellen, wie beispielsweise dem V-Modell, werden die Anforderungen aufgrund ihrer Relevanz mit in den Entwicklungsprozess integriert. Eine begleitende Produktvalidierung gibt Aufschluss über die Zielerreichung der Entwicklung.
Der Produktentwicklungsprozess sollte auf die Bedürfnisse des einzelnen Projekts und des Unternehmens, in dem er Anwendung finden soll, angepasst sein.6 Er ist Teil des Produktentstehungsprozesses. Die Phasen Produktdefinition, Produktentwicklung und Produktherstellung bilden zusammen den Prozess von der Planung bis zum kundenfähigen Produkt.7
Auch wenn die Produktherstellung der Produktentwicklung nachgestellt ist, ist eine Rückführung von Erkenntnissen und Anforderungen aus der Produktion in die Entwicklung äußerst wichtig. Zunehmend findet die Prozess- und Produktionsplanung parallel zur Produktentwicklung statt. In diesen Fällen spricht man von Produktionsentwicklung.8 Durch die Reduktion der Komplexität von rund 2500 Teilen bei Verbrennungsmotoren auf etwa 200 Teile bei Elektromotoren haben sich die Anforderungen an die Produktion stark geändert. Diese veränderten Umstände müssen im Entwicklungsprozess von Elektrofahrzeugen berücksichtigt werden.9

20.1.1 Konzeptphase

Die Konzeptphase ist ein iterativer Lösungsprozess zur Erfüllung der Entwicklungsaufgabe auf Basis der Produktdefinition. Meist existieren bereits erste Konzeptideen aus der Produktdefinition auf der Grundlage von Markt- und Benchmark-Analysen. Ergebnisse der Konzeptphase sind das Gesamtfahrzeugkonzept und dessen Anforderungen. Während dieser Phase werden Lösungsalternativen erarbeitet und hinsichtlich der Zielsetzung miteinander verglichen. Zur Erarbeitung des Gesamtfahrzeugkonzepts werden Teilkonzepte gegenübergestellt sowie zu einer Gesamtlösung integriert und adaptiert. Diese Teilkonzepte können bereits vorhandene Konzepte oder Modifikationen bewährter Standardkonzepte sein. Auf eine genaue Analyse des Gesamtfahrzeugkonzeptes ist großer Wert zu legen. Konzeptänderungen, die in der Konzeptphase mit geringem Aufwand verbunden sind, führen in der späteren Serienentwicklung zu einem hohen zeitlichen und finanziellen Zusatzaufwand. Erzeugnis der Konzeptphase ist das Projektlastenheft. Neben den technischen Produkteigenschaften, die das Gesamtfahrzeugkonzept beschreiben, beinhaltet das Projektlastenheft finanzielle und terminliche Maßgaben sowie Anforderungen an die Qualität und den Service.10
Der Wandel von konventionellen zu elektrischen Antriebssystemen stärkt die Bedeutung der Konzeptphase im Fahrzeugentwicklungsprozess. Aggregate und Antriebsstrangkomponenten stellen die entscheidenden Vorgaben für die Konzepterstellung und die Package-Auslegung dar. Durch die vergleichsweise flexiblere Gestaltung elektrischer Antriebssysteme, die geringen Abmessungen elektrischer Maschinen und die deutlich niedrigere Energiedichte der Traktionsbatterien im Vergleich zu fossilen Energieträgern haben sich die Restriktionen an die Raumgestaltung stark geändert.11 Durch diese Veränderung müssen bestehende Fahrzeugkonzepte neu durchdacht werden, um die Chancen der elektrischen Antriebssysteme für eine verbesserte Raumgestaltung zu nutzen.

20.1.2 Serienentwicklung

In der Phase der Serienentwicklung wird das vorher definierte Konzept umgesetzt. Während in der Konzeptphase noch Eigenschaften und Funktionen des Fahrzeugs systemübergreifend betrachtet wurden, werden in der Serienentwicklung Module und Komponenten erarbeitet. Durch die Modulspezifikation geschieht dies in der Regel domänenspezifisch mit den bekannten Werkzeugen des Maschinenbaus, der Elektrotechnik und der Informationstechnik.12
Die Phase der Serienentwicklung beginnt mit dem Abschluss der Konzeptphase sowie der Definition des Gesamtfahrzeugkonzepts und endet mit dem ersten kundenfähigen Fahrzeug, das mit der Serienproduktionsanlage gebaut wurde.13
Der Schwerpunkt der Serienentwicklung hat sich mit der Elektromobilität stark verändert. Der Fokus – und damit auch das hauptsächliche Differenzierungsmerkmal – lag in der Vergangenheit auf der Entwicklung konventioneller Antriebsmotoren. Durch die geringere Komplexität von Elektromotoren fällt in der E-Mobilität das erarbeitete Know-how zu komplexen Verbrennungsmotoren weg. Anstatt auf den Antriebsstrang, wird die Entwicklung zunehmend auf Digitalisierung und Vernetzung fokussiert.14

