Spätestens mit dem Beginn der zweiten Dekade der 2000er wird nun eine beschleunigte Dynamik der KI erkennbar, die sich seitdem kontinuierlich verstärkt. Als technologische Voraussetzung für diese beginnende Dynamik können vier sich wechselseitig verstärkende Faktoren angesehen werden: Zum Ersten die Entwicklung hochkomplexer KI-Methoden wie etwa der Statistik und der Wahrscheinlichkeitsrechnung sowie lernender Systeme, zum Zweiten die vor allem über das Internet bereitgestellte massive Zunahme global verfügbarer Daten und die Möglichkeiten, diese mit Big-Data-Methoden zu nutzen, zum Dritten eine exponenziell steigende und sich verbilligende Rechnerleistung und zum Vierten der generelle Prozess der Digitalisierung, das heißt die Transformation von immer mehr sozialen Zusammenhängen in eine IT-freundliche Umgebung und die Durchdringung der Gesellschaft mit digitalen Systemen (Cath et al.
2018, S. 506; Deutscher Bundestag
2020, S. 48; Dickel
2023). Görz et al. bezeichnen diesen technologisch verursachten Schub als „Big Bang of Deep Learning“ (Görz et al.
2021, S. 9). Konkret bedeutet dies, dass zuvorderst Künstliche Neuronale Netze sowie Methoden des Maschinellen Lernens die Basis für diesen Entwicklungsschub begründen.
5.1 Ein gesellschaftlich orientiertes Technologieversprechen
Dieser breite Technologieschub bietet nun die Voraussetzung für eine nachhaltige Reformulierung des Technologieversprechens der KI. Dabei handelt es sich um ein fortlaufend präzisiertes Ergebnis eines längeren Diskussionsprozesses in den Jahren nach 2011, der von der einflussreichen KI-Community (s. unten) vorangetrieben wird und in dessen Verlauf eine ganze Reihe programmatischer Publikationen vorgelegt wird (z. B. Fachforum und acatech
2017; Bitkom und DFKI
2017; EFI
2018). Diskursiver Bezugspunkt ist dabei die 2011 vorgestellte Vision von einer Industrie 4.0 mit ihren weitreichenden Versprechungen über die Modernisierung der Industrie. Diese Vision wird in der Wirtschaft, der Politik und der Wissenschaft breit rezipiert und rückt damit das Thema der Digitalisierung als Voraussetzung einer generell notwendigen gesellschaftlichen Modernisierung in den Fokus der öffentlichen Debatte. Damit werden vor allem auch weitgehende Anwendungsperspektiven von KI avisiert (Forschungsunion und acatech
2013, S. 95). Und auch in daran anschließenden programmatischen Statements und Vorträgen betont der „Spokesman“ der deutschen KI Wolfgang Wahlsters wiederholt, das Konzept Industrie 4.0 müsse mittels Künstlicher Intelligenz zu einer „Zweiten Welle der Digitalisierung“ erweitert werden. Ziel müsse es sein, Daten digital zu „verstehen, [zu] veredeln, aktiv [zu] nutzen und [zu] monetarisieren“ (Wahlster
2017).
Daher werden nun, anders als früher, auch nachdrücklich ökonomische Wachstumserwartungen formuliert. Folgt man beispielsweise einer jüngsten Prognose des Direktors des Instituts der deutschen Wirtschaft Michael Hüther, so kann die Nutzung von KI zu Automatisierungszwecken vor allem im produzierenden Gewerbe der deutschen Volkswirtschaft eine zusätzliche Bruttowertschöpfung in Höhe von ca. 330 Mrd. Euro ermöglichen (Institut der deutschen Wirtschaft
2023). KI wird darüber hinaus als „Beschleuniger“ (Deutscher Bundestag
2020, S. 145) für neue Produkte, Prozesse, Geschäftsmodelle und Märkte bezeichnet. Freilich gehen dabei weitere zentrale Aussagen in verschiedenen Dokumenten deutlich über rein industriell-ökonomische Aspekte hinaus, sodass das Technologieverspechen einen explizit gesellschaftsbezogenen Charakter gewinnt.
