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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Unser Blick auf den Status quo

verfasst von : Thomas Marzi, Manfred Renner

Erschienen in: Das Weltbild der Circular Economy und Bioökonomie

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Das Ausmaß, in dem technisch-ökonomische Entwicklungen in den letzten Jahrhunderten die Welt verändert haben, ist schlichtweg atemberaubend. Menschen stehen heute Möglichkeiten offen, die ihre Vorfahren sich nicht mal vorstellen konnten. Dieses Wunder hat jedoch seinen Preis. Es kostet immer mehr Ressourcen, verursacht wachsende Emissionen und führt dazu, dass ein immer größer werdender Teil der Welt von Menschen zur Deckung ihrer Bedürfnisse in Anspruch genommen wird, während anderen Arten immer weniger Lebensraum zur Verfügung steht.
Das Ausmaß, in dem technisch-ökonomische Entwicklungen in den letzten Jahrhunderten die Welt verändert haben, ist schlichtweg atemberaubend. Menschen stehen heute Möglichkeiten offen, die sich ihre Vorfahren nicht vorstellen konnten. Dieses Wunder hat jedoch seinen Preis. Es kostet immer mehr Ressourcen, verursacht wachsende Emissionen und führt dazu, dass ein immer größer werdender Teil der Welt von Menschen zur Deckung ihrer Bedürfnisse in Anspruch genommen wird, während anderen Arten immer weniger Lebensraum zur Verfügung steht. Letztlich zeigt sich hier ein Dilemma: Auf der einen Seite können wir unsere Lebensgrundlagen nicht ohne Wirtschaft und Technik erhalten, auf der anderen Seite führen aber unsere Art zu wirtschaften und der intensive Technikeinsatz zu deren Bedrohung. Klimawandel und Artensterben betreffen nicht nur andere Lebewesen, sie gefährden auch uns selbst. Der Ansatz, mit dem diesem Dilemma begegnet werden soll, heißt Nachhaltigkeit. Sie soll mithilfe unterschiedlicher Strategien erreicht werden. Die Circular Economy und Bioökonomie, um die es in diesem Buch geht, sind ein Teil dieser Strategien.