20.1.3 Validierung

Bei der Validierung werden die Produkteigenschaften mit den Produktanforderungen verglichen. Durch eine Validierung in frühen Entwicklungsphasen lassen sich rasche Rückschlüsse auf das Produkt ziehen. Dadurch können bereits in frühen Phasen zahlreiche Konzeptalternativen betrachtet und dadurch der Lösungsraum erweitert werden. Gleichzeitig ist eine frühzeitige Reaktion auf Fehler und damit eine Einsparung von Kosten und Zeit möglich.15
„Design Reviews“
Das „Design Review“ ist ein methodischer Ansatz zur Analyse möglicher Risiken auf Basis von Erfahrungswerten in den Bereichen Fertigung, Montage und Produkteinsatz. Beim „Design Review“ werden Entwürfe und Konzepte bereits in frühen Phasen der Entwicklung hinsichtlich ihrer Erfüllung der Produktanforderungen bewertet. „Design Reviews“ können praktisch zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung vorgenommen werden. Meistens werden sie zur Freigabe zum Abschluss einer Entwicklungsphase gefordert.16
Virtuelle Validierung
Methoden der virtuellen Validierung ermöglichen bereits in frühen Phasen der Entwicklung die Bewertung verschiedener Lösungskonzepte.17 Aufgrund des wesentlich geringeren Kosten- und Zeitaufwands im Vergleich zu physischen Prototypen bieten virtuelle Prototypen bereits in der Konzeptphase die Möglichkeit zum Abgleich verschiedener Lösungsvarianten mit den Produktanforderungen. Dadurch lässt sich das Lösungsspektrum erweitern und begleitend zur Entwicklung die Zielerreichung überprüfen, was zu einer steigenden Kundenzufriedenheit und einer verbesserten Qualität führt. Vor allem im Entwicklungsumfeld der Elektromobilität nehmen virtuelle Validierungsmethoden eine zentrale Rolle dabei ein, frühzeitig Wissen aus verschiedenen Konzepten zu gewinnen, die sich durch den geänderten Antriebsstrang und die geänderten Restriktionen ergeben.
Ein Werkzeug der virtuellen Validierung ist das „Digital Mock-up“ (DMU; Digitales Versuchsmodell). DMUs sind rechnergestützte virtuelle Prototypen, an denen vor allem Package-Anforderungen wie Kollisionen überprüft werden können. Analysewerkzeuge wie die Finite-Elemente-Methode (FEM) erlauben genaue Aussagen beispielsweise über die Steifigkeit und die Dauerhaltbarkeit einzelner Bauteile oder ganzer Fahrzeuge. Durch die Entwicklung der Rechenleistungen in den vergangenen Jahren lassen sich komplexe Simulationen parallel zur Entwicklung vornehmen und Ergebnisse direkt in die Entwicklung einbeziehen. Die gestiegene Genauigkeit virtueller Validierungsmethoden erlaubt es Unternehmen, die physischen Prototypen auf eine Baustufe zu reduzieren. Mittels der Prototypenbaustufe werden die simulativen Ergebnisse anhand von physischen Prototypentests verifiziert. Gleichzeitig helfen physische Testergebnisse bei der Verfeinerung des Simulationsmodells.18
Hardware-Validierung
Trotz der Verschiebung des Validierungsumfangs hin zu virtuellen Methoden bilden die physischen Erprobungen die entscheidenden Tests zur Validierung der Produkteigenschaften. Besonders bei Fahrerprobungen und Dauerhaltbarkeitstests sind physische Prüfungen unersetzbar. Auch die Dokumentation und Nachweisführung der Fahrzeugeigenschaften gegenüber dem Gesetzgeber erfolgt auf Basis von Vorserienfahrzeugen.19
Neben der finalen Absicherung der Eigenschaften und der Bestätigung der Simulationsergebnisse während der Serienentwicklung lassen sich physische Modelle auch bereits in der Konzeptphase zur Konzeptvalidierung nutzen. Dies ist vor allem bei subjektiven Eigenschaften sinnvoll, die sich durch virtuelle Modelle schwierig bewerten lassen. Dabei können für den Prüfzweck aufgebaute Funktionsmuster bereits in der Konzeptphase Erkenntnisse generieren.20 Ein Beispiel hierfür sind Sitzkisten zur Bewertung der Fahrerplatzgestaltung und der Sitzposition bei neuen Package- und Fahrerplatzkonzepten elektrischer Fahrzeuge.