So werden zum einen Potenziale von KI für verschiedenste gesellschaftliche Anwendungsfelder hervorgehoben, darunter der Straßen- und Schienenverkehr, die medizinische Diagnose, die Assistenz und Pflege in einer alternden Gesellschaft sowie der Einsatz autonomer Systeme in menschenfeindlichen Umgebungen oder Smart Homes mit mehr Energieeffizienz (Fachforum und acatech
2017, S. 2 f.). Zum Zweiten wird dezidiert die Erwartung formuliert, dass KI dabei helfen wird, ökologische Herausforderungen wie die Begrenzung des Energie- und Ressourcenverbrauchs zu bewältigen. Generell werden der smarten Technologie Potenziale für die Bewältigung von klimawandelbedingten Herausforderungen zugeschrieben (z. B. Peteranderl
2021). Zum Dritten werden gesellschaftliche Visionen formuliert. So erwarten der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche Bitkom und das DFKI, dass mit den rapiden Fortschritten der KI wesentliche Voraussetzungen für einen tiefgreifenden Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft gegeben seien. Die KI werde „die Art und Weise revolutionieren, wie Menschen arbeiten, lernen, kommunizieren, konsumieren und leben.“ Zudem werden sozial wünschenswerte Konsequenzen prognostiziert: „KI kann genutzt werden, die soziale Inklusion voranzubringen und Behinderten, Personen mit geringen Sprachkenntnissen oder mit eingeschränkter Mobilität eine möglichst gleichwertige Teilhabe an der Arbeitswelt und am gesellschaftlichen Leben zu eröffnen“ (Bitkom und DFKI
2017, S. 2 ff.).
Schließlich werden der intensive internationale Diskurs über KI als zukünftige Schlüsseltechnologie und die Furcht thematisiert, den Anschluss an den globalen Technologiewettlauf, insbesondere in Anbetracht der beiden großen KI-Mächte USA und China, zu verlieren. So mahnt die einflussreiche Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), dass ein „großer Handlungsbedarf“ bestehe, „um Deutschland in einem dynamischen, internationalen Innovationswettbewerb im Bereich der KI und der autonomen Systeme vorteilhaft zu positionieren“ (EFI
2018, S. 81). Dies wird ausdrücklich auch als industriepolitische Notwendigkeit gesehen. Besonders wird zudem auf die drohenden Monopolisierungstendenzen der global agierenden Digitalkonzerne hingewiesen, allen voran die „Hyperscaler“ Google, Facebook, Apple, Amazon, Microsoft sowie die chinesische Firma Baidu, denen durch deutsche und europäische Entwicklungsmaßnahmen und Innovationsstrategien der hiesigen Unternehmen entgegengetreten werden müsse (Deutscher Bundestag
2020, S. 135 ff.).
5.2 Die „hartnäckige“ KI-Community
Als Driving Force des Technologieversprechens erweist sich in den 2010er-Jahren eine einflussreiche Gruppe von Akteuren, die sich als KI-Community bezeichnen lässt. Ihr Kern besteht aus den Vertretern der seit den 1990er-Jahren an Universitäten und Forschungsinstituten konsolidierten Wissenschaftsdisziplin der KI, darunter insbesondere eine gewachsene Zahl von KI-Wissenschaftler:innen. Nach Ansicht der von uns interviewten Expert:innen weisen sie eine besondere Hartnäckigkeit beim Verfolgen ihrer Ziele auf, die auf der kollektiven Überzeugung dieser Gruppe beruht, dass die KI eine große Zukunft mit vielfältigen Anwendungspotenzialen habe. Darüber hinaus umfasst die Community Vertreter von IT- und Softwareunternehmen sowie einige Unternehmen aus der IT- und Elektrotechnischen Branche, die sich nach den Enttäuschungen der 1980er-Jahre erneut für KI zu interessieren beginnen. Auch spielen in diesem Kontext zunehmend interessierte Vertreter einer Reihe von Bundesministerien sowie von Wirtschaftsverbänden eine Rolle. Schließlich ist eine zentrale institutionelle Voraussetzung für die Stabilisierung der KI-Community die koordinierende Rolle der Deuschen Akademie für Technikwissenschaften in München, genannt acatech. Sie vereinheitlicht die heterogenen Interessen der verschiedenen Akteure, indem sie eine hochrangige Diskursplattform zur Verfügung stellt.