1.1 Früher war die Zukunft besser1

Wenn es nach der US-amerikanischen Fernsehserie Star Trek geht, die in Deutschland auch unter dem Namen „Raumschiff Enterprise“ bekannt ist, wird die Zukunft großartig. Es wird zwar noch Auseinandersetzungen mit außerirdischen Spezies oder Gefahren durch kosmische Phänomene geben, die Probleme von heute aber werden nicht mehr existieren. Sie gehören im 22. Jahrhundert der Vergangenheit an. Die Menschen leben in Frieden zusammen, jeder Mangel ist überwunden, und niemand muss mehr hungern oder frieren. Die Star-Trek-Gesellschaft ist eine „Überflussgesellschaft“, in der unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen. Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft im Leben, weil von allem mehr als genug vorhanden ist. Alle arbeiten, um ihren Interessen nachzugehen und um sich selbst und die Menschheit zu verbessern. Weil es nicht gebraucht wird, gibt es in der Star-Trek-Gesellschaft auch kein Geld mehr. An die Stelle von Nationalstaaten ist in der Serie eine geeinte Menschheit getreten, die als Teil einer interstellaren Föderation das Weltall besiedelt.2
Technische Innovationen haben bei Star Trek eine große Bedeutung. Die sozialen Fortschritte, die die Menschen des 22. Jahrhunderts gemacht haben, und der Überfluss, in dem sie leben, gibt es nur, weil es technischen Fortschritt gibt. „Warp-Antriebe“ ermöglichen Reisen durch den Weltraum, „Materie-Antimaterie-Reaktoren“ stellen Energie in unbegrenzter Menge zur Verfügung und mit „Replikatoren“ kann alles Mögliche aus jeder Art von Materie hergestellt werden. Mithilfe der Technik werden Grenzen überschritten. Für die Protagonisten der Serie ist sie der Schlüssel zu Sicherheit, Wohlstand, Frieden, Freiheit, neuen Erkenntnissen und einem sinnerfüllten Leben.3
Einige der technischen Ideen, die bei Star Trek zu sehen waren, sind inzwischen Wirklichkeit geworden. In der Serie sah man Tablets, Laptops, Touchscreens und Menschen, die Videokonferenzen abhalten und mit Computern sprechen. Manche Erfinder hat Star Trek bei ihren Entwicklungen inspiriert. Das erste Klapptelefon, das Motorola unter dem Namen „StarTAC“ auf den Markt brachte, erinnert auch optisch an den Kommunikator, den die Raumschiffbesatzung benutzte.4 Wird also vielleicht auch die Star-Trek-Gesellschaft eines Tages Wirklichkeit sein?
Was die Zukunft bringen wird, können uns Science-Fiction-Geschichten leider nicht verraten. Sie beschreiben nicht, wie es sein wird, sondern wie es sich die Autoren und Autorinnen der Geschichten vorgestellt haben. Mehr als über die Zukunft sagen sie etwas über die kulturelle Situation aus, in der sie entstanden sind. Das gilt auch für Star Trek. Die erste Folge wurde 1966, mitten in der Hochphase des US-amerikanischen Weltraumprogramms, ausgestrahlt. In der Serie findet sich somit der Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten der Technik wieder, von dem auch die Weltraummissionen getragen wurden. Letzterer wurde in der historischen Rede J. F. Kennedys sichtbar, der 1961 das Ziel ausgab, „bevor [das] Jahrzehnt zu Ende geht, einen Menschen auf dem Mond zu landen und […] sicher wieder zur Erde zurück zu bringen“5. Im Juli 1969 wurde das von Kennedy ausgegebene Ziel, das er selbst nicht mehr erlebte, Wirklichkeit. Vor den Augen von mehr als einer halben Milliarde Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer wurde ein Menschheitstraum wahr.6 Neil Armstrong und Buzz Aldrin betraten den Mond und gelangten wohlbehalten wieder zur Erde zurück. Menschen hatten zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Grenzen ihres Planeten überschritten und einen anderen Himmelskörper betreten. Wenn das möglich war, dachte man, sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie zu anderen Planeten reisen und diese bewohnen würden. So gab es zur Zeit der Mondlandung bereits Pläne zur Entwicklung von Raumstationen, die schon Ende der 1970er-Jahre mit 50 Menschen an Bord die Erde umkreisen sollten. Die Mondlandung wurde als eine Zeitenwende erlebt, die vielleicht die Menschen vereinen und Kriege überflüssig machen könnte.7 Mithilfe der Technik, so schien es, war nun nichts mehr unmöglich (Abb. 1.1).
Mit der Mondlandung wurden Grenzen überwunden, die Menschen jahrhunderttausendelang nicht überschreiten konnten. Doch warum, könnte man fragen, geschah das nicht schon viel früher? Die Vision zum Mond zu reisen gab es schließlich schon lange. Bereits der antike griechische Satiriker Lukian berichtete von einer fiktiven Reise zum Mond. Warum also erst 1969? Menschen, die biologisch über dieselben kognitiven Fähigkeiten verfügen wie wir, gibt es schon seit etwa 200.000 bis 300.000 Jahren, und soweit wir wissen, haben sie schon immer versucht, mit Technik ihre Ziele zu erreichen. Sie nutzten Feuer, stellten Werkzeuge her und fertigten Kleidung an. Technik gehört damit unmittelbar zum Menschsein dazu. Wie der griechische Prometheus-Mythos in der Version Platons berichtet, ist sie ursprünglich eine göttliche Fähigkeit, die einen natürlichen Mangel, den Menschen gegenüber Tieren haben, kompensieren soll. Viele Tieren können schneller laufen als Menschen, haben Reißzähne und Krallen, sind stärker oder tragen ein wärmendes Fell. Im Mythos entwendet Prometheus den Göttern das Feuer und die Handwerkskunst und schenkt sie den Menschen, damit sie überleben können.8 Er schenkte sie ihnen jedoch nicht, um damit zum Mond zu fliegen.
Anscheinend ist die Technik, die die Mondlandung ermöglichte, etwas anderes als die der Antike.9 Sie war ein technisches Großprojekt, das nicht möglich gewesen wäre, wenn es in den letzten Jahrhunderten nicht Entwicklungen gegeben hätte, die das, was Technik ausmacht, fundamental verändert haben. Gemeint sind die Ideen der „Aufklärung“, die als historische Epoche Ende des 17. Jahrhunderts begann. Sie beendete endgültig das Mittelalter, baute auf den Gedanken der Renaissance auf und stellte das bestehende Ordnungssystem aus Adel und Kirche infrage.10 Zumindest in der „westlichen Welt“ wurde die menschliche Vernunft nun zum Maß aller Dinge. Sie galt als das Mittel, das den Menschen individuelle, politische und ökonomische Freiheit bringen sollte.
Im Denken der Aufklärung wurden die Naturwissenschaften immer wichtiger. Ihre Erkenntnisse ermöglichten neue technische Anwendungen und stärkten den Glauben an den Fortschritt. Dabei fand der noch aus der Renaissance stammende Gedanke von René Descartes, die Natur mithilfe der Technik zugunsten der Menschen umzugestalten,11 immer mehr Befürworter. Praktisch zeigte er sich in der Intensivierung industrieller Tätigkeiten. Es entstanden Fabriken, in denen zunächst noch einfache handbetriebene Maschinen wie Webstühle zum Einsatz kamen. Schon bald wurden sie durch Spinnmaschinen, die von Dampfmaschinen angetrieben wurden, ersetzt. Diese Entwicklung markiert den Beginn einer Transformation, die wir heute rückblickend als „industrielle Revolution“ bezeichnen. Sie veränderte die Lebensweise vieler Menschen, führte zu neuen Arbeits- und Gesellschaftsstrukturen und schuf geopolitische Machtverhältnisse, die bis heute fortwirken.
Die Technik, die aus der industriellen Revolution hervorgegangen ist, war es, die die Mondlandung ermöglichte. Sie ist etwas anderes als die Technik der Frühgeschichte, Antike oder des Mittelalters. Zwar hatte es auch dort Großprojekte wie den Pyramiden- und Kathedralenbau gegeben, die moderne Technik unterscheidet sich aber durch die Art und Weise, wie sie mit anderen Faktoren zusammenwirkt, grundlegend von ihnen. Angetrieben wurde die industrielle Revolution durch wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Entwicklungen, ökonomische Veränderungen und individuelle Freiheit. Die intensive Nutzung fossiler Energie und die neue Arbeitsorganisation ermöglichten es, Güter preiswert und in einer Größenordnung zu produzieren, die vorherige Möglichkeiten weit übertraf. Angebot und Nachfrage verstärkten sich gegenseitig, und das Kapital, das in Produktion investiert wurde, wuchs weiter an. Es entstand das, was wir Wirtschaftswachstum und Fortschritt nennen.
In der industriellen Revolution wurden Naturwissenschaften, Wirtschaft, Technik und Fortschrittsglaube zu sich gegenseitig antreibenden Faktoren, die seitdem nicht mehr getrennt betrachtet werden können. Sie gelten als Garanten für eine positive wirtschaftliche, soziale und moralische Entwicklung.12 Besonders eindrücklich wurde dieser Fortschrittsoptimismus von dem Schriftsteller Stefan Zweig beschrieben. In seinem autobiografischen Buch „Die Welt von Gestern“ schreibt er, dass es aus der europäischen Perspektive des 19. Jahrhunderts heraus nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis Wissenschaft und Technik eine perfekte Welt geschaffen hätten (Zitat 1.1). Wie man sich diese Welt für das Jahr 2000 vorstellte, zeigen Postkartenmotive aus dieser Zeit. Zu sehen sind Schwimmschuhe, mit denen Menschen über Wasser laufen können, höhenverstellbare Bürgersteige, Häuser, mit denen man verreisen kann und die in Abb. 1.2 dargestellte „Schönwettermaschine“13. Fortschrittsoptimismus dokumentieren auch die Romane von Jules Verne14, der in seinen Büchern „Von der Erde zum Mond“ und „Die Reise um den Mond“ das Raumfahrtprogramm der 1960er-Jahre literarisch vorweggenommen hat. In der Mondlandung, die der Ausgangspunkt unserer Überlegungen war, erreichte der Technikoptimismus aus unserer Sicht seinen vorläufigen Höhepunkt.
Zitat 1.1: Stefan Zweig (1881–1942)
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„Das neunzehnte Jahrhundert war […] überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ‚besten aller Welten‘ zu sein. […] Jetzt […] war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde […], man glaubte an diesen „Fortschritt“ schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und der Technik. […] Auf den Straßen flammten des Nachts […] elektrische Lampen, dank des Telephons [konnte] der Mensch zum Menschen in die Ferne sprechen, [er] flog […] dahin im pferdelosen Wagen […und] schwang […] sich empor in die Lüfte […]. Der Komfort drang aus den vornehmen Häusern in die bürgerlichen, nicht mehr mußte das Wasser vom Brunnen oder Gang geholt werden, nicht mehr mühsam am Herd das Feuer entzündet, die Hygiene verbreitete sich, der Schmutz verschwand. Die Menschen wurden schöner, kräftiger, gesünder, […] und all diese Wunder hatte die Wissenschaft vollbracht.“15