20.2 Entwicklungsmodelle

In der Fahrzeugentwicklung hat nahezu jedes Unternehmen seinen eigenen Entwicklungsprozess definiert, der an das zu entwickelnde Produkt und die Unternehmensstruktur angepasst ist. Grundlage für die Entwicklungsprozesse bilden meist standardisierte Entwicklungsmodelle. Im Zuge der Entwicklung elektrischer Antriebssysteme ist eine Abkehr von klassischen sequenziellen Entwicklungsmodellen hin zu agilen Entwicklungsmodellen sichtbar, die durch ihre schnelle Rückführung von Ergebnissen den Betrachtungsraum erweitern und damit innovative Ideen der Package- und Antriebsgestaltung fördern. Dennoch sind sequenzielle Modelle vor allem bei der Entwicklung mechanischer Komponenten unerlässlich. Die folgenden Ausführungen erläutern das V-Modell, das W-Modell und die agile Fahrzeugentwicklung.

20.2.1 V-Modell

Das in der Entwicklung von Fahrzeugen am weitesten verbreitete Modell stellt das V-Modell dar. Es beschreibt in seinem absteigenden Schenkel die Detaillierung von Anforderungen von der Gesamtfahrzeugebene hin zu Modulanforderungen und auf dem aufsteigenden Schenkel die Validierung der Anforderungen von einem Modultest hin zu einem Gesamtfahrzeugtest.
Das V-Modell ist ein sequenzielles Modell und erweitert das Wasserfallmodell durch Validierungsschritte und die direkte Rückkopplung der Validierungsergebnisse in den Entwurfsprozess. Dadurch bindet das V-Modell die Qualitätssicherung direkt mit in die Entwicklung ein.21
Ursprünglich stammt das V-Modell aus der Softwareentwicklung. Durch seine Bewährung in der Bewältigung komplexer Herausforderungen wurde es für weitere Entwicklungsaufgaben adaptiert. So hat der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) einen Produktentwicklungsprozess ins Leben gerufen, der auf Basis des V-Modells eine domänenübergreifende Methode zur Entwicklung von komplexen mechatronischen Systemen bietet (vgl. Abbildung 20.2). Das Modell bezieht explizit die Entwicklung von mechanischen und elektrotechnischen Elementen mit in den eigentlich aus der Informationstechnik stammenden Prozess ein. Veröffentlicht wurde das Modell in der VDI-Richtlinie 2206.22
Grundlage für den Entwicklungsprozess nach VDI 2206 bildet eine Anforderungsliste, die den konkreten Entwicklungsauftrag beschreibt. Im Schritt des Systementwurfs wird im Vorfeld der domänenspezifischen Umsetzung – basierend auf den Anforderungen an das zu entwickelnde Produkt – ein übergreifendes Systemkonzept und eine Systemarchitektur ermittelt. Die eigentliche Umsetzung der Entwicklungstätigkeit bleibt im V-Modell nach VDI domänenspezifisch. So können die Bereiche Elektrotechnik, Informationstechnik und Maschinenbau gemäß den bekannten Methoden entwickelt werden. Auf Basis des Systementwurfs werden dafür spezifische Anforderungen hergeleitet, die den Bereichen Maschinenbau, Elektrotechnik und Informationstechnik als Grundlage dienen. Auf den domänenspezifischen Entwurf folgt eine Systemintegration, in der die Ergebnisse der vorangegangenen Entwicklung zu einem Gesamtsystem zusammengefasst werden. Durch die Eigenschaftsabsicherung wird während der Integration fortlaufend die Erfüllung der Anforderungen überprüft. Begleitend dazu wird während der Modellbildung und -analyse mit Hilfe von Modellen und Berechnungen eine frühzeitige Darstellung der Eigenschaften ermöglicht. Der Entwicklungsprozess des V-Modells kann mehrfach durchlaufen werden.23,24

20.2.2 W-Modell

Eine Ergänzung des V-Modells liefert das W-Modell. Sein Ziel ist eine frühzeitige Entdeckung möglicher Fehler, um somit späte und kostspielige Änderungen zu vermeiden. Dazu findet bereits während der Entwicklung eine domänenübergreifende Integration und Validierung der Anforderungen mit Hilfe von digitalen Modellen und Analysewerkzeugen statt. Dafür werden die digitalen Modelle der verschiedenen Domänen schon während der Entwicklung zu einem Gesamtmodell integriert. Der Systementwurf und die abschließende Systemintegration gemäß V-Modell finden dabei unverändert statt. Dies soll vor allem einer fehlenden Kommunikation zwischen den einzelnen Domänen entgegenwirken und somit mehrere Iterationen in der Integrationsphase verhindern. Für die Umsetzung des W-Modells ist ein spezielles Datenmanagement notwendig, das die Analyse und die Synchronisierung der übergreifenden Datensätze ermöglicht, um frühzeitig eine Bewertung der Eigenschaften des aktuellen Entwicklungsstandes zu ermöglichen.25,26

20.2.3 Agile Fahrzeugentwicklung

Software hat sich in den vergangenen Jahren zum größten Bestandteil der technologischen Innovationen und Kundenfunktionen von Fahrzeugprojekten entwickelt. Gleichzeitig haben sich die Lebenszyklen von Software verkürzt und geltende Sicherheitsanforderungen sind gestiegen.27
Lange Zeit existierte kein geeigneter Prozess, um diesen wachsenden Anforderungen gerecht zu werden. Das vom Taylorismus adaptierte „Software Engineering“ kann vor allem die kürzeren Entwicklungszeiten sowie den Preisdruck nicht erfüllen. Das führte zum Siegeszug der agilen Bewegung in der Softwareentwicklung.28
Die agile Entwicklung, die sich seit mehreren Jahren als Standard in der Softwareentwicklung etabliert, wird zunehmend auch in anderen Bereichen der Fahrzeugentwicklung angewendet. Durch übergreifend arbeitende Teams lassen sich neue Ansätze schnell und kostengünstig herleiten und validieren. Die Verbreitung agiler Entwicklung wurde stark durch die Definition des „Agilen Manifests“ beschleunigt. Es beinhaltet vier Werte und zwölf Prinzipien, die allesamt Grundlagen der agilen Entwicklung sind. Einen dieser Werte bildet beispielsweise die höhere Bedeutung der Kundenbeziehung gegenüber Vertragsverhandlungen.29
Als weitverbreitete agile Entwicklungsmethode ist Scrum zu nennen. Dabei handelt es sich um ein iteratives Verfahren, das ein Gesamtprojekt in einzelne Teilaufgaben gliedert. Diese Teilaufgaben werden durch selbstorganisierte Teams von fünf bis zehn Mitarbeitenden in zeitlich definierten Schleifen (Sprints) bearbeitet. Durch die frühzeitige Bewertung von Zwischenergebnissen und die direkte Integration von Feedback kann besser auf die Wünsche des Kunden eingegangen und flexibler auf mögliche Änderungen reagiert werden.30

20.3 Integrierte Produktentwicklung

In der Fahrzeugentwicklung kommen agile Entwicklungsprozesse vermehrt zur Anwendung. Aufgrund der verkürzten Entwicklungszyklen, der möglichen Reaktion auf geänderte Anforderungen, eines schlankeren Prozessmodells und flacherer Hierarchien bietet agile Entwicklung viele Vorteile im Vergleich zu sequenziellen Prozessen wie dem V-Modell.31
Allerdings lassen sich agile Methoden nicht in allen Bereichen der Fahrzeugentwicklung sinnvoll anwenden. Durch die Elektrifizierung des Antriebsstrangs gewinnt vor allem die Betrachtung der funktionalen Sicherheit an Bedeutung, um ungewolltes Verhalten des Antriebs zu vermeiden. Die zugrundeliegende ISO 26262 bedarf sequenzieller Entwicklungsschritte und basiert auf dem V-Modell.32 Gleichzeitig erfordern beispielsweise lange Entwicklungszeiten von Werkzeugen – etwa über mehrere Monate bis Jahre hinweg – eine frühe detaillierte Planung vor allem in der mechanischen Entwicklung. Das macht die agile Entwicklung eines gesamten Fahrzeugs nicht sinnvoll möglich.
Dennoch können agile Methoden in die Entwicklung integriert werden und zur Verbesserung des Entwicklungsprozesses beitragen. Vor allem während der Konzeptphase helfen agile Methoden bei der Findung innovativer Lösungen auf Basis nicht vollständig festgeschriebener Anforderungen oder bei Neuentwicklungen ohne die Verwendung bestehender Strukturen. Als bekanntes Beispiel für eine agile Konzepterarbeitung gilt die Entwicklung des Elektrofahrzeugs „StreetScooter“. Um ein Produkt ins Leben zu rufen, das auf die individuellen Anforderungen eines Kunden maßgeschneidert wurde, gleichzeitig aber unter strikten Kostenzielen stand, wurde die Entwicklung auf einem weißen Blatt Papier begonnen.33,34
Die Integration agiler Methoden in weitere Bereiche der Fahrzeugentwicklung wird durch virtuelle Validierungsmethoden unterstützt. Während in der Softwareentwicklung das mehrfache Durchlaufen von Applikationslebenszyklen gängige Praxis ist, wird im Maschinenbau ein Produktlebenszyklus in der Regel nur einmal absolviert. Durch leistungsstarke Rechner können aussagekräftige „Digital Mock-ups“ (DMU) sowie FEM-Berechnungen oder Prozesssimulationen über Nacht erzeugt werden, so dass sich frühzeitig Rückschlüsse auf die Produkteigenschaften treffen und in die Entwicklung zurückführen lassen. Das macht ein iteratives Durchlaufen der Entwicklung auch bei mechanischen Komponenten möglich.35
Um die neuen Werkzeuge – wie einen domänenübergreifenden Entwurf durch agile Konzeption und die Evolution der virtuellen Validierungsmethoden – effektiv nutzen zu können, ist eine weitere Zusammenführung von PLM („Product Lifecycle Management“ – Produkt-Lebenszyklusverwaltung) und ALM („Application Lifecycle Management“ – Applikations-Lebenszyklusverwaltung) notwendig. Dies verbessert die Kollaboration bei der Entwicklung von Anforderungen, Funktionen und Testfällen sowie das Varianten- und Konfigurationsmanagement und unterstützt bei der Umsetzung von Qualitätsstandards.36 Damit wird einem der Hauptprobleme entgegengewirkt: der fehlenden Kommunikation zwischen den einzelnen Domänen während der Entwicklung. Gleichzeitig ermöglicht das die Nachverfolgbarkeit von Produktanforderungen bis zur Stückliste oder zu Softwarekomponenten im Quellcode. Auf diese Weise lässt sich die Erfüllung der Anforderungen sicherstellen und die Produktqualität steigern.37
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Fußnoten
1
Vgl. Bender et al. 2021, S. 57.
 
2
Vgl. Bender et al. 2021, S. 42ff.
 
3
Vgl. Pischinger et al. 2021, S. 1272.
 
4
Vgl. Bender et al. 2021, S. 57ff.
 
5
Vgl. Pischinger et al. 2021, S. 1292.
 
6
Vgl. Bender et al. 2021, S. 57.
 
7
Vgl. Bender et al. 2021, S. 57.
 
8
Vgl. Vajna et al. 2018, S. 28.
 
9
Vgl. Schuh et al. 2019, S. 3.
 
10
Vgl. Pischinger et al. 2021, S. 1281ff.
 
11
Vgl. Pischinger et al. 2021, S. 145ff.
 
12
Vgl. Vajna et al. 2018, S. 39f.
 
13
Vgl. Pischinger et al. 2021, S. 1292.
 
14
Vgl. Schuh et al. 2019, S. 3f.
 
15
Vgl. Schuh 2012, S. 211ff.
 
16
Vgl. Schuh 2012, S. 207f.
 
17
Vgl. Schuh 2012, S. 210f.
 
18
Vgl. Pischinger et al. 2021, S. 1287ff.
 
19
Vgl. Pischinger et al. 2021, S. 1288f.
 
20
Vgl. Kampker et al. 2017, S. 108.
 
21
Vgl. Schuh 2012, S. 170.
 
22
Vgl. Vajna et al. 2018, S. 38.
 
23
Vgl. Vajna et al. 2018, S. 39f.
 
24
Vgl. Schuh 2012, S. 174.
 
26
Vgl. Krüger 2019.
 
27
Vgl. Bargende et al. 2020, S. 575.
 
28
Vgl. Friedrichsen et al. 2015, S. 2f.
 
29
Vgl. Winkelhake 2017, S. 204.
 
30
Vgl. Winkelhake 2017, S. 209f.
 
31
Vgl. Friedrichsen et al. 2015, S. 3.
 
32
Vgl. International Organisation for Standardization (IOS) 2018.
 
33
Vgl. Winkelhake 2017, S. 210f.
 
34
Vgl. Kampker et al. 2017, S. 115ff.
 
35
Vgl. Pischinger et al. 2021, S. 1294.
 
36
Vgl. Ebert 2013, S. 445.
 
37
Vgl. Deuter et al. 2018, S. 108.
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Produktentwicklungsprozess
verfasst von
Heiner Hans Heimes
Achim Kampker
Fabian Schmitt
Michael Demming
Copyright-Jahr
2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-65812-3_20

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