Die KI-Community formuliert im Wesentlichen das Technologieversprechen, nimmt starken Einfluss auf den als Agendasetting zu bezeichnenden Prozess, d. h. die Definition von erforderlichen Entwicklungsschritten sowie die politischen Innovationsmaßnahmen, und beeinflusst den öffentlichen Diskurs. In diesem Kontext wird etwa das sogenannte Fachforum Autonome Systeme konstituiert, das im Jahr 2017 Empfehlungen zur innovationspolitischen Förderung Künstlicher Intelligenz vorlegen und den Prozess der breiten innovationspolitischen Förderung maßgeblich anstoßen sollte. Es handelt sich dabei um die gemeinsame Arbeit von mehr als 60 Expert:innen aus den Bereichen Wissenschaft, IT-Unternehmen, Industrie und Beratung sowie Vertreter:innen verschiedener Bundesministerien (Fachforum und acatech
2017). Der programmatische Bericht dieses Gremiums wird im Rahmen der Messe CeBIT 2017 öffentlichkeitswirksam u. a. vom damaligen Präsidenten von acatech, Henning Kagermann, an die damalige Bundeskanzlerin sowie die damalige Bundesforschungsministerin übergeben. Diese einflussreiche Position kann die KI-Community durch den zunehmenden Erfolg des KI-Technologieversprechens kontinuierlich konsolidieren und ausweiten. Sie gewinnt neue interessierte Partner aus dem Wirtschaftssektor, formuliert faktisch die Leitlinien der staatlichen KI-Politik und baut damit ihren Zugriff auf finanzielle und institutionelle Ressourcen immer weiter aus.
5.3 Eine stabile „Scientific-Political-Economic“-Konstellation
Diese forschungs- und innovationspolitischen Aktivitäten führen dazu, dass sich eine stabile Entwicklerkonstellation aus Forschungspolitik, Teilen der Privatwirtschaft und der Wissenschaft herauszubilden beginnt. In ihren Grundstrukturen entspricht sie der „Scientific-Political-Economic“-Konstellation aus den 1980er-Jahren, geht jedoch insofern deutlich über diese hinaus, als es ihr gelingt, sich zu stabilisieren und kontinuierlich zu erweitern. Sie bildet den Kern des sich nun endgültig herausbildenden soziotechnischen Feldes der KI: Die ökonomischen und gesellschaftlichen Versprechen der KI-Community sprechen die Innovations- und Wirtschaftspolitik unmittelbar an, und die Politik greift die Formel von der KI als „Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts“ (Rothe
2020; Kroll et al.
2022) programmatisch auf. Ähnlich wie im Kontext von Industrie 4.0 ist das erklärte Ziel der Erhalt sowie der Ausbau einer günstigen Konkurrenzsituation der deutschen Wirtschaft im globalen Technologiewettlauf. Angesichts der traditionell ausgeprägten Weltmarktorientierung der Wirtschaft ist dieser Aspekt für die deutsche Politik besonders drängend. Darüber hinaus ist das Versprechen einer effektiven Bewältigung der vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen durch die besondere Leistungsfähigkeit der Technologie für die Politik von allergrößtem Interesse. Hinzu kommt, dass die Politik, wie es ein leitender Ministerialbeamter in einem Gespräch formuliert, in der Künstlichen Intelligenz einen weiteren innovationspolitischen „Leuchtturm“ erkennt. Wie schon im Falle von Industrie 4.0 könne sich die Politik damit einmal mehr als zukunftsorientiert ausweisen und Legitimation in der Öffentlichkeit verschaffen.
So werden die innovationspolitischen Empfehlungen des erwähnten Fachforums Autonome Systeme zu KI zunächst Anfang des Jahres 2018 im Koalitionsvertrag der damaligen Bundesregierung aufgegriffen. In diesem kündigt die Bundesregierung (
2018a, S. 12) die „Weiterentwicklung der High-Tech-Strategie, u. a. mit Schwerpunkt auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz“ an. Explizit wird dies dann mit der Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung fortgeführt, die im Herbst 2018 der Öffentlichkeit vorgelegt wird und als Ausgangspunkt für eine Vielzahl von Fördermaßnahmen auf den unterschiedlichsten Ebenen in den dann folgenden Jahren fungiert (Bundesregierung
2018b). Mit ihr beginnt die Innovationspolitik eine präzisierte Agenda für die KI-Entwicklung zu entwerfen und diesen Prozess fortlaufend zu koordinieren.
Damit übernimmt die Innovationspolitik eine zentrale koordinierende Rolle für die KI-Entwicklung. Diese Rolle, d. h. die Koordination der am KI-Innovationsprozess beteiligten heterogenen Akteure, ihre Vernetzung und der Anstoß eines Wissenstransfers zwischen den Akteuren, wird von interviewten KI-Expert:innen als die zentrale Politikfunktion im Feld der KI angesehen. Eine wesentliche Koordinationsmaßnahme ist dabei die Einrichtung der „Plattform Lernende Systeme“ (o. D.b) durch das BMBF, die „führende Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus den Bereichen Lernende Systeme und Künstliche Intelligenz“ vernetzen soll, um „die Chancen, Herausforderungen und Rahmenbedingungen für die Entwicklung und den verantwortungsvollen Einsatz Lernender Systeme“4F zu untersuchen. Daneben hat die staatliche finanzielle Förderung von einschlägigen Entwicklungsvorhaben Äußerungen von Expert:innen zufolge eine wichtige „Hebelwirkung“ für die FuE-Finanzierung, da dadurch private Investitionen stimuliert werden.
Darüber hinaus wird die Dynamik von einer schnell wachsenden Zahl von Unternehmen vorangetrieben, die an der KI als Entwickler, teilweise auch als Anwender interessiert sind. Insbesondere technologieintensive Unternehmen wie Siemens, Bosch, Telekom, SAP oder ABB spielen bei der Entwicklung KI-basierter Technologien für industrielle Prozesse, beispielsweise bei Industriesoftware, Automatisierungsanlagen oder im Feld des Industrial Internet, eine bestimmende Rolle (Deutscher Bundestag
2020, S. 151). Diese Unternehmen knüpfen damit an ihre Industrie‑4.0‑orientierten Innovationsaktivitäten an, erweitern diese um die Dimension der KI und zielen damit einmal mehr global auf neue Absatzmärkte im Bereich anspruchsvoller und komplexer Automatisierungstechnologien. Denn erwartet wird, dass KI aufgrund ihrer Flexibilität und konzeptionellen Breite technologische Potenziale für eine Vielzahl neuer Innovations- und Anwendungsperspektiven eröffnet. Vermittelt über verschiedenste politisch initiierte Koordinationsmaßnahmen, darunter etwa sogenannte Transfereinrichtungen, wird zudem das Interesse einer zunehmenden Anzahl etablierter, jedoch nicht sonderlich technologieintensiver Unternehmen aus den industriellen Kernsektoren wie dem Maschinenbau oder der Konsumgüterbranche an Künstlicher Intelligenz geweckt. Folgt man aktuellen Daten des jährlich in Stanford erscheinenden AI Index Reports, so nimmt die KI-Orientierung der Unternehmen in Deutschland in den letzten Jahren schnell zu. Differenziert man nach Wirtschaftssektoren, lässt sich dabei dem volkswirtschaftlichen Profil der Bundesrepublik entsprechend ein ausgesprochener Fokus auf industrielle Anwendungen ausmachen (Zhang et al.
2021, S. 84 ff.).
Weiterhin wird die Entwicklungsdynamik von einer sehr schnell anwachsenden Landschaft hochspezialisierter Startups geprägt.
7 Seit 2011, so die Ergebnisse beim Blick auf die Datenlandschaft, lässt sich ein rasanter Anstieg von Startup-Gründungszahlen verzeichnen. So berichtet der KI-Bundesverband für das Jahr 2020 von über 250 Mitgliedern (zit. n. Deutscher Bundestag
2020, S. 147). Generell wird Startups eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von KI-basierten Geschäftsmodellen und bei der Kommerzialisierung von KI-Innovationen zugeschrieben. Diese Gründungsdynamik treibt nicht nur die KI-Entwicklung voran, sondern wird durch diese zugleich umgekehrt beschleunigt, da KI-Gründungen oftmals aus staatlichen Gründungsfonds gefördert werden, aber auch mit Kapital von größeren etablierten Unternehmen, die an KI-Innovationen interessiert sind. Insgesamt ist die Unternehmensentwicklung von einer zunehmenden KI-orientierten Vernetzung zwischen den unterschiedlichsten Unternehmenstypen geprägt. Ein Beispiel hierfür ist die staatlich geförderte Initiative „AI4Germany“ (UnternehmerTUM
2019). Daneben existieren eine ganze Reihe von Entwicklungskooperationen zwischen Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen, die, wie Expert:innen betonen, nicht zuletzt über die verschiedensten staatlich geförderten Verbundprojekte sowie die erwähnten Transfereinrichtungen gefördert und weiter ausgebaut werden.
Auch ist die KI-Dynamik in den 2010er-Jahren von einem kontinuierlichen Ausbau der Wissenschaftsdisziplin Künstlich Intelligenz auf den verschiedensten institutionellen Ebenen gekennzeichnet. Diese reichen von der Grundlagenforschung, etwa bei der Max-Planck-Gesellschaft über die angewandte Grundlagenforschung, und den Transfer am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) bis hin zur rein anwendungsorientierten Entwicklung bei verschiedenen Fraunhofer-Instituten, sogenannte Industrie-Labs und industriell dominierten Clustern. Insgesamt entsteht damit eine oftmals staatlich geförderte, weit verzweigte und ausdifferenzierte Forschungslandschaft.
8 In der Folge gewinnt die KI nicht nur innerhalb des nationalen Wissenschaftssystems eine weiterhin einflussreiche Position auf Ressourcenverteilung und Forschungsziele, sondern baut zudem ihre ohnehin schon hohe internationale Reputation weiter aus.
Schließlich etabliert sich eine zunehmend größere Zahl von Gremien, Organisationen und Instituten, die sich mit den vor allem im öffentlichen Diskurs vielfach kritisch thematisierten Fragen der gesellschaftspolitischen und ethischen Normung und Regulation der KI-Entwicklung und ihrer Nutzung befassen. Zu nennen ist hier beispielsweise die Enquetekommission des Bundestages, die unter der Überschrift „Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche, soziale und ökologische Potenziale“ von 2018 bis 2020 KI-Fragen in sehr umfassender gesellschaftspolitischer Perspektive diskutiert. Einen hohen Einfluss auf den KI-Diskurs nimmt auch die von der Regierung eingesetzte Datenethikkommission. Ihr Auftrag ist es, einen Entwicklungsrahmen für Datenpolitik, den Umgang mit Algorithmen, künstlicher Intelligenz und digitalen Innovationen vorzuschlagen, Handlungsempfehlungen zu geben und Regulierungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Darüber hinaus hat der Deutsche Ethikrat (
2023) im März diesen Jahres eine grundlegende Stellungnahme zum Mensch-Maschine-Verhältnis angesichts jüngster und zu erwartender KI-Innovationen vorgelegt. Freilich ist die Frage derzeit nur schwer zu beantworten, welche Konsequenzen die laufende Regulations- und Normungsdiskussion und etwa einschlägige Leitfäden für Entwicklung und Anwendung der KI in Zukunft tatsächlich haben werden – und vor allem wie diese umgesetzt werden können (Beckert
2021).