1.2 Die Kehrseite der Medaille

Obwohl viele Menschen den Technikoptimismus des 19. Jahrhunderts teilten, waren die negativen Begleiterscheinungen der industriellen Produktionsweise nicht zu übersehen. Durch die neuen Produktionsmethoden konnten viele klassische Berufe wie das Weben in Heimarbeit nicht mehr so ausgeübt werden, dass der Lebensunterhalt davon bestritten werden konnte. Viele Menschen waren gezwungen, in Fabriken zu arbeiten, in Städte zu ziehen und dort in elenden Verhältnissen zu leben.16 Auch der „Naturverbrauch“ nahm zu. Immer mehr ungenutzte Bereiche wurden in Ressourcen, Baugrund oder Kulturlandschaften umgewandelt.17 Es gab deshalb bereits schon zu Beginn der industriellen Revolution kritische Stimmen, die auf die negativen Folgen des neuen Lebensstils hinwiesen. Meistens wurden soziale Auswirkungen angesprochen, eine Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen aber nicht thematisiert. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht war der Philosoph Charles Fourier. Er ist heute vor allem wegen seiner feministischen Ansichten und der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen bekannt.18 Fourier sprach bereits 1808 an, dass die industrielle Produktion die Umwelt zerstört, Wälder vernichtet, Quellen verunreinigt und das Klima verschlechtert.19 Gehört wurde Fourier nicht. Er galt als „Utopist“, „Spinner“ oder „Irrer“.20 Fortschrittskritische Stimmen mehrten sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als zunehmend die „Verschandelung von Stadt und Land, der Verlust traