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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

6. Sozialökologische Konflikte der »Überflüssigen«: Zentrale Befunde und theoretische Diskussion

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Zusammenfassung

In meiner Arbeit wurde bisher deutlich, dass die meisten der dargestellten Kategorien des Nicht-Kapitalistischen theoretische Chiffren geblieben sind, die eine Leerstelle bezeichnen und nicht zur Klärung der dahinterliegenden Verhältnisse ausreichen. Zwar weisen Konzepte wie »Exklusion«, »Überbevölkerung«, »Marginalität«, »traditioneller« oder »informeller Sektor« auf Formen der Nicht-Integration in den kapitalistischen Sektor hin, allerdings tragen sie eher zum Verständnis der Effekte des kapitalistischen Sektors bei als zu demjenigen der Eigenlogiken des Nicht-Kapitalistischen.  Daher wurde in der vorliegenden Arbeit die Heuristik der »strukturellen Heterogenität« erarbeitet und das empirisch-analytische Konzept des »bedarfsökonomischen Sektors« eingeführt. Im Folgenden lege ich die zentralen empirischen Befunde dar, die diese Herangehensweise mit Blick auf die chilenische Gesellschaft hervorbrachte und gehe im Anschluss auf kapitalismus- sowie klassen- und konflikttheoretische Schlussfolgerungen und die Stärken und Schwächen der von mir gewählten Konzepte ein.
Diese Arbeit hat es sich vorgenommen, das Innen-Außen-Verhältnis kapitalistischen Wirtschaftens in peripheren Regionen der Weltwirtschaft mit einem Fokus auf sozialökologische Konflikte zu untersuchen. Dabei spielten unter anderem die Theorien der »kapitalistischen Landnahme« (Dörre 2009a; ebd. 2013b) sowie der »Akkumulation durch Enteignung« (Harvey 2003; ebd. 2007) von Beginn an eine zentrale Rolle. Diese Ansätze ermöglichen es, die Dynamik zwischen dem kapitalistischen und dem bedarfsökonomischen Sektor vor allem von der Seite der kapitalistischen »Bewegungsgesetze« (Banaji 2013: 50 ff, 59 f, 349 ff) aus zu begreifen. Diese Herangehensweise erwies sich mit Blick auf die extraktivistischen Ökonomien Lateinamerikas als äußerst fruchtbar.1 Der indische Ökonom Kalyan Sanyal merkt allerdings an, dass es von großer Bedeutung ist, das Innen-Außen-Verhältnis zudem auch von der nicht-kapitalistischen Seite aus zu begreifen. Er fordert uns deshalb dazu auf, das scheinbare »Ödland« des Nicht-Kapitalistischen und dessen »schattengleiche Bewohner*innen« ins Zentrum der Analyse zu rücken (Sanyal 2007: 58 f). Ganz in diesem Sinne hat sich die vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt, nicht nur die Spezifika des kapitalistischen Sektors zu untersuchen, sondern vor allem die konkreten Eigenlogiken der politischen Ökonomie der »Überflüssigen« herauszuarbeiten und auf diese Weise die Forschungsfrage zu beantworten, wie sich sozialökologische Konflikte in extraktivistischen Peripherien kapitalismustheoretisch verstehen lassen.
Der Fokus auf das »Nicht-Kapitalistische« macht eigene Begrifflichkeiten nötig. In Kapitel 2 dieser Arbeit wurde deutlich, dass die meisten der bisher dargestellten Kategorien des Nicht-Kapitalistischen allerdings theoretische Chiffren geblieben sind, die eine Leerstelle bezeichnen und nicht zur Klärung der dahinterliegenden Verhältnisse ausreichen. Zwar weisen Konzepte wie »Exklusion«, »Überbevölkerung«, »Marginalität«, »traditioneller« oder »informeller Sektor« auf Formen der Nicht-Integration in den kapitalistischen Sektor hin, allerdings tragen sie eher zum Verständnis der Effekte des kapitalistischen Sektors bei als zu demjenigen der Eigenlogiken des Nicht-Kapitalistischen. Es handelt sich bei diesen Begriffen folglich um negative »Klassifikationen des Anderen« (Coronil 1996: 78–81), die als Resultate eines »kapitalozentrischen Blicks« kritisiert wurden (Sanyal 2007: 5, 142 f, 225). Boaventura de Sousa Santos (2010: 22 ff) spricht diesbezüglich von einem »abyssalen Denken«, bei dem durch eine »Monokultur des Wissens« das »Unproduktive« unsichtbar gemacht würde (ebd.: 24). Es sei deshalb die Aufgabe der Soziologie, diesen unsichtbaren Teil des Sozialen wieder sichtbar zu machen (ebd. 24 ff). Zu diesem Zweck wurde in der vorliegenden Arbeit die Heuristik der »strukturellen Heterogenität« (Córdova 1971) erarbeitet und in Anlehnung an Sanyal (2007: 208 ff) das empirisch-analytische Konzept des »bedarfsökonomischen Sektors« eingeführt. Im Folgenden lege ich die zentralen empirischen Befunde dar, die diese Herangehensweise mit Blick auf die chilenische Gesellschaft hervorbrachte (6.1) und gehe im Anschluss auf kapitalismus- sowie klassen- und konflikttheoretische Schlussfolgerungen und die Stärken und Schwächen der von mir gewählten Konzepte ein (6.2).

6.1 Zentrale Befunde

Die vorliegende Forschung hat gezeigt, dass der chilenische Kapitalismus durch ein sozial exklusives und ökologisch destruktives Wachstum und die chilenische Gesellschaft durch eine fortdauernde Bedeutung des bedarfsökonomischen Sektors gekennzeichnet ist. Der bedarfsökonomische Sektor wird allerdings durch ökologische, wirtschaftliche und politische Prozesse untergraben, was zu einer strukturellen Krise der Reproduktion prekärer Haushalte führt. Der empirische Beitrag meines ersten Kernbefundes besteht darin, offenzulegen, wie die daraus resultierende Problematik des chilenischen Reproduktionsparadoxes sektorale Grenzkämpfe befeuert. Diese Grenzkämpfe – so der zweite Kernbefund – stellen eine dominante Form der Klassenkonflikte im heutigen Chile dar. Dabei wird deutlich, dass Verflechtungen zwischen den Sektoren weniger ökonomisch funktionale Beziehungen darstellen, sondern vielmehr als Verdichtungen von Grenzkämpfen verstanden werden müssen, die auf der Klassenachse geführt werden. Der dritte Kernbefund besteht darin, dass die Kämpfe der Mapuche eine besondere Form dieser klassenspezifischen Grenzkämpfe darstellen, da diese als Enteignete nicht nur um Verflechtungen, sondern auch um die Wiederaneignung ihrer produktiven Ressourcen kämpfen. Hierbei wird deutlich, dass im intersektionalen Sinne entlang der sektoralen Grenze verschiedene Ungleichheiten konvergieren. Diese drei Kernbefunde stelle ich im Folgenden kurz dar und zeige dabei jeweils, wie sie zu sozialwissenschaftlichen Debatten um Kapitalismustheorie und sozialökologische Konflikte beitragen.

6.1.1 Das Reproduktionsparadox der chilenischen »Überbevölkerung«

Der erste zentrale Befund der vorliegenden Arbeit lässt sich als Reproduktionsparadox der chilenischen Gesellschaft zusammenfassen. Dieses ist Produkt eines makrostrukturellen Zusammenhangs, der damit einhergeht, dass der chilenische Kapitalismus in der globalen Arbeitsteilung eine Position einnimmt, die als »abhängig« und »extraktivistisch« beschrieben wurde. In anderen Worten: Chiles dominante wirtschaftliche Dynamik ist stark von den Weltmärkten geprägt und basiert auf der Ausbeutung von Rohstoffen, das heißt auf dem Export billiger Natur. Dafür benötigen die extraktivistischen Branchen nur in geringem Maße Arbeitskräfte. Während in diesem Bereich große Gewinne gemacht werden, nimmt die chilenische Bevölkerung kaum an dessen Erlösen teil. Nur ein paar wenige Prozent der Erwerbsbevölkerung ist in diesen Branchen beschäftigt. Es handelt sich daher beim chilenischen Wachstumsmodus um einen jobless growth. Kapitalismus- und weltsystemtheoretisch kann geschlussfolgert werden, dass im Zuge der extraktivistischen Position Chiles in der Weltwirtschaft ein Großteil der Erwerbsbevölkerung für das dominante Exportkapital »überflüssig« ist.
Was für das Exportkapital gilt, trifft nicht in gleichem Maße für das binnenmarktorientierte Kapital zu. Im Gegensatz zu Einschätzungen von Dependenztheoretiker*innen, die davon ausgingen, dass die niedrigen Lohnhöhen in abhängigen Länder ein kapitalistisches Wachstum auf den »begrenzten Binnenmärkten« (Marini 1974: 120 ff) weitgehend ausschlössen, kam es zu »inneren Landnahmen« (Lutz 1989).2 Dabei wurde ein kapitalistischer Binnenmarkt für importierte Konsumgüter und vor allem für Dienstleistungen geschaffen, die von privatisierten Renten-, Gesundheits- und Bildungssystemen bis hin zu Supermarktketten und riesigen Shopping-Malls reichen. In der Folge gelingt es vielen Chilen*innen zwar innerhalb des arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichs des kapitalistischen Sektors gelegentlich vorübergehende Beschäftigung zu finden. Die Dienstleistungsunternehmen zahlen allerdings nur niedrige Löhne und sind durch äußerst prekäre Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichnet (Julián 2021; Durán/Narbona 2021: 216–220). Das binnenmarktorientierte Kapital ist deshalb – so konnten wir in Abschnitt 5.​3 schlussfolgern – auf einen funktionierenden bedarfsökonomischen Sektor angewiesen, der die Löhne »subventioniert« und als »Reservepool« billiger Arbeitskräfte dient. Vorwiegend in diesem Sinne lässt sich von einer »Überausbeutung« der chilenischen Lohnabhängigen im kapitalistischen Sektor sprechen, die Ruy Mauro Marini (1974: 105 ff) ursprünglich für abhängige Länder im Allgemeinen diagnostizierte. Diese funktionale Verflechtung über den Arbeitsmarkt spielt im Gegensatz zur in der Literatur verbreiteten These, dass es in (semi)peripheren Ländern im Exportbereich massenhaft zu Überausbeutung kommt, in Chile für das Exportkapital allerdings kaum eine zentrale Rolle.3 Dies trägt dazu bei, dass die dominante Kapitalfraktion in Chile auch kein ökonomisches Interesse an der Aufrechterhaltung des bedarfsökonomischen Sektors hat.
Der genannte Befund, dass die funktionalen Verflechtungen nicht den dominanten kapitalistischen »Entwicklungsweg« der chilenischen Ökonomie innerhalb der Weltwirtschaft charakterisieren, hat Konsequenzen für die staatliche Regulierung. So privilegiert der chilenische Staat vor allem die extraktivistischen Branchen und untergräbt vielfach bedarfsökonomische Aktivitäten. Politiken der staatlichen Absicherung der billigen sozialen Reproduktion der chilenischen Arbeitskräfte im bedarfsökonomischen Sektor sind nur in geringem Maße ausgeprägt. Stattdessen institutionalisiert der chilenische Staat ganz im Sinne des extraktivistischen Exportkapitals ein stark ausgeprägtes politisches Dominanzverhältnis des kapitalistischen über den bedarfsökonomischen Sektor. Dabei werden die ökologischen und sozialen Ressourcen in den kapitalistischen Sektor umverteilt und ein extraktivistisches Naturverhältnis durchgesetzt. Die Folge ist eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit aus der Angewiesenheit großer Teile der Bevölkerung auf den bedarfsökonomischen Sektor und der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Untergrabung bedarfswirtschaftlichen Produzierens und Handelns.
Schließlich lässt sich sagen, dass sich Chile systematisch in ein gesamtgesellschaftliches Reproduktionsparadox verfängt: Einerseits schafft das extraktivistische Wachstum des kapitalistischen Sektors fortwährend eine strukturelle Überbevölkerung, die sich nur im Rahmen des bedarfsökonomischen Sektors reproduzieren kann. Andererseits untergraben die peripher-extraktivistischen Landnahmen und die neoliberale Politik massiv die wirtschaftlichen Möglichkeiten des bedarfsökonomischen Sektors.4 Im Unterschied zum global-kapitalistischen »Expansionsparadox« (Dörre 2019: 6), das dadurch gekennzeichnet ist, dass die kapitalistische Akkumulation selbst auf ein funktionierendes »Außen« angewiesen ist, das sukzessive untergraben wird, ist das Reproduktionsparadox dadurch gekennzeichnet, dass das extraktivistische Akkumulationsmodell fortwährend »Überflüssige« in den bedarfsökonomischen Sektor wirft, dessen Krise erzeugt und gleichzeitig gerade nicht funktional auf diesen angewiesen ist.
Chile zeigt damit eindrücklich einen für extraktivistische Peripherien charakteristischen kapitalistischen »Entwicklungsweg«, dessen soziale Krisendynamik sich als ein »Arbeitskräfteabsorptionsproblem« bezeichnen ließe.5 Dieses Problem stellt für den kapitalistischen Sektor weniger ein endogenes ökonomisches Krisenmoment dar, schafft aber einen fortwährenden sozialen Grundwiderspruch in der Gesellschaft insgesamt, weil die politische Legitimation der chilenischen Politik auf der nationalen und internationalen Ebene in zunehmendem Maße aus der Verbesserung der sozialen Reproduktionsbedingungen, sinkenden Armutszahlen und dem Ausbau von Förderprogrammen prekärer Haushalte gewonnen wird. Damit wird die Unterstützung der Bedarfsökonomie und die »Wiedervereinigung der unmittelbaren Produzenten mit ihren Produktionsmitteln« eine Frage der politischen Hegemonie (Sanyal 2007: 59). Der empirische Forschungsbeitrag dieses Kernbefundes besteht folglich darin, dass die geschilderte paradoxe Entwicklung die grundlegende Ursache einer offenen gesamtgesellschaftlichen Konfliktdynamik darstellt, die sich in Grenzkämpfen sowie einer widersprüchlichen Heterogenität im chilenischen Staatsapparaten ausdrückt, die einerseits auf die Privilegierung der extraktivistischen Industrien und andererseits auf die Förderung bedarfsökonomischer Aktivitäten ausgerichtet sind. Das aus den spezifischen kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnissen in Chile resultierende Paradoxon führt in der Folge auf der politischen Ebene zu Widersprüchen. Während diese auf nationaler und internationaler Ebene zunehmend als eine Frage der Hegemonie behandelt werden, bleiben sie auf der lokalen Ebene – wie der zweite Kernbefund deutlich macht – Resultate offener sozialökologischer Grenzkämpfe.

6.1.2 Verflechtungen als verdichtete Kräfte- und Klassenverhältnisse

Die Problematik des Reproduktionsparadoxes wird in besonderem Maße im Umfeld der chilenischen Forstindustrie deutlich. Die lokale Bevölkerung rund um die kilometerlangen Forstplantagen ist größtenteils gezwungen, sich im bedarfsökonomischen Sektor zu reproduzieren und ist dabei meist auf die landwirtschaftliche Produktion auf sehr kleinen Flächen angewiesen, die häufig kaum über einen Zugang zu Wasser, staatlich regulierten Märkten oder einer relevanten öffentlichen Förderung verfügen. Anfangs hatten selbst viele Mapuche noch Hoffnung, in der Forstindustrie eine Anstellung zu erhalten. Heute zeigen eine Reihe von Studien, dass im Umfeld der Forstplantagen die Arbeitslosigkeit und Armut besonders hoch ist (Andersson et al. 2016; Román/Barton 2017: 249 f; Pastén et al. 2020: 62). Dies führt zum Phänomen, das ich als verflochtene Polarisierung bezeichnet habe: Dabei sind einerseits ökologische Verflechtungen zwischen den bedarfsökonomischen Akteuren und der Forstindustrie in ihrer direkten Nachbarschaft zum Nachteil der ersteren stark ausgeprägt. Andererseits muss sich die lokale Bevölkerung ökonomische Verflechtungen und Anteile an kapitalistischen Erlösen erst erkämpfen. Die Verflechtungen, die dabei erzwungen werden, reichen von befristeten Arbeitsgelegenheiten für Mitglieder lokaler comunidades bei der Holzernte über Verträge mit kleinen Subunternehmen von Mapuche, die für die Forstindustrie Holz transportieren bis hin zu gewissen Zugangsrechten für Teile der lokalen Bevölkerung bezüglich des Sammelns von Früchten oder der Nachlese von Holz in den Forstplantagen. Darüber hinaus versuchen die großen Forstunternehmen lokalen Konflikten vorzubeugen, indem sie mit umfassenden CSR-Politiken quasi-staatliche Aufgaben in den ländlichen Kommunen übernehmen, Wege anlegen, Schulen finanzieren oder dazu beitragen, Wassertürme zu bauen. Verflechtungsverhältnisse sind folglich Ergebnisse von Konflikten und Konfliktbearbeitungsstrategien und stellen insofern verdichtete Kräfteverhältnisse, das heißt auf Dauer gestellte Resultate von Kämpfen, dar.
Die enormen Unterschiede hinsichtlich der ökonomischen Einkommen und Vermögen sowie des politischen Einflusses, der zwischen den großen Forstunternehmen und der lokalen Bevölkerung besteht, lässt gleichzeitig den Schluss zu, dass die Verflechtungen hierarchische Verhältnisse entlang der Klassenachse darstellen. Anders als dies Karl Polanyi konzipierte, verlaufen die Konflikte um Kommodifizierung in extraktivistischen Peripherien deshalb nicht zwischen »dem Markt« und »der Gesellschaft« als klassenübergreifendem Akteur (Polanyi 1978: 223), sondern auf einer vertikalen Ungleichheitsachse zwischen abgrenzbaren sozialen Klassen (Graf/Puder 2022: 220 ff).6 Der zentrale klassenbildende Antagonismus wurde dabei in dieser Arbeit als »Akkumulation durch Kommodifizierung« bezeichnet. Er betrifft sowohl die urbanen prekären Haushalte, Selbständige und Klein(st)betriebe, die hohe Preise für ihre Güter des alltäglichen Bedarfs bezahlen müssen als auch jene ländlichen Haushalte, Selbständigen und Klein(st)betriebe, die unter der voranschreitenden Einhegung ihrer ökologischen Ressourcen leiden. Damit stellen sozialökologische Konflikte in Chile in der Regel Kämpfe um (De)Kommodifizierung, Preishöhen, informelle Praktiken auf lokalen Märkten sowie Verflechtungs- und Umverteilungsfragen bezüglich ökonomischer und ökologischer Ressourcen dar, die zwischen dem pueblo und der besitzenden Klasse geführt werden (Graf/Landherr 2020). Insbesondere Preissteigerungen sind in Kontexten, in denen aufgrund ausbleibender »aktiver Proletarisierungsprozesse« (Lenhardt/Offe 1977: 102) die Auseinandersetzungen um Arbeitsbedingungen innerhalb der kapitalistischen Produktion von geringerer Bedeutung sind, häufiger Auslöser von Konflikten (Engels 2013; Clover 2021: 78 ff). Auch wenn klassische Arbeitskämpfe beispielsweise im traditionell wichtigen Bereich des chilenischen Bergbaus sowie Streiks im öffentlichen Sektor auch nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, stellen Grenzkämpfe die dominante Form der sozialökologischen Konflikte entlang der Klassenachse im heutigen Chile dar. Keinesfalls bedeutet dies, dass diese Grenzkämpfe in Stadt und Land stets konvergieren. Vielmehr gibt es unter ihnen auch politische und soziale Differenzen.7
Kämpfe bedarfsökonomischer Akteure drehen sich – wie angesprochen – häufig um Zirkulationsverhältnisse auf Märkten, auf denen entweder bedarfsökonomische Praktiken von Privathaushalten oder Klein(st)betrieben mit kapitalistischen Verwertungskreisläufen in Kontakt kommen oder die Zirkulation extraktivistischer Güter blockiert werden kann. Hier kann die »disruptive Macht« (Piven 2008: 20 ff) der »Überflüssigen« deren ausbleibende »Produktionsmacht« (Silver 2005; 31; Schmalz/Dörre 2014: 22) kompensieren. Derartige »Zirkulationskämpfe« wurden in der Forschung häufig der Konfliktform der riots zugeordnet (Clover 2021: 22 ff, 35 ff) und damit eine Bezeichnung gewählt, die die Vermutung nahelegt, dass die Verflechtungen – in den Worten von Eric Hobsbawm (1952: 59) – als Ergebnisse von Konflikten verstanden werden müssen, die in Form eines »bargaining by riots« stattfinden. Allerdings suggeriert der Terminus der riots im heutigen Sprachgebrauch, dass es sich um spontane, nicht-normierte und strategielose Protestformen handelt. Dementgegen stellte schon E.P. Thompson (1980: 67 ff), der ebenso wie Hobsbawm zu den Arbeiterprotesten im England des 18. und 19. Jahrhunderts forschte, fest, dass es sich bei diesen Protesten keinesfalls um chaotische und strategielose Protestformen eines zufällig zusammengewürfelten »Mobs«, sondern gezielte und häufig erfolgreiche Formen des nicht-institutionalisierten Klassenkampfs handelt, die im Rahmen einer spezifischen »moralischen Ökonomie« stattfinden. Dies gilt in hohem Maße auch für Chile. Da die dortigen sozialökologischen Konflikte zudem nicht einfach als Kämpfe um Zirkulationsverhältnisse auf kapitalistischen Märkten, sondern vielmehr als Verschiebungen der Grenze zwischen kapitalistischen Verwertungsprozessen und bedarfsökonomischen Aktivitäten verstanden werden können, bezeichne ich diese in der vorliegenden Arbeit nicht als riots, sondern als Grenzkämpfe.
Diese Grenzkämpfe, die sich wesentlich um Verflechtungsverhältnisse drehen, werden in Lateinamerika häufig im Modus der Territorialität geführt (Avendaño 2010; Martínez 2012; Svampa 2020: 39 ff; Zibechi 2020: 9 f). Dass dies auch in den in dieser Arbeit untersuchten Fällen gilt, habe ich in Kapitel 5 dargelegt. Dabei steht die »territoriale Macht« (Landherr/Graf 2017: 575 ff; ebd. 2021) der extraktivistischen Großunternehmen, die den entsprechenden geografischen Raum als Ort möglichst effizient auszubeutender Naturressourcen begreifen und dabei lokale Arbeits-, Rohstoff- und Zuliefermärkte sowie ökologische Kreisläufe und die sozialen Infrastrukturen vor Ort dominieren, der Territorialität der lokalen Bevölkerung gegenüber. Diese hat in der Regel einen engen Bezug zu einem bestimmten geografischen Raum und geht in ihrer Produktions- und Lebensweise Naturverhältnisse ein, die auf nachhaltig funktionierende Ökosysteme angewiesen sind, weshalb diesbezüglich auch von einem »environmentalism of the poor« gesprochen wurde (Martínez-Alier 2002). Während die Unternehmen – wie ich in Abschnitt 5.​1.​3 gezeigt habe – mittels ihrer territorialen Macht versuchen, Konflikten vorzubeugen oder diese zu verhindern, nutzt die lokale Bevölkerung ihre disruptive Macht in Form von Blockaden, Besetzungen und Unterbrechungen von Kapitalkreisläufen, um durch territoriale Kontrolle von unten, Druck auf die Großunternehmen auszuüben. Durch derartige direkte Aktionen kann die lokale Bevölkerung häufig spezifische ökologische und ökonomische Verflechtungen erkämpfen. Damit richten sich diese Verflechtungskämpfe nicht nur auf »choke points« der globalen Güterketten, durch deren Blockade vor allem Logistikarbeiter*innen bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen können (Alimahomed-Wilson/Ness 2018; Cuevas et al. 2018: 152 ff), sondern auch auf Orte, die für bedarfsökonomische (Re)Produktion und die kulturelle Ökonomie der Enteigneten von zentraler Bedeutung sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die empirische Analyse dieser Arbeit zu der Erkenntnis führt, dass Verflechtungen Verdichtungen von Kräfte- und Klassenverhältnissen darstellen. Dadurch kann ein Zusammenhang zwischen der strukturellen Heterogenität sozioökonomischer Verhältnisse und der spezifischen Art, in der Klassenkonflikte in extraktivistischen Peripherien geführt werden, hergestellt werden: Erstens stellen Verflechtungsverhältnisse einen zentralen Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte dar, zweitens bilden spezifische soziale Klassen (pueblo und besitzende Klasse) dessen wesentliche Akteure und drittens finden diese Konflikte mit spezifischen Machtressourcen (disruptive Macht) sowie viertens in Form von Grenzkämpfen und im Modus der Territorialität statt. Damit kann die vorliegende Forschung einen wichtigen Beitrag zum Verständnis sozialökologischer Konflikte in extraktivistischen Peripherien leisten.

6.1.3 Die politische Ökonomie der Enteigneten und die Avantgarde der chilenischen Grenzkämpfe

Die Kämpfe der Mapuche – so konnte die vorliegende Arbeit zeigen – lassen sich als eine besonders radikale Form der Grenzkämpfe um die (Re)Produktionsbedingungen des bedarfsökonomischen Sektors verstehen. Gleichzeitig werden hierbei auch Differenzen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors sichtbar, weshalb die economía mapuche als spezifischer Teilbereich innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors gefasst wurde. Zwar ist in den empirischen Untersuchungsfällen (Abschnitt 4.​4) auch die economía mapuche stark kleinbäuerlich geprägt, allerdings unterscheidet sie sich von chilenischen Kleinbäuer*innen dadurch, dass sie erstens in gewissem Rahmen als eine kulturelle Ökonomie praktiziert wird, die sich an einer eigenen Kosmovision des guten Lebens (kume mongen) ausrichtet sowie teilweise traditionelle Tauschmärkte (trafkinutu) und direkte sowie reziproke Naturverhältnisse (itrofill mongen) beinhaltet. Die politische Ökonomie der Enteigneten besteht zweitens nicht nur aus einzelnen bedarfsökonomischen Produktions- und Zirkulationsformen, sondern zielt politisch explizit auf den Aufbau einer eigenen Produktionsweise, die eigene Zirkulationsverhältnisse und eine spezifische Regulation einschließt und strategisch zur politischen und ökonomischen Autonomie beitragen soll. Drittens ist die politische Ökonomie der Enteigneten eng an ein bestimmtes Territorium – das Land der Mapuche (wallmapu) – gebunden. Viertens besteht eine ihrer Besonderheiten zudem im spezifischen Charakter ihrer Grenzkämpfe: Die Mapuche kämpfen als »Enteignete« nicht nur um Verflechtungsverhältnisse, sondern immer wieder um die Wiederaneignung ihres Landes, das ihnen in verschiedenen Phasen der Geschichte genommen wurde (reivindicación). Die ökonomischen Praktiken sowie die Grenzkämpfe der Mapuche sind folglich nicht nur materiell, sondern auch historisch-kulturell motiviert. Folglich handelt es sich bei der economía mapuche um eine spezifische kulturelle Ökonomie mit eigenen Produktions-, Zirkulations- und Regulationsformen sowie besonderen Naturverhältnissen, die an einen bestimmten geografischen Raum gebunden sind und spezifischen Grenzkämpfen, weshalb die politische Ökonomie der Enteigneten über eine »moralische Ökonomie« im Sinne E. P. Thompsons hinausgeht. Zuletzt ist sie auch mit einer besonderen Art der politischen Organisierung verbunden, die häufig in Konkurrenz zu den offiziellen staatlichen Institutionen steht.
Diese Besonderheiten der bedarfsökonomischen Praktiken, Regulierung und Kämpfe der Mapuche lassen sich auch mit Blick auf die Verflechtungsverhältnisse ausmachen. So lehnen kämpferische Mapuche – wie in Abschnitt 5.​2.​2 gezeigt wurde – die Zusammenarbeit mit der Forstindustrie grundlegend ab. Konfliktorientierte comunidades kämpfen dabei langfristig häufig für eine Entflechtung von der Forstindustrie, die sie aufgrund ihres zerstörerischen Naturverhältnisses und ihrer kapitalistischen Landnahmen aus ihrem Territorium verbannen wollen. Allerdings richten sie sich nicht gegen Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor per se, wenn diese eine Stärkung ihrer eigenen Ökonomie bedeutet. Die politische Ökonomie der Enteigneten bedeutet daher keineswegs ökonomische Autarkie. Auch die Grenzkämpfe konfliktorientierter Mapuche-Gruppen, die sich – wie der Fall Galvarino zeigte – langfristig auf die Wiederaneignung von ökologischen Ressourcen und die dauerhafte Kontrolle über ein spezifisches Territorium richten, erkämpfen zunächst temporäre Verflechtungen mit der Forstindustrie. Diese zielen in der Regel auf die Stärkung der lokalen Bedarfsökonomie. Insofern handelt sich dabei um Deproletarisierungskämpfe und Formen der erzwungenen »Landpreisgabe« (Dörre 2013b: 118 f). Medial präsent werden diese Grenzkämpfe vor allem in Form von Landbesetzungen durch comunidades oder wenn radikalere Gruppen Forstmaschinen in Brand setzen. Dabei handelt es sich um offene Konflikte um die Kontrolle über ein spezifisches Territorium, die der chilenische Staat teilweise durch Landumverteilung und Dialoge zu bearbeiten versucht oder aber repressiv unterdrückt.
All dies gilt insbesondere seit den späten 1990er Jahren als sich die reivindicación mapuche als dominante Konfliktstrategie der Mapuche durchsetzte, die sich offensiv auf die Wiederaneignung ihrer Kultur, ihrer ökonomischen Praktiken und ihres Territoriums richtete. Dabei wird deutlich, dass die Mapuche als ein sehr spezifisches politisches »Subjekt« kämpfen, dessen Identität aus der Wiedergutmachung eines historischen Unrechts der Enteignung resultiert und deren politische Strategie sich auf die Umkehrung der historischen Prozesse der »ursprünglichen Akkumulation« richtet, durch die sie ihr einstiges Land und ihre damit verbundene Produktions- und Lebensweise verloren. Diese schließt ein politisches Projekt ein, durch das – wie oben beschrieben – mittels der Wiederaneignung historisch enteigneter Ressourcen eine relativ eigenständige bedarfsökonomische Produktionsweise erkämpft werden soll. Diese aktive Strategie der Wiederherstellung eines »Außens« innerhalb der strukturellen Heterogenität der Gesamtökonomie macht die politische Ökonomie der Enteigneten in besonderem Maße für die in dieser Arbeit untersuchte Frage nach kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnissen interessant. An ihr wird deutlich, dass es im globalen Kapitalismus nicht nur zu Tendenzen der Proletarisierung, sondern auch zu Dynamiken der Wiederaneignung produktiver Ressourcen durch die »Überflüssigen« und damit zu einer Deproletarisierung von unten kommen kann.
Die in Abschnitt 2.​6 eingeführte Heuristik der strukturellen Heterogenität ermöglicht es zudem, mit Blick auf die Mapuche das Verhältnis der sozialen Ungleichheit entlang der Klassenachse zu den Differenzen in den Naturverhältnissen und der strukturellen Dichotomie im Bereich der Kultur und des Politischen zu untersuchen. Der Ansatz der politischen Ökonomie der »Überflüssigen« leistet dabei nicht nur einen Beitrag zur Erforschung von Klassenkonflikten in extraktivistischen Peripherien, sondern auch zu einem intersektionalen Verständnis von Grenzkämpfen. Dabei wurde deutlich, dass es entlang der verflochtenen Polarisierung zu einer Konvergenz der kolonial-ethnisierenden Abwertung indigener Gruppen wie der Mapuche mit den Achsen der sozialen und der ökologischen Ungleichheit kommt (Abb. 6.1).8 Diese Konvergenz der Ungleichheitsachsen am kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnis führt einerseits dazu, dass sich die genannten Ungleichheiten gegenseitig verstärken und es zu einer »Mehrfachdiskriminierung« der Mapuche kommt. Andererseits trägt die Konvergenz der verschiedenen Ungleichheitsachsen dazu bei, dass sich die Kämpfe entlang der sektoralen Polarisierung gegenüber dem kapitalistischen Sektor gegenseitig verstärken, was kulturübergreifende sowie Stadt und Land verbindende politische Allianzen von unten begünstigt.
Schließlich ist die politische Ökonomie der Enteigneten durch einen spezifischen Modus der Grenzkämpfe gekennzeichnet. Dabei stellen die Kämpfe der Mapuche eine Form des partikularen, »identitätspolitischen« Klassenkampfs von unten dar, der von den comunidades mit Berufung auf indigene Rechte geführt wird. Diese besondere Rolle der indigenen Identität hat einerseits damit zu tun, dass die »chilenischen« Klassenkämpfe auf dem Land seit ihrer Niederschlagung in der Militärdiktatur nicht mehr aufgeblüht sind. Andererseits finden indigene Kämpfe in den vergangenen Jahrzehnten in einem neuen internationalen politischen Rahmen statt, der diese Anerkennungskämpfe in gewissem Maße begünstigt und dabei Druck auf die Nationalstaaten ausübt. So trägt die wachsende Beachtung indigener Völker in der internationalen Öffentlichkeit dazu bei, dass Ressourcen und Land wieder an indigene Gruppen umverteilt werden oder dass diese Zugangsrechte zu Land des kapitalistischen Sektors erhalten (Yashar 2007; Gerber 2011; Coulthard 2014).9 Allerdings kämpfen die Mapuche im Untersuchungsgebiet gleichzeitig auch besonders radikal für die universellen Interessen des bedarfsökonomischen Sektors, da sie extraktivistische Naturverhältnisse zurückdrängen und die (informellen) bedarfsökonomischen Märkte sowie die kleinbäuerliche Ökonomie stärken wollen, welche die ländliche und städtische Bevölkerung mit billigen Lebensmitteln versorgt. In besonderem Maße zeigen dies die großen Proteste des estallido social von 2019, bei denen die Fahne der Mapuche omnipräsent war. Aber auch kleinere Konflikte wie die Landbesetzungen von Nicht-Mapuche in Curanilahue, die sich an den Mapuche orientieren oder Fälle in denen Chilen*innen auf lokaler Ebene in die Kämpfe der Mapuche integriert werden, bezeugen, dass sich auf der Ebene der bedarfsökonomischen Grenzkämpfe immer wieder horizontale Solidaritäten bilden, die kulturelle Differenzen innerhalb des pueblos überwinden. Kurz gesagt, selbst wenn die Klassenidentität in den Kämpfen der Mapuche kaum eine Rolle spielt, wirkt die Polarisierung zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor doch als verbindender Antagonismus der einfachen Bevölkerung des pueblos unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit. Diese Allianzen werden vor allem durch die angesprochene Konvergenz der unterschiedlichen Ungleichheitsachsen begünstigt.
Der Ansatz der politischen Ökonomie der »Überflüssigen« ermöglicht es schließlich auch, die spezifischen Grenzkämpfe der Mapuche auch im Unterschied zu den Grenzkämpfen im übrigen bedarfsökonomischen Sektor zu untersuchen. Gleichzeitig zeigt Abbildung 6.1 aber auch, dass sich die politische Ökonomie der Enteigneten mit Blick auf die ökologischen und ökonomischen Verflechtungen und die vertikale klassenmäßige Polarisierung gegenüber dem kapitalistischen Sektor stark mit der Situation der »Überflüssigen« insgesamt überschneidet. Wie ich in der vorliegenden Arbeit dargelegt habe, stellt die economía mapuche keine abgeschlossene eigenständige Produktionsweise dar, sondern besteht als Teil des bedarfsökonomischen Sektors, mit dessen Schicksaal sie eng verbunden ist. Dies hat auch damit zu tun, dass die politische Ökonomie der Enteigneten größtenteils nicht in einem abgeschotteten indigenen Gebiet, sondern in einem geografischen Raum situiert ist, in dem Mapuche und Chilen*innen in direkter Nachbarschaft zueinander leben. Gleichzeitig lässt sich die lokale Bevölkerung in der Untersuchungsregion dieser Arbeit auch nicht trennscharf in Mapuche und Chilen*innen unterteilen, da die Identitäten nach Zugehörigkeitsgefühl definiert sind und hybride Zwischenformen erlauben (Höhl 2022: 83 ff, 91 f). In der Folge gehen auch die sozioökonomischen Praktiken und die Grenzkämpfe der Mapuche fließend in Grenzkämpfe des übrigen bedarfsökonomischen Sektors über. Die politische Ökonomie der Enteigneten stellt damit keine kulturell abgeschlossene »Entität« dar, die sich nicht mit der »übrigen Welt« vergleichen ließe. Vielmehr offenbaren ihre Grenzkämpfe in besonderem Maße die Probleme des chilenischen Kapitalismus sowie der Krise des bedarfsökonomischen Sektors in Chile.
Während die Mehrheit der Forschungen zu den Mapuche deren Kämpfe vorwiegend als historischen, kulturellen und politischen Konflikt diskutieren (Kaltmeier 2004; Marimán 2012; Cayuqueo 2017; Foerster 2018; Correa 2021; Höhl 2022) und dabei auf die Dimension der Kämpfe um Wiederaneignung (reivindicación) fokussieren, konnte ich anhand meiner Untersuchungsfälle darlegen, dass die Grenzkämpfe in den untersuchten Fällen vor Ort vor allem um ökologische und ökonomische Verflechtungen geführt werden. Zwar liegt in den historisch-kulturell motivierten Kämpfen um Wiederaneignung die Spezifik der Grenzkämpfe der Mapuche, allerdings legen meine Primärdaten nahe, dass dennoch mehrheitlich konkrete ökonomische und ökologische Verflechtungen und nicht einfach Verteilungsfragen den Gegenstand der Auseinandersetzungen bilden. So zielen sie meist lediglich längerfristig auf vollständige Entflechtung mit der Forstindustrie und fordern häufig kurzfristig Verflechtungen ein. Teilweise streben Mapuche aber auch strategisch und auf lange Sichtökonomische Verflechtungen mit dem kapitalistischen Sektor für den Absatz ihrer landwirtschaftlichen Produkte an. Der empirische Forschungsbeitrag der vorliegenden Arbeit besteht in diesem Sinne unter anderem darin, zu zeigen, dass auch die Grenzkämpfe der Mapuche zu bedeutenden Teilen um ökologische und ökonomische Verflechtungen geführt werden. Die Wiederaneignungskämpfe bilden somit zumindest in den Untersuchungsfällen dieser Arbeit nur die Spitze eines Eisbergs der Grenzkämpfe der Mapuche. Dies ist deshalb von hoher empirischer Relevanz, weil mit der Betonung der Verflechtungen die strategische Nähe der Kämpfe der Mapuche und der Chilen*innen innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors deutlich wird. Da Verflechtungen zudem Klassenverhältnisse darstellen, ermöglicht diese Perspektivverschiebung auch, zu zeigen, in welcher Hinsicht die Auseinandersetzungen der Mapuche mit der Forstindustrie und die Grenzkämpfe des pueblo insgesamt mit Blick auf die sektorale Polarisierung entlang eines verbindenden Antagonismus konvergieren. Auf diese Weise lässt sich die große Bedeutung erklären, die die radikalen Grenzkämpfe der Mapuche für die sozialökologischen Bewegungen in ganz Chile und darüber hinaus haben. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass auch Nicht-Mapuche – wie der Fall Curanilahue zeigte – immer wieder ihre Grenzkämpfe radikalisieren und beginnen, um Wiederaneignung zu kämpfen. In diesem Sinne trägt meine Forschung auch dazu bei, sozialökologische Konflikte in extraktivistischen Peripherien im Allgemeinen zu verstehen. Dabei konnte ich zeigen, dass Klassenverhältnisse in der Untersuchungsregion mehrheitlich als sektorale Verflechtungsverhältnisse bestehen und Grenzkämpfe eine zentrale Form der Klassenkonflikte bilden. Im Folgenden gehe ich auf die kapitalismustheoretischen Implikationen dieser empirischen Erkenntnisse ein.

6.2 Kapitalismustheoretische Schlussfolgerungen

6.2.1 Kapitalismus und strukturelle Heterogenität

Die vorliegende Arbeit konnte empirisch zeigen, welche große Relevanz dem bedarfsökonomischen Sektor in Chile zukommt. Die in Kapitel 2 dargelegten theoretischen Debatten legen nahe, dass dies für extraktivistische Peripherien im Allgemeinen gilt. Dies hat Implikationen für das Verständnis von Kapitalismus. So lässt sich dieser nicht länger als »Totalität« verstehen, der weltweit nahezu alle ökonomischen Praktiken und Verhältnisse umfasst (Wallerstein 1979: 33 f). Einen »reinen Kapitalismus« gibt es nicht (Meillassoux 1975: 116; Altvater 2005: 36; Dörre/Haubner 2012: 64 f). Vielmehr ist es notwendig, seinem »strukturell heterogenen« Charakter gerecht zu werden (Córdova 1971). Dabei kommt es zu einem Dominanzverhältnis des kapitalistischen über den bedarfsökonomischen Sektor, das durch die ungleiche Verteilung von Macht und Erträgen in der Ökonomie, aber auch durch die Privilegierung des kapitalistischen Unternehmertums im Staat politisch hergestellt wird (Althusser 2012: 59; Alnasseri 2003). Kapitalismus ist damit durch gesellschaftliche Dominanz des kapitalistischen Sektors gekennzeichnet, der wiederum durch spezifische »Bewegungsgesetze« charakterisiert ist. Unter »kapitalistischen Bewegungsgesetzen« (Banaji 2013: 58 ff) ist eine soziale Dynamik zu verstehen, in der die einzelnen Wirtschaftsakteure gewissen Marktzwängen unterliegen und »bei Strafe ihres Untergangs« (Marx 1969: 255) gezwungen sind, die Verwertung ihres eingesetzten Kapitals nach Maßstäben maximaler Kapitalakkumulation auszurichten (Wallerstein 2019: 29). Damit implizieren diese Bewegungsgesetze in der Zirkulationssphäre nicht nur spezifische Arten von Märkten, sondern auch bestimmte Produktionsformen, die sich an »Rentabilitätserfolgen« (Weber 1972: 48) und »Kapitalrechnung« (Altvater 2005: 181), der Steigerung der Arbeitsproduktivität (Banaji 2013: 60) sowie der »Verwandlung von Arbeitskraft und natürlichem Reichtum in Kapital« (Dörre 2009a: 31) orientieren. All dies schließt instrumentelle Klassen- und Naturverhältnisse ein, welche auf die Maximierung von Ausbeutung, Aneignung und Enteignung zielen und ein zerstörerisches Verhältnis der kapitalistischen Produktionsweise zur Natur und zur menschlichen Arbeitskraft bedeuten (Marx 1973: 530; Foster/Brett/Clark 2011; Mies 2015). Zudem implizieren kapitalistische Verhältnisse auch spezifische Produktionsverhältnisse, die die relative Trennung des Ökonomischen vom Politischen beinhalten (Wood 2010: 29 f, 38–45; Wallat 2021: 79 ff). All diese Charakteristika kennzeichnen den kapitalistischen Sektor, der in kapitalistischen Gesellschaftsformation jedoch nur einen Teilbereich des Ökonomischen ausmacht und mit nicht-kapitalistischen Bereichen koexistieren muss, seien dies ganze bedarfsökonomische Sektoren oder zumindest die nicht-kapitalistische Reproduktionstätigkeiten innerhalb der Privathaushalte. Damit verstehe ich Kapitalismus schließlich als eine Gesellschaftsformation, in der der kapitalistischen Sektor dominant ist. Diese Herangehensweise ermöglicht es – wie in dieser Arbeit deutlich wurde –, soziale Konflikte entlang struktureller Heterogenitäten zu verstehen.
Die gewählte Definition von Kapitalismus ermöglicht es zudem, diesen nicht mehr durch die Ausbeutung der »doppelt freien Lohnarbeit« (Marx 1973: 181–183) zu definieren, wie es bei einer Reihe an Marx anschließender Autor*innen üblich war (Laclau 1971; Córdova 1971; Luxemburg 1975: 67; Brenner 1977; Wood 2002: 96). Dies hat erhebliche theoretische Vorteile: Erstens, weil »unfreie« oder »gebundene Arbeit« damit historisch, aber auch systematisch als Teil des kapitalistischen Sektors begriffen werden kann, was nahezu in allen (post)kolonialen Länder von Bedeutung ist.10 Zweitens ist die Perspektive der strukturellen Heterogenität des Kapitalismus von Vorteil, weil damit auch die kapitalistische Aneignung von Arbeit mittels asymmetrischer Zirkulationsverhältnisse, das heißt »vermachteter Märkte« (Graf 2021a), in den Blick genommen werden kann. Von der indirekten Subsumtion kleiner Produzent*innen oder Händler*innen in Kapitalkreisläufen profitieren beispielsweise große Unternehmen mittels ihrer Marktmacht. Derartige Verflechtungsformen sind keine Ausnahme, vielmehr hat sich diese vertikale Integration kleiner Produzent*innen in globale Güterketten zu einer international geförderten »Entwicklungsstrategie« des upgradings und im Zuge des neoliberalen, »schlanken« Unternehmensmanagements zu einer verbreiteten Outsourcing-Strategie entwickelt.11 Die Aneignung von Arbeit und billigen Gütern kleiner Betriebe durch asymmetrische Marktverhältnisse hat sich im Rahmen der untersuchten Forstindustrie auch als eine Möglichkeit erwiesen, besonders konfliktreiche Produktionsschritte – die Fällarbeiten – an Zulieferbetriebe auszulagern sowie von kleinen Landbesitzer*innen billiges Holz geliefert zu bekommen. Die Ausdehnung der »commodity frontiers« (Moore 2000) führt folglich keinesfalls immer zu Proletarisierungs- und »Trennungsprozessen« (Backhouse 2022) der lokalen Bevölkerung von ihren Produktionsmitteln, sondern häufig auch zur Integration kleiner Produzent*innen und Kleinhändler*innen in Kapitalkreisläufe. »Aneignungsverhältnisse« konstituieren dabei Verflechtungsverhältnisse von oben. Da das Kapital in Form der »indirekten Subsumtion« die Arbeitsverhältnisse in diesen Fällen nicht direkt kontrolliert, spreche ich bezüglich dieser Verflechtungen nicht von »Ausbeutung« oder »Überausbeutung« (Marini 1974: 115 ff; Puder 2022: 305 ff), sondern von Aneignung. Die Aneignung über Märkte findet jedoch nicht nur in der genannten Form der »indirekten Subsumtion« kleiner Betriebe statt, sondern auch mittels hoher Preise auf den quasi-monopolisierten chilenischen Binnenmärkten, durch die Unternehmen hohe Profite machen sowie die massenhafte Privatverschuldung chilenischer Haushalte und deren hoher Kreditschulden. Diese Formen, die Marx (1969: 623) als »sekundäre Ausbeutung« bezeichnete, stellen ebenfalls eine Aneignung von Wert über Zirkulationsverhältnisse dar. Insgesamt wird damit deutlich, dass gerade in strukturell heterogenen Gesellschaften »sekundäre Ausbeutungsformen« (Dörre/Haubner 2012: 70 f) entlang des kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisses eine große Rolle spielen. Diese werden häufig durch Machtasymmetrien und Gewalt abgesichert (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: vii, 16 f, 137 f; Mies 1983c: 22 ff, 26; ebd. 2011: 261–267). Drittens ermöglicht uns dieses Kapitalismusverständnis, die besondere Dynamik von Enteignungsprozessen in extraktivistischen Peripherien entlang der sektoralen Grenzen zu verstehen. Die Thematik der »Enteigneten«, »Ausgegrenzten« und »Überflüssigen« wird zwar auch in den kapitalistischen Kernländern geführt (Bauman 2005; Bude 2008; Kronauer 2010; Clover 2021; kritisch: Dörre 2010: 210 f, 224; ebd.: 2015), betrifft aber die extraktivistischen Peripherien in besonderem Maße (Davis 2006; Sassen 2014; Brand 2018; Scherrer 2018; Bhattacharyya 2018), da hier mehr als die Ausbeutung oder Aneignung von Arbeit die Enteignung billiger Natur in den Fokus der Kapitalverwertung rückt.12
Neben der Ausbeutung innerhalb des kapitalistischen Sektors ermöglicht es das gewählte Kapitalismusverständnis folglich, auf die Konflikte zu blicken, die an den sektoralen Grenzen um Aneignungs- und Enteignungsprozesse geführt werden. Allerdings kommt es bei diesen nicht nur zu Aneignungen und Enteignungen, sondern auch zu gegenläufigen Prozessen der Wiederaneignungen produktiver Ressourcen durch bedarfsökonomische Akteure. Dies gilt in besonderem Maße, aber nicht nur für die in dieser Arbeit untersuchten Kämpfe der Mapuche.13 Grund für die Wiederaneignungen sind unter anderem Grenzkämpfe, wie sie in dieser Arbeit betrachtetet wurden, aber zeitweise auch makroökonomischen Dynamiken. So kehren in Krisen des kapitalistischen Sektors – wie eine Reihe von Studien zeigen – Unterbeschäftigte und Arbeitslose in den bedarfsökonomischen Sektor zurück.14 Statt von linearen Prozessen der Proletarisierung, der Landnahmen und der kapitalistischen Expansion müssen wir vielmehr von einer Pendelbewegung der Grenze zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor ausgehen, deren Dynamik wesentlich von makroökonomischen Entwicklungen sowie von Grenzkämpfen vor Ort abhängt.
Das gewählte Kapitalismusverständnis ermöglicht es zudem auch, Widersprüche innerhalb des Politischen zu verstehen, die aus der strukturellen Heterogenität folgen. Wie Sanyal (2007: 64 ff) bezüglich der indischen Entwicklung verdeutlichte und in dieser Arbeit am chilenischen Fall bestätigt wurde, führen die hohen Beschäftigungspotenziale des bedarfsökonomischen Sektors dazu, dass dieser infolge der »strukturellen Überbevölkerung« in den Fokus politischer Armutsbekämpfungs- und »Entwicklungspolitik« gerät.15 Diese Förderung bedarfsökonomischer Aktivitäten durch den Staat – wie begrenzt diese in einem neoliberalen Land wie Chile auch immer sein mag – widerspricht jedoch dessen gleichzeitiger Maxime der Privilegierung des Wachstums und der Verwertungsbedingungen des kapitalistischen Sektors. Dies führt – wie in Chile deutlich wurde – zu einer konfliktreichen Heterogenität innerhalb der Staatsapparate. Dies zeigte sich insbesondere mit Blick auf die staatliche Umverteilung von Land zugunsten der politischen Ökonomie der Enteigneten.16 Hier wird deutlich, dass die Frage der Aufrechterhaltung des bedarfsökonomischen Sektors nicht allein eine ökonomische Frage, sondern eine der »komplexen Hegemonie« (ebd.: 141 ff) ist. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der kapitalistische Staat seine mangelnde Legitimation aufgrund geringer Integration der Bevölkerung in den kapitalistischen Sektor mittels Lohnarbeit dadurch auszugleichen sucht, dass er in relevantem Maße Ressourcen an den bedarfsökonomischen Sektor umverteilt. Aus Sanyals (2007: 59 f, 174, 235 f) Sicht kommt es in peripheren Regionen deshalb auch weniger zu einer Subventionierung des kapitalistischen Sektors durch nicht-kapitalistische (Re)Produktionsformen, wovon die übergroße Mehrheit der Forschungen ausgeht,17 sondern eher zu einer politisch initiierten Umverteilung vom kapitalistischen in den bedarfsökonomischen Sektor. Dabei würden die Enteigneten mittels staatlicher Armutsbekämpfungspolitik vielfach wieder mit ihren Produktionsmitteln vereint, weshalb er von einer teilweisen Umkehrung der »ursprünglichen Akkumulation« spricht (ebd.: 59, 174, 191, 218 ff).18 Während die Umkehrung der ursprünglichen Akkumulation bei Sanyal allerdings auf eine Frage der nationalstaatlichen und internationalen Hegemonie reduziert wird, ist die Umverteilung von Land und Ressourcen an die Mapuche dauerhaft prekär und vor allem eine Frage offener Konflikte sowie des staatlichen und unternehmerischen Konfliktmanagements vor Ort.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die empirischen Erkenntnisse dieser Arbeit zeigen, dass der Kapitalismus nicht als eine Totalität gefasst werden kann, die das gesamte Ökonomische durchdringt und ausschließlich auf der Ausbeutung »doppelt freier« Lohnarbeit beruht. Vielmehr muss die kapitalistische Produktionsweise innerhalb einer strukturellen Heterogenität des Ökonomischen verortet werden, in der sie durch Prozesse der Ausbeutung, Aneignung und Enteignungen und mittels ihrer widersprüchlichen Dominanz innerhalb des Staates die nicht-kapitalistischen Bereiche dominiert. Gesellschaften, in denen die »kapitalistische Produktionsweise herrscht« (Marx 1973: 49), können damit gleichzeitig massenhaft »nicht-kapitalistische Reproduktionsverhältnisse« (Meillassoux 1975) einschließen. Gerade in extraktivistischen Peripherien kommt – wie in Chile deutlich wurde – dem bedarfsökonomischen Sektor eine zentrale Bedeutung in der Reproduktion eines Großteils der Bevölkerung zu. Deshalb gilt es nicht nur, das Konzept des »Kapitalismus«, sondern auch dasjenige des »bedarfsökonomischen Sektors einer genaueren Prüfung zu unterziehen.

6.2.2 Das Konzept des bedarfsökonomischen Sektors auf dem Prüfstand

Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich dazu beitragen, Begriffe zu schärfen, die die Perspektive der »Überflüssigen« und »Ausgeschlossenen« (Sanyal 2007: 56 ff) als Ausgangspunkt nehmen. Damit soll dem »Mangel adäquater Begrifflichkeiten« (Quijano (1974: 313) und einem »key problem in the conceptualisation of the ‘outside'« (de Angelis (2007: 229) ein Stück weit beigekommen werden. Im Rahmen meines Forschungsprozesses wurde deshalb das Konzept des »bedarfsökonomischen Sektors« ausgearbeitet. Im Folgenden frage ich nach den kapitalismustheoretischen Stärken, Problemen und Implikationen dieses Konzepts.
Der bedarfsökonomische Sektor – wie er in der vorliegenden Arbeit definiert wurde (siehe Abschnitt 2.​6.​2) – besteht aus Haushalten, Selbständigen und Klein(st)betrieben, die mit eigenen Produktions- oder Zirkulationsmitteln produzieren und deren ökonomisches Handeln auf die »einfache Reproduktion« (Bernstein 2010: 101, 104) von Privathaushalten ausgerichtet ist. Ich fasse diese ökonomischen Akteure unter einen Sektor zusammen, weil sie in hohem Maße miteinander durch spezifische lokale Märkte und personale Beziehungen verbunden sind sowie häufig eine gemeinsame moralische Ökonomie teilen.19 Es bilden sich damit – wie schon Ruy Mauro Marini (1974) und Milton Santos (1975) feststellten – eigene Formen der Zirkulation zwischen bedarfsökonomischen Akteuren heraus, die in relevantem Maße außerhalb der Kapitalkreisläufe stattfinden. Innerhalb dieses bedarfsökonomischen Sektors herrscht eine eigene wirtschaftliche Handlungsorientierung, die in der Regel durch Risikostreuung und Überlebensstrategien und nicht durch Einkommensmaximierung gekennzeichnet ist (Elwert/Evers/Wilkens 1983: 281, 286; Kößler/Hauck 1999; Ray 2007). Da die Erwerbstätigen in der Regel nicht alleinstehend sind, wird der gemeinsame Haushalt zum zentralen Ort der sozialen Reproduktion (Wallerstein 2019: 38 f). Dies hat zur Folge, dass sich das Handeln seiner Mitglieder nicht nur an individuellen Motiven, sondern in hohem Maße an einer »hauswirtschaftlichen Rationalität« orientiert, bei der verschiedene Einkommen gebündelt und auf die kollektive Reproduktion hin ausgerichtet werden (Meillassoux 1975: 106, 113 ff; Werlhof 1983a: 122 f; Demele/Schoeller/Steiner 1989: 51 ff). Damit rückt die kollektive soziale Reproduktion in den Blick, die neben individuellen Arbeitsverhältnissen zur Einkommenserzielung auch eine Reihe subsistenzwirtschaftlicher Praktiken sowie kostensparende Kalkulation der Ausgaben impliziert. Anstelle der Akkumulation besteht das zentrale Ziel hierbei darin, »[…] to ensure the day-to-day survival of business and family […]« (Santos 1975: 23). Daher wurde der Begriff des »Bedarfs« gewählt, um die grundsätzliche wirtschaftliche Handlungsrationalität dieses Sektors auszudrücken. Dies gilt gleichermaßen für die Haushalte sowie Klein(st)betriebe, die er umfasst. Im Gegensatz zu Begriffen wie dem »informellen Sektor« betont er damit die Handlungslogik des Wirtschaftens selbst und nicht die staatliche Regulierungsform. Diese Schwerpunktsetzung lässt sich dadurch begründen, dass bedarfsökonomische Tätigkeiten eine Reihe von Charakteristika teilen, unabhängig davon, ob sie formell oder informell ausgeführt werden.
Aber nicht nur durch die wirtschaftliche Handlungslogik, sondern auch durch die spezifischen Arbeitsverhältnisse in Klein(st)betrieben, Selbständigkeit und im Haushalt unterscheidet sich der bedarfsökonomische vom kapitalistischen Sektor. Dies hat erstens damit zu tun, dass die kleinen Produzent*innen, Händler*innen und Dienstleister*innen des bedarfsökonomischen Sektors ihre eigenen Arbeitsmittel, ein mit der Arbeit verbundenes Wissen und damit zusammenhängende Traditionen besitzen sowie spezifische Märkte hervorbringen und dabei eine eigene »moralische« oder gar – wie im Falle der Mapuche – eine »kulturelle Ökonomie« pflegen. In der Folge unterhalten sie zu ihrer Arbeit, zu ihren Arbeitsmitteln, ihren Kolleg*innen sowie Konkurrent*innen, Abnehmer*innen und Zulieferer*innen ein anderes Verhältnis als Lohnarbeiter*innen im kapitalistischen Sektor. Dies gilt in gewissem Umfang auch für Beschäftigte in Klein(st)betrieben, da die Arbeitsverhältnisse dort häufig durch personale, familiäre und paternalistische Beziehungen geprägt sind (Santos 1975: 21, 91, 103 f; Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomesen 1983: 75 f; Davis 2006: 185; Basole/Basu 2011).
Zweitens implizieren bedarfsökonomische Produktionsformen und -weisen wie die Subsistenzproduktion direkte und häufig reziproke Beziehungen zu ökologischen Kreisläufen, wodurch sie sich ebenfalls von Lohnabhängigen in kapitalistischen Unternehmen unterscheiden (Graf 2022a). Damit – so könnte man anschließend an den jungen Marx sagen – sind viele Erwerbstätige des bedarfsökonomischen Sektors in weitaus geringerem Maße von ihrem Arbeitsprodukt und der sie umgebenden Natur »entfremdet« als die Lohnarbeiter*innen im kapitalistischen Sektor (Marx 1968: 510–522). Die Folge ist, dass die Erwerbstätigen des bedarfsökonomischen Sektors ihre Arbeitsmittel, ihre Marktzugänge sowie die ökologischen Kreisläufe gegen »kapitalistische Landnahmen« (Dörre 2009a) in Form eines »environmentalism of the poor« (Martínez-Alier 2002) verteidigen. Dies gilt – wie die Abschnitt 4.​3.​3 und 5.​1.​2 zeigten – in besonderem Maße auch für die politische Ökonomie der Mapuche.
Drittens geht der bedarfsökonomische Sektor mit einer gänzlich eigenen politischen Regulation (Alnasseri 2003), spezifischen Formen des Politischen (Guha 1982) sowie eigenen staatlichen »Überbauten« (Córdova 1971: 27, 68) einher. Im Rahmen moralischer und kultureller Ökonomien werden lokale Märkte von unten geschaffen und informell reguliert. All dies gilt insbesondere für die in Chile ausgemachte politische Ökonomie der Enteigneten. Diese funktioniert insbesondere über informelle Märkte, mittels eigener Traditionen und politischer Autoritäten sowie mit reziproken Naturverhältnissen und bildet so eine kulturelle Ökonomie und spezifische Grenzkämpfe, die sie von den übrigen bedarfsökonomischen Praktiken unterscheidet. Einerseits steht sie damit im ständigen Konflikt zu den staatlichen Behörden, andererseits werden im Zuge internationaler Anerkennungspolitiken indigene Gruppen zu Adressaten neuer Förderpolitiken, die auf die Bekämpfung von Armut und Konfliktprävention zielen. Damit bilden sich für den bedarfsökonomischen Sektor auch besondere staatliche Regulationsformen: Im Rahmen der Anerkennungs-, Umwelt-, Armutsbekämpfungs- und »Entwicklungspolitik« entstehen dabei ganz neue staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen, Politiken und Programme für den bedarfsökonomischen Sektor.20
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es der Begriff des bedarfsökonomischen Sektors ermöglicht, innerhalb kapitalistischer Gesellschaftsformationen verschiedene ökonomische Handlungsrationalitäten, Arbeits- und Naturverhältnisse sowie politische Regulationsformen auszumachen. Der empirisch-analytische Begriff des bedarfsökonomischen Sektors kann deshalb als Schlüsselkategorie für die Analyse strukturell-heterogener Gesellschaften gelten. Dies betrifft allerdings nicht nur die drei angesprochenen Bereiche, sondern insbesondere die Untersuchung von Klassenverhältnissen und sozialökologischer Konflikte in extraktivistischen Peripherien. Bevor ich auf diese weiteren Stärken des Konzeptes des bedarfsökonomischen Sektors eingehe, wende ich mich im Folgenden kurz dessen Schwächen zu.
Die erste Problematik des Begriffs folgt daraus, dass ähnlich wie bei dem Konzept des »informellen Sektors« die bedarfsökonomischen Praktiken im Haushalt, in Selbständigkeit und in Klein(st)betrieben allesamt einem »Sektor« zugeordnet werden. Damit wird das Konzept zwar einerseits dem empirischen Faktum gerecht, dass die unterschiedlichen ökonomischen Einheiten des bedarfsökonomischen Sektors mit der gleichen Handlungsrationalität vorgehen und miteinander gemeinsame ökonomische Kreisläufe bilden: Mitglieder des bedarfsökonomischen Sektors produzieren hauptsächlich für und handeln hauptsächlich mit anderen Mitgliedern dieses Sektors. Allerdings ist der Sektor in sich stark heterogen. Er umfasst sehr verschiedene Arbeitstätigkeiten, die vom traditionellen Kleinbauern und der Hausfrau über die informelle Händlerin bis hin zum Taxifahrer im Zentrum einer Großstadt reichen. Auch enthält der bedarfsökonomische Sektor verschiedene Arbeitsverhältnisse, die von Selbständigkeit über familiäre Arbeit bis zu Lohnarbeit im Klein(st)betrieb reichen. Zudem unterhalten diese Akteure auf den ersten Blick keineswegs stets die gleichen Naturverhältnisse. Darüber hinaus unterscheiden sich informelle wie formelle Tätigkeiten hinsichtlich ihrer staatlichen Regulierung. Darüber hinaus sind sie sich auch bezüglich ihrer moralischen Ökonomien verschieden. So wurde in Abschnitt 5.​2.​2 gezeigt, dass die Mapuche eine kulturelle Ökonomie anstreben, die sich von derjenigen der Chilen*innen unterscheidet. Deshalb musste zwischen dem bedarfsökonomischen Sektor und der politischen Ökonomie der Enteigneten differenziert werden. Eine weitere Problematik ergibt sich daraus, dass Herrschafts- und möglicherweise auch Ausbeutungsverhältnisse innerhalb des bedarfsökonomischen Sektors – im Haushalt sowie im Klein(st)betrieb – unterbelichtet bleiben (Folbre 1982; Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 75 f, 109 f; Davis 2006: 180 f; Bernstein 2010: 104 ff; Svampa 2020: 81 f). Zuletzt erweckt die in dieser Arbeit vertretene These der Polarisierung zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor den Anschein, die chilenische Ökonomie sei damit umfassend beschrieben. Dementgegen bilden sich allerdings Klein(st)betriebe heraus, die für den kapitalistischen Sektor produzieren und in gewisser Weise zwischen den beiden Sektoren stehen (Sanyal 2007: 237 ff). Darüber hinaus lassen sich mit dem »Care-Sektor« (Winker 2011) auch andere Bereiche ausmachen, in denen Arbeitstätigkeiten häufig einer eigenen und teils nicht-kapitalistischen Logik folgen sowie mit dem öffentlichen Sektor ein ganzes eigenes Beschäftigungsfeld feststellen, das von der angeführten Dichotomie außen vorgelassen wird. Zuletzt übergeht der Fokus auf den bedarfsökonomischen Sektor und die Grenzkämpfe diejenigen Konflikte, die von Beschäftigten innerhalb des öffentlichen oder kapitalistischen Sektors geführt werden.
Trotz dieser Einwände halte ich in dieser Arbeit am Konzept des bedarfsökonomischen Sektors fest, weil er – wenn auch nicht umfassend und nicht immer vollkommen einheitlich – die ökonomische Handlungsrationalität des häuslichen Bedarfs und der Reproduktion mit spezifischen Natur- und Regulationsverhältnissen in den Mittelpunkt rückt, deren Gemeinsamkeiten vor allem dann sichtbar werden, wenn sie den Verhältnissen im kapitalistischen Sektor gegenüber gestellt werden.21 Diese sektorale Polarisierung impliziert dabei nicht die Vorstellung eines »Dualismus«, sondern der wirtschaftlichen und ökologischen Verflechtungen, der Pluralität der Naturverhältnisse und der politischen Artikulation. Die dargelegten Eigenheiten des bedarfsökonomischen Sektors fassen damit nicht nur spezifische endogene Verhältnisse zusammen, die den bedarfsökonomischen Sektor kennzeichnen, sondern ermöglichen es zudem erst, deren Beziehungen zum kapitalistischen Sektor zu verstehen. Die enorme Polarisierung zwischen den beiden Sektoren, die wir in Chile feststellen konnten sowie die gesellschaftliche Dominanz der Konfliktdynamik, die sich an den Grenzen zwischen den beiden genannten Sektoren in vielen Ländern des globalen Südens entfaltet, berechtigt meines Erachtens dazu, weiterhin von der gewählten »sektoralen Dichotomie« auszugehen.22 Diese Konflikte an der sektoralen Grenze finden – wie oben dargelegt – nicht zuletzt aufgrund von auf Ausbeutungs-, Aneignungs- und Enteignungsdynamiken statt, die in extraktivistischen Peripherien – wie ich im Folgenden darlegen werde – drei zentrale klassenbildenden Kausalmechanismen bilden.

6.2.3 Klassentheoretische Schlussfolgerungen

An Marx anschließendes Klassendenken geht meist vom Ausbeutungsbegriff und den Verhältnissen innerhalb des kapitalistischen Sektors aus.23 Ausbeutung wird dabei als der klassenbildende Kausalmechanismus par excellence angesehen (Wright 1985: 39 f; Dörre 2018; ebd. 2020: 36 ff; Haubner 2019). Dieser durchaus berechtigte Ausgangspunkt klassentheoretischen Denkens hat jedoch in der Folge vielfach dazu geführt, die kapitalistischen Klassenverhältnisse im Wesentlichen als Verhältnisse innerhalb der Produktion und hier mit einer Verengung auf »doppelt freie Lohnarbeit« zu untersuchen (Laclau 1971; Brenner 1977; Wright 1985; Koch 1998: 19 ff; Wood 2002: 96; Candeias 2021a). Dies ist mit Blick auf extraktivistische Peripherien jedoch unzureichend, weil – wie in dieser Arbeit gezeigt wurde – aufgrund der unvollständigen Industrialisierung und Durchproletarisierung in Ländern wie Chile Klassenverhältnisse hier im Wesentlichen als Verflechtungsverhältnisse zwischen den Sektoren bestehen. Klassenverhältnisse befinden sich damit nicht mehr alleine innerhalb einer, sondern ganz zentral auch zwischen verschiedenen Produktionsweisen.24 Wie vielfach gezeigt wurde, finden Formen der »sekundären Ausbeutung« sowie der »Aneignung« von Arbeit und billigen Gütern dabei über »hierarchische Märkte« zwischen Bereichen statt, die in dieser Arbeit den verschiedenen Sektoren zugeordnet wurden.25 Neben der Ausbeutung innerhalb des kapitalistischen Sektors rücken damit die klassenbildenden Kausalmechanismen der marktvermittelten Aneignung und der Enteignung von Ressourcen in den Blick, die in Form von Verflechtungsverhältnissen bestehen. Verflechtungen bilden damit spezifische klassenbildende Kausalmechanismen, die von der Ausbeutung innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise verschieden sind. Dies hat – wie in Abschnitt 6.2.4 deutlich wurde – erhebliche Auswirkungen auf die Art der Klassenkonflikte, die um diese Kausalmechanismen geführt werden.
Aber nicht nur die große Relevanz des bedarfsökonomischen Sektors in der sozialen Reproduktion eines Großteils der Bevölkerung, sondern auch der äußerst heterogene Charakter dieses Sektors stellt klassentheoretisches Denken vor Probleme (Bernstein 2010: 101 ff; Harriss-White 2018; Graf/Puder 2022: 221 ff). Lassen sich die Haushalte, die sich wesentlich im bedarfsökonomischen Sektor reproduzieren, einer einzigen gemeinsamen Klasse der »subalternen Arbeiter*innen« zuordnen (van der Linden 2018: 29) oder allesamt als »Proletarier« (Wallerstein 2010: 197 ff) oder »Multitude« (Hardt/Negri 2001: 393 ff) bezeichnen? Können wir in den großen Metropolen des Südens von einer »global informal working class« ausgehen, die weltweit laut Mike Davis (2006: 178) schon in den 2000er Jahren mehr als eine Milliarde Menschen umfasste? Oder müssen wir mit Blick auf die »Überflüssigen« eher verschiedene »Volksklassen« (Poulantzas 1973: 17 f) oder »classes of labour« (Bernstein 2010: 110 ff) unterscheiden?
Da trotz breiter Kommodifizierungs- und Enteignungsprozesse die große Mehrheit der Bevölkerungen des globalen Südens nicht in den kapitalistischen Arbeitsmarkt integriert wird, sprechen Autor*innen im Anschluss an das weltsystemtheoretische Denken häufig von »semiproletarischen« Haushalten.26 Die Haushalte des bedarfsökonomischen Sektors als eine »semiproletarische Klasse« zu fassen, hat den Vorteil, dem Umstand gerecht zu werden, dass sie allesamt in der Regel eigene Produktions- und Zirkulationsmittel besitzen und gleichzeitig teilweise prekär mit dem kapitalistischen Sektor verflochten sind. Dabei liegen diese unterschiedlichen bedarfsökonomischen Aktivitäten nicht nebeneinander. Sie bilden vielmehr meist allesamt unterschiedliche Einkommensformen von Haushalten. Diese Vereinigung verschiedener bedarfsökonomischer Aktivitäten auf der Haushaltsebene wirkt klassenbildend und vereinend (Wallerstein 2019: 42). Der »semiproletarische« Status ist in (semi)peripheren Ländern zudem äußerst weit verbreitet, was einerseits damit zu tun hat, dass er für die kapitalistische »Entwicklung« funktional sein kann (Arrighi/Aschoff/Scully 2010; Zhan/Scully 2018) und andererseits, weil die semiproletarische Haushalte ihre eigenen produktiven und ökologischen Ressourcen häufig vehement verteidigen (Moyo/Yeros 2005b). Allerdings suggeriert der Begriff der »semiproletarischen Haushalte« nicht nur eine Tendenz zur passiven, sondern auch zur aktiven Proletarisierung, das heißt, eine Integration in den kapitalistischen Sektor durch Lohnarbeit. Stattdessen finden die Enteigneten allerdings Lohnarbeit meist nur im bedarfsökonomischen Sektor (Bernstein 2010: 106 f; 110). Fälschlicherweise legt der Begriff der »Semiproletarisierung« daher nahe, dass es sich um eine Übergangsphase zur Integration in den kapitalistischen Sektor handelt.
Diesem Problem der Unterbeschäftigung im kapitalistischen Sektor werden die Begriffe der »Überflüssigen«, »Überzähligen« oder »Ausgegrenzten« gerecht (Bauman 2005; Bude 2008; Castel 2000: 348; Davis 2006; Sanyal 2007; Kronauer 2010; Sassen 2014; Scherrer 2018; Clover 2020; kritisch: Puder 2022: 107 ff). Deren Stärke liegt darin, zu verdeutlichen, dass es sich bei den Mitgliedern des bedarfsökonomischen Sektors mehrheitlich um eine strukturelle Überbevölkerung und nicht um eine industrielle Reservearmee im Marxschen Sinn handelt. Allerdings suggerieren diese einen reinen Exklusionsmechanismus und eignen sich daher wenig als klassentheoretische Konzepte. Auch gehen sie zwar von der wichtigen Dynamik des kapitalistischen Sektors aus, allerdings bleibt die Tatsache unsichtbar, dass die »Überflüssigen« im bedarfsökonomischen Sektor gesellschaftlich äußerst wichtige Tätigkeiten übernehmen, vielfältig ökonomisch aktiv sind und meist in entscheidendem Maße zur Ernährungssicherheit der betreffenden Bevölkerungen beitragen.
Ich spreche in dieser Arbeit mit Blick auf den bedarfsökonomischen Sektor in Chile von einer Klasse der »prekären Haushalte«, die das pueblo bilden und sich wesentlich außerhalb des kapitalistischen Sektors reproduzieren. Die Reproduktion ihrer »Haushaltsökonomie« und der mit dieser verbundenen selbständigen und klein(st)betrieblichen Aktivitäten ist stets unsicher, häufig vorübergehend und umkämpft. Sie sind fortwährend von einem Phänomen betroffen, das Henry Bernstein (2010: 104) als »simple reproduction squeeze« bezeichnet und das darin besteht, dass ihr Überleben auf »gleicher Stufenleiter« fortwährend infrage steht: sei es durch steigende Lebenshaltungskosten, sinkende Abnehmerpreise, verwehrte Marktzugänge oder ökologische Krisen. Damit unterscheiden sich die prekären Haushalte klassenanalytisch auch von der deutlich kleineren Gruppe besser gestellter lohnabhängiger Haushalte, die auf Basis von gut bezahlten und relativ stabilen Erwerbstätigkeiten dauerhaft in den chilenischen Kapitalismus integriert sind. Das Problem des Begriffs der »prekären Haushalte« als Klassenbezeichnung besteht darin, dass er zwar die allgemein geteilte ökonomische, soziale und ökologische Unsicherheit der Privathaushalte sowie der selbständigen und klein(st)betrieblichen Aktivitäten betont, damit aber nicht auf das Gemeinsame verweist, das in der Bezeichnung ihres antagonistischen Kausalmechanismus zur besitzenden Klasse besteht. Allerdings wird die Unsicherheit der prekären chilenischen Haushalte – wie wir gesehen haben – massiv durch die umfassende Kommodifizierung aller gesellschaftlichen Bereiche unter dem chilenischen Neoliberalismus vorangetrieben. Dies betrifft alle drei Kausalmechanismen: Die Ausbeutung im kapitalistischen Sektor, weil die Arbeitsmärkte stark flexibilisiert und damit die Ware Arbeitskraft erheblich kommodifiziert wird; die Aneignung, weil mittels der indirekten Subsumtion kleine Produzent*innen immer stärker in Kapitalkreisläufe integriert werden und die Enteignung, weil die Privatisierung der ökologischen Ressourcen seit der Militärdiktatur enorm vorangetrieben wurde. Das chilenische Wachstumsmodell wurde deshalb als Akkumulation durch Kommodifizierung bezeichnet, weil darunter alle drei klassenbildenden Kausalmechanismen gefasst werden können, durch die die besitzende Klasse in Chile ihr Kapital verwertet.27 Im Rahmen des neoliberalen chilenischen Modells sind die drei Kausalmechanismen damit allesamt Teil einer Akkumulationsstrategie der Kommodifizierung, die von der besitzenden Klasse ausgeht und die die prekären Haushalte allesamt – wenn auch je nach Aktivität in unterschiedlichem Maße – betreffen. Diese Prekarisierung durch Kommodifizierung eint die Haushalte des bedarfsökonomischen Sektors. Dass dies nicht nur eine theoretische Konstruktion einer »Klasse auf dem Papier« (Bourdieu 1985: 8, 12) darstellt, zeigt sich daran, dass das Wort pueblo in Chile eine Klassenidentität und Selbstbezeichnung darstellt, durch die sich politisch-sozial, kulturell und ökonomisch die prekären Haushalte repräsentiert fühlen und sich diskursiv in einen Antagonismus zur besitzenden Klasse stellen (Graf/Landherr 2020: 478 ff). Die Akkumulation durch Kommodifizierung bildete daher auch den sozioökonomischen und sozialökologischen verbindenden Antagonismus eines politischen Protestzyklus der 2010er Jahre in Chile, der sich zwischen den prekären Haushalten des pueblos und der besitzenden Klasse entfaltete und im estallido social im Oktober 2019 seinen Höhepunkt erreichte (Graf 2022c). Im Folgenden gehe ich darauf ein, welche Schlussfolgerungen diese klassentheoretischen Anmerkungen für das konflikttheoretische Denken bedeuten.

6.2.4 Konflikttheoretische Schlussfolgerungen

Sozialwissenschaftliche Forschungen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit Konflikten entlang des kapitalistischen Innen-Außen-Verhältnisses beschäftigten, untersuchten diese häufig im Sinne der Reaktion eines nicht-kapitalistischen Außens auf die »fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation« (Werlhof 1978: 21 f), »kapitalistische Landnahmen« (Dörre 2009a: 39 ff) oder Prozesse der »Akkumulation durch Enteignung« (Harvey 2003: 145 ff). Konflikte werden dabei vorwiegend aus der Dynamik des kapitalistischen Sektors erklärt (Görg 2004; de Angelis 2007: 225 ff; Composto/Navarro 2014; Backhouse 2015; ebd. 2022; Graf/Schmalz/Sittel 2019; Fraser 2019: 29 f; Dietz/Engels 2020: 209 f). Dies gilt auch für Forschungen, die sich weniger auf Marx als auf Polanyi (Chin/Mittelman 1997; Silva 2012; Webster 2019) stützen oder auch den frontier-Ansatz im Anschluss an Jason Moore (2000; 2003). Diesbezüglich kritisiert Maria Backhouse (2022: 347), dass obwohl Moore die frontier als gesellschaftlich umkämpft auffasse, er wenige Anhaltspunkte dafür gibt, »wie diese gesellschaftlichen Auseinandersetzungen untersucht werden könnten«. Vielmehr beschreibe er »mit dem Begriff der Ressourcen-Frontiers ganz allgemein die Ausweitung von kapitalistischen Warenbeziehungen auf nicht-kapitalistische Bereiche und Milieus« (ebd.: 349). Diese Perspektiven tragen zwar in hohem Maße zu einem Verständnis der sozialökologischen Auseinandersetzungen in Ländern des globalen Südens bei, allerdings denken sie Innen-Außen-Konflikte nicht »von beiden Seiten« und müssen deshalb – so die Ausgangsthese dieser Arbeit – um einen Blick auf den bedarfsökonomischen Sektor erweitert werden. Nur so können die Akteure, der Gegenstand sowie die Form der entsprechenden Konflikte verstanden werden.
Den Begriff der »Grenzkämpfe« wähle ich im Anschluss an Nancy Frasers Konzept der »boundary struggles« (Fraser 2017: 154 f; ebd. 2022: 20 ff), um die Konflikte um die Verflechtungen zwischen dem kapitalistischen und dem bedarfsökonomischen Sektor zu verstehen. Fraser versteht das Ökonomische dabei allerdings als rein kapitalistisch und Grenzkämpfe als Konflikte um die Verschiebung und Institutionalisierung der Grenzen zwischen dem Ökonomischen auf der einen und der Gesellschaft, dem Politischen und der Natur auf der anderen Seite sowie zwischen Zentrum und Peripherie (Fraser/Jaeggi 2018: 167; Fraser 2022: 22). Anders als Fraser fasse ich das Ökonomische, das Soziale, das Politische und die Naturverhältnisse hingegen als in sich äußerst heterogen auf. Der bedarfsökonomische Sektor steht beispielsweise nicht außerhalb des Ökonomischen, sondern ist selbst ein ökonomischer Bereich, in dem produziert wird und der eigene Arbeits- und Naturverhältnisse sowie Regulationsformen impliziert. Die Grenze zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor durchzieht das Ökonomische, die Naturverhältnisse sowie das Kulturelle und das Politische. Klassen- und Grenzkämpfe werden im Gegensatz zu Fraser deshalb auch nicht analytisch getrennt (Fraser/Jaeggi 2018: 168), vielmehr werden die Grenzkämpfe – wie ich in dieser Arbeit gezeigt habe – ja gerade entlang der Klassenachse zwischen sozial völlig ungleichen Akteuren ausgetragen. Es handelt sich damit um klassenspezifische Grenzkämpfe, die sich um Verflechtungsverhältnisse und deren Regulierung drehen. Klassenkonflikte werden damit in extraktivistischen Peripherien nicht nur um Ausbeutung, sondern wesentlich um die Kausalmechanismen der Aneignung und Enteignung geführt. Sie richten sich beispielsweise darauf, ob soziale Infrastrukturen wie das Gesundheitssystem oder ökologische Ressourcen wie das Wasser privatisierte Bereiche darstellen, mit denen große Privatunternehmen ihre Geschäfte machen oder ob sie öffentliche Güter sind, die den Privathaushalten des bedarfsökonomischen Sektors zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stehen. In anderen Fällen werden Grenzkämpfe dagegen geführt, dass Forstunternehmen die großen Plantagen einfach per Kahlschlag abholzen oder dafür, dass sie dabei zumindest lokale Kleinbetriebe engagieren. Die Kompromisse, die bei derartigen Auseinandersetzungen erreicht werden, führen häufig zu neuen Formen der Verflechtungen und werden politisch institutionalisiert und damit vorübergehend auf Dauer gestellt. Insofern können wir Verflechtungen – wie in Abschnitt 6.1.2 dargelegt – mit Blick auf Grenzkämpfe als Verdichtungen von Kräfteverhältnissen interpretieren.
In einigen Fällen werden Grenzkämpfe weniger um Verflechtungen als vielmehr darum geführt, ob bestimmte Ressourcen oder Gebiete den Forstunternehmen und damit dem kapitalistischen Sektor gänzlich entzogen werden. Diese Formen der Wiederaneignung einst enteigneter Ländereien kennzeichnet den in dieser Arbeit untersuchten Kampf der reivindicación der Mapuche. Hier wird die sogenannte ursprüngliche Akkumulation ein Stück weit umgedreht. Diese durch Grenzkämpfe getriebene Pendelbewegung der (De)Proletarisierung und der Ressourcenverteilung zwischen den Sektoren ist ein dauerhafter Prozess in der politischen Ökonomie der Enteigneten. Grenzkämpfe, die ursprünglich um Verflechtung in Form von temporärer Beschäftigung oder einer anderen Form der Anteilnahme am kapitalistischen Reichtum geführt wurden, gehen dabei in Kämpfe um die Wiederaneignung von Land und anderen Ressourcen über. Keinesfalls handelt es sich hierbei nur um negative Abwehrkämpfe.28 Damit zeigt die politische Ökonomie der Enteigneten, dass die Prozesse der ursprüngliche Akkumulation und der Proletarisierung keine Einbahnstraßen sind. Andererseits wird in den untersuchten Grenzkämpfen auch deutlich, dass entlang der Grenze zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor soziale, kulturelle und ökologische Ungleichheiten konvergieren. Die intersektionale Konvergenz in den Grenzkämpfen ermöglicht dabei breite Allianzen zwischen den verschiedenen Akteuren des pueblo sowie zwischen Kämpfen gegen Ausbeutung, Aneignung und Enteignungen durch die besitzenden Klasse in Chile.
Der auf diese Weise bestimmte Begriff der Grenzkämpfe ermöglicht es damit erstens, die spezifischen Akteure zu identifizieren, die jeweils die Interessen des bedarfsökonomischen und des kapitalistischen Sektors in extraktivistischen Peripherien verkörpern und organisieren sowie diese klassenanalytisch zuzuordnen. Die relativ homogene besitzende Klasse Chiles steht dabei dem pueblo als einer heterogenen Klasse, die aus prekären Haushalten besteht und deren Reproduktion von einem funktionierenden bedarfsökonomischen Sektor abhängt, gegenüber. Zweitens lässt uns der Begriff der Grenzkämpfe unterschiedliche Strategien differenzieren. Während große Teile des chilenischen pueblos um Verflechtungen und die Anteilnahme an den kapitalistischen Erlösen kämpfen, richten radikalere Bewegungen ihre Kämpfe auf die Wiederaneignung sowie das Erreichen einer fortschreitenden territorialen Kontrolle. Drittens werden Grenzkämpfe damit auch um spezifische Konfliktgegenstände geführt. Diese liegen weniger in bestimmten Arbeitsverhältnissen innerhalb der kapitalistischen Produktion (Ausbeutung), als in den Enteignungsprozessen und Aneignungsbeziehungen zwischen dem bedarfsökonomischen und dem kapitalistischen Sektor, das heißt, der Verteilung der Ressourcen zwischen diesen sowie konkreten ökonomischen und ökologischen Verflechtungen. Viertens ermöglicht es dieser Ansatz auch, die Machtressourcen der »Überflüssigen« zu analysieren, die die Abläufe des kapitalistischen Sektors häufig »von außen« unter Druck setzen und mittels ihrer »disruptiven« (Piven 2008: 20 ff) oder »logistischen Macht« (Webster et al. 2008: 119) bestimmte »choke points« (Alimahomed-Wilson/Ness 2018; Nowak 2020) der extraktivistischen Infrastruktur blockieren. Fünftens lässt uns der gewählte Begriff der Grenzkämpfe damit auch die spezifische Form der untersuchten Konflikte verstehen. Diese werden meist in Form direkter Aktionen und weitgehend nicht-institutionalisiert aber gerade mit Blick auf die Mapuche mit einem hohen Anteil an kulturspezifischer Normen und »repertoires auf contention« (Tilly 2006: 60 ff) geführt. Grenzkämpfe gehen daher mit eigenen Formen des Politischen sowie mit spezifischen Organisierungen einher, die sich nicht nur bei den Mapuche darauf richten, territoriale Kontrolle von unten über bestimmte Orte und Gebiete zu erlangen. Damit wird nicht nur die »ökoterritoriale Wende« (Svampa 2020: 57 ff) der sozialen Bewegungen in Lateinamerika verständlich, sondern auch, warum die Großunternehmen diesen mit ihren Formen der »territorialen Macht« (Landherr/Graf 2017: 575 ff; Landherr/Graf 2021) und der Staat ihnen im Sinne Antonio Gramscis »Bewegungskriegen« (Gramsci 2012: 1587 ff) im Wesentlichen mit Mitteln der Repression entgegen treten. Mit diesem Ansatz der »klassenspezifischen Grenzkämpfe« wird es somit auch möglich, den Zusammenhang von »Struktur und Handlung« (Dietz/Engels 2020: 211) bezüglich sozialökologischer Konflikte in extraktivistischen Peripherien zu entschlüsseln. Im Folgenden gehe ich abschließend darauf ein, welche gesellschaftspolitische Relevanz den Grenzkämpfen in Zeiten der globalen sozialökologischen Krise zukommt.
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Fußnoten
1
Vgl. Composto/Navarro 2014; Cuevas/del Valle/Julián 2016; Svampa 2020: 16. Eduardo Gudynas (2015) kritisiert an Harveys Konzept der »Akkumulation durch Enteignung« jedoch, dass es zwar sehr gut die abstrakte Dynamik des Kapitalismus beschreibe, den Bereich des Nicht-Kapitalistischen, des Lokalen, des Indigenen und der natürlichen Umgebung vor Ort aber nicht mit einbezöge.
 
2
Laut der im Dependenzdenken verbreiteten »Massenkaufkraftthese« gibt es eine endogene Schranke für kapitalistische »Entwicklung« in abhängigen Ländern, die darin besteht, dass die aus niedrigen Löhnen resultierende geringe Kaufkraft der Bevölkerungsmehrheit in diesen Ländern ein binnenmarktbezogenes Wachstum unwahrscheinlich machte (Marini 1974: 120 ff; Cardoso/Faletto 1976: 25 f; Busch 1985: 114 f).
 
3
Diese Subventionsthese vertraten Dependenz- und Weltsystemtheoretiker*innen (Marini 1974; Arrighi/Aschoff/Sculli 2010: 412; Wallerstein 2019: 42), Sozialanthropolog*innen (Meillassoux 1975: 135 ff; Burawoy 1976) sowie Feminist*innen (Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 16 f, 83 ff). Auch neuere Forschungen stellen Fälle funktionaler Verflechtungen in peripheren Kontexten fest (Puder 2022: 295 ff; Sittel 2022: 319 ff).
 
4
Es handelt sich dabei insofern um ein Paradox, als dass die peripher-extraktivistische Akkumulationsdynamik einerseits selbst sowohl die gesellschaftliche sozioökonomische Notwendigkeit des bedarfsökonomischen Sektors erzeugt als auch andererseits das genaue Gegenteil: die soziale und ökologische Krise dieses Sektors.
 
5
Diesen Begriff wähle ich in Anlehnung an David Harveys (2010: 26) Terminus des »Kapital-Überschuss-Absorptionsproblem«, mit dem er eine ökonomische Krisentendenz in den Zentrumsländern bezeichnet.
 
6
Obwohl die Verflechtungskonflikte nahezu in allen Fällen in irgendeiner Weise um das Thema der Kommodifizierung kreisen, stellen sie daher dennoch keine »polanyischen Konflikte« (Silver 2005: 38) im engen Sinne dar.
 
7
So stehen sich beispielsweise die Kämpfe der Mapuche und diejenigen der camioneros, das heißt, der LKW-Fahrer*innen, die traditionellerweise politisch rechts stehen, diametral gegenüber. Auch unterscheiden sich beispielsweise die kleinbäuerlichen Lebensrealitäten und Proteste von denjenigen in den Vorstädten Santiagos.
 
8
Auf diese Konvergenz verwies im nordamerikanischen Raum schon das Konzept der »environmental justice« (Pulido 1996). Im (post)kolonialen Kontext wurde auf diese Verschränkung rassistischer Unterdrückung mit Klassenverhältnissen immer wieder hingewiesen (Guha 1982; Moro/Yeros 2005: 33; Mariátegui 2008: 60 f; Hall 2012; Quijano 2016; Puder/Schreiber 2022: 64 ff). Zu dieser Konvergenz bei den Mapuche vergleiche Montalba-Navarro/Carrasco 2003; Richards 2016; Schmalz et al. 2023. Damit wird konflikttheoretisch auch deutlich, dass ethnische Konflikte keinesfalls stets auf einer horizontalen Ebene stattfinden (Davis 20006: 185).
 
9
»Anerkennungs-« und »Umverteilungskämpfe« (Fraser 2003: 9 ff) fallen hier in gewisser Weise zusammen.
 
10
Vgl. eine Fülle an Studien: Wallerstein 1979; Marini 1974; Miles 1987; van der Linden 2007; Banaji 2013; Quijano 2016; Beckert/Rockman 2016; Gerstenberger 2017; Tomich 2018; Frings 2019; Bhattacharyya 2018.
 
11
Vgl. Bair 2010: 31 f; Barrientos/Gereffi/Rossi 2011; Arias 2014; Díaz/Valencia 2014; Komlosy 2015; Fischer/Reiner/Staritz 2021: 23 f; Sittel 2022: 326 ff.
 
12
Anders als Nancy Fraser (2019: 40 ff) fasse ich damit nicht alles, was über klassische Ausbeutung der Lohnarbeit hinausgeht, als Enteignung, sondern unterscheide zwischen Aneignung und Enteignung.
 
13
Zu Prozessen der Wiederaneignung vgl. Moyo/Yeros 2005a; ebd. 2005b; Bernstein 2010: 109; Zhan/Scully 2018: 1022, 1026–1029, 1031; Puder 2022: 246 und zu Konflikten um Wiederaneignung im extraktivistischen Kontext vgl. Shiva 1988: 77 f; Alimonda 2011: 39; Composto/Navarro 2014; Scheidel et al. 2018: 586.
 
14
Vgl. zur Frage der Ausweitung bedarfsökonomischer Aktivitäten in Krisenzeiten: Córdova 1971: 33; Elwert/Wong 1979: 262; Lutz 1989: 246 f; Nash 1994: 21; Evers/Korff 2000: 137 f; Loayza/Rigolini 2011; Poehls 2012; Mies 2015: 18 f; Hürtgen 2015: 26 f; van der Linden 2017: 370; Zhan/Scully 2018: 1019 f. Teilweise trat dieses Phänomen auch während der Corona-Pandemie auf, vgl. Schmalz 2020: 357 f; Ellis-Petersen/Chaurasia 2020. In Ländern wie Deutschland hat dies eher kulturelle Gründe, vgl. Voges 2017: 20, 387.
 
15
Zur »Entwicklungspolitik« in Lateinamerika, die sich auf die Förderung des bedarfsökonomischen Sektors und insbesondere die kleinbäuerliche Landwirtschaft richtet, vgl.: Salcedo/De la O/Guzmán 2014.
 
16
Hier sei an die Rolle der Behörde der CONADI erinnert, die Land an die Mapuche umverteilt und die der sonst im chilenischen Staat dominanten politischen Rechten erheblich missfällt.
 
17
Vgl. Marini 1974; Meillassoux 1975: 135 ff; Burawoy 1976; Werlhof/Mies/Bennholdt-Thomsen 1983: 16 f, 83 ff; Elwert/Evers/Wilkens 1983: 287; Custers 1997: 183 f; Arrighi/Aschoff/Sculli 2010: 412; Komlosy 2015: 50; Wallerstein 2019: 42; Sittel 2022: 326 ff; Puder 2022: 295 ff.
 
18
Allerdings geht Sanyal (2007: 64) auch davon aus, dass die klassische »ursprüngliche Akkumulation« ebenfalls fortgesetzt wird, weshalb das »postkoloniale Ökonomische« durch eine Gleichzeitigkeit aus fortgesetzter und umgekehrter »ursprünglicher Akkumulation« gekennzeichnet sei. Auch im untersuchten chilenischen Fall lässt sich diese Gleichzeitigkeit der beiden gegenläufigen Prozesse ausmachen.
 
19
Für bedarfsökonomische Märkte in Chile sind beispielsweise personale Beziehungen von großer Bedeutung. Das gilt nicht nur für den sozialen Nahbereich. Insbesondere Märkte von Dienstleistungen werden beispielsweise mittels persönlicher Empfehlungen (»datos«) besonderer Händler*innen oder Produzent*innen organisiert.
 
20
Vgl. zu derartigen Förderungen indigener Gruppen, Toledo 2005: 77 f; Yashar 2007; Gerber 2011; Coulthard 2014; Arce et al. 2016.
 
21
Auf den zweiten Blick sind beispielsweise die Naturverhältnisse verschiedener Akteure des bedarfsökonomischen Sektors doch relativ ähnlich, werden diese mit den extraktivistischen Naturverhältnis kontrastiert. So verbindet insbesondere im Süden Chiles sowohl die städtische als auch die ländliche Bevölkerung das Leiden unter Wassermangel, Angst vor Waldbränden in nahe gelegenen Forstplantagen oder Industrieabgasen und -abwässern.
 
22
Dass sozialökologische Konflikte wesentlich entlang der von mir beschriebenen sektoralen Grenze geführt werden, zeigen eine Reihe von Studien, vgl. bspw. Moyo/Yeros 2005b; Borras et al. 2012; Composto/Navarro 2014; Backhouse 2015; Martínez-Alier/Walter 2016; D’Costa/Chakraborty 2017; Dietz/Engels 2020.
 
23
Vgl. Poulantzas 1975: 17 ff; Wright 1985: 37 ff, 80 f; Nachtwey 2014; Candeias 2021a; Puder 2022: 56 ff.
 
24
Klassentheoretiker*innen nahmen diese Problematik vielfach wahr und bestimmten die »nicht-kapitalistischen Klassen« als »Kleinbürgertum« (Poulantzas 1975: 165 ff), »Zwischenschichten« (Wright 1985: 47 ff) oder »Mittelklassen« (Kadritzke 2017: 78 ff) und damit meist nicht aus ihrer eigenen sozioökonomischen Logik.
 
25
Vgl. Kay 1975; Werlhof/Mies/Benholdt-Thomsen 1983: ix; Harvey 2003; Dörre 2010: 202 ff; Dörre/Haubner 2012: 69 f; Banaji 2013: 94 ff; Fraser 2019: 30, 40 ff; Graf 2021a; Fraser 2022.
 
26
Vgl. Arrighi 1973; Wallerstein 1983: 27, 64; ebd. 2019: 41; Wallerstein/Smith 1992a: 15 f; ebd. 1992b: 256 ff; Moyo/Yeros 2005a: 5; ebd.: 2005b: 9, 25 ff; Bernstein 2010: 54 f.
 
27
Akkumulation durch Kommodifizierung betrifft damit drei Kausalmechanismen und nicht nur Enteignungen, weshalb ich hier nicht das Konzept der »Akkumulation durch Enteignung« (Harvey 2003: 145 ff) verwende.
 
28
Dem globalen Trend des Kleinbauernsterbens setzt sich so ein Widerstand entgegen der bei den Mapuche, aber auch andernorts zu Prozessen der Deproletarisierung und Wiederverbäuerlichung führt (Moyo/Yeros 2005b: 26–30; Bernstein 2010: 109; Zhan/Scully 2018: 1022, 1026–1029, 1031; Silver 2019: 571).
 
Metadaten
Titel
Sozialökologische Konflikte der »Überflüssigen«: Zentrale Befunde und theoretische Diskussion
verfasst von
Jakob Graf
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43536-3_6

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