5.4 Die Legitimation im öffentlichen Diskurs
Das Technologieversprechen Künstliche Intelligenz und die laufenden innovationspolitischen Aktivitäten sind, wie schon angesprochen, eng mit dem öffentlichen Diskurs über die Bedeutung von KI für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung verknüpft. Im Kontext der schnellen Technologieentwicklung und der damit verknüpften Versprechungen etabliert sich im Unterschied zu den 1980er-Jahren ein Diskursraum, der verschiedenste Positionen, Meinungen und Erwartungen, die sozialen Potenziale und Konsequenzen von KI betreffend, umfasst. Die Erwartungen bewegen sich dabei bekanntlich zwischen Faszination über die besondere Leistungsfähigkeit Künstlicher Intelligenz einerseits und Skepsis, ja teilweise dystopischen Perspektiven mit Blick auf ihre sozialen Konsequenzen andererseits. Dieser Diskurs weist einen ausgesprochen internationalisierten Charakter auf, lässt sich also keineswegs auf den deutschen Sprachraum einschränken und ist nur schwer überschaubar und einzugrenzen.
Indes ist das Technologieversprechen KI kaum von der optimistischen Seite dieses Diskurses zu trennen. Vielmehr gewinnt es gerade mit Bezug auf die in der Öffentlichkeit teilweise geradezu euphorisch gefeierten und international breit inszenierten Highlights der KI-Technologie Legitimation und Überzeugungskraft – darunter der Sieg des IBM-Computers Deep Blue gegen den damaligen Schachweltmeister Garry Kasparov im Jahr 1997, die Quiz-Show Jeopardy!, in der der IBM-Watson im Jahr 2011 die besten Spieler:innen der Quiz-Show besiegte, oder der Sieg des KI-Systems Alpha Go der Firma Deep Mind im Jahr 2016, das damals den als besten angesehenen Go-Spieler der Welt schlug. Nicht minder öffentlichkeitswirksam sind die immer besser funktionierenden Übersetzungsprogramme, Berichte über autonom fahrende Autos, kunstproduzierende Neuronale Netze (Barthelmeß und Furbach
2021) und schließlich die jüngst im Zentrum des öffentlichen Interesses stehende besondere Leistungsfähigkeit der Sprachmodelle wie ChatGPT. Bereits kurz nach Veröffentlichung dieser KI-Software wurden Stimmen laut, die mit den Sprachmodellen eine „technische Revolution“ (Lauer
2023) verbinden, welche die Realisierung intelligenter Assistenzsysteme final ermöglichen könne. Hinzu kommen Festveranstaltungen, Publikationen, Seminare und Konferenzen der einflussreichen KI-Community und innovationspolitische Inszenierungen wie die jährlich stattfindenden Digitalgipfel der Bundesregierung oder das von der Regierung ausgerufene KI-Wissenschaftsjahr 2019, mit denen die besondere Leistungsfähigkeit digitaler Technologien und der KI stets öffentlichkeits- und medienwirksam hervorgehoben werden.
Dabei überrascht nicht, dass die Vielzahl KI-skeptischer und kritischer Argumente, etwa in Hinblick auf problematische soziale oder ökologische Konsequenzen und nicht zuletzt auf ungelöste ethische Herausforderungen, diese Dynamik kaum bremsen. Vielmehr werden sie selbst zum Moment der Dynamik – denn wie gezeigt werden kritische Fragen selbst zunehmend auf die Forschungsagenda gesetzt und ihre Bearbeitung institutionell in den oben erwähnten Gremien und Organisationen verankert. Damit dürften diese Fragen und Herausforderungen bei der Entwicklung und Anwendung von KI-Systemen zumindest langfristig zunehmend Berücksichtigung finden, sodass Skepsis und Kritik integriert und damit entschärft werden, was der öffentlichen Akzeptanz der Systeme im Allgemeinen mutmaßlich zugutekommen wird. Zudem: Trotz aller Skepsis und Kritik wird der KI-Diskurs nachhaltig von der Überzeugung geprägt, dass es allein schon aus Gründen des ökonomischen Wettbewerbs ein massives Interesse an KI-Entwicklung geben müsse. Denn KI gilt derzeit ungebrochen als „der ganz große Zukunftsmarkt […]. Kein Unternehmen, keine Armee, keine Volkswirtschaft, keine Regierung, kein Geheimdienst und keine Universität will sich bei diesem Rennen abhängen lassen.“ (Lenzen
2018, S. 15 f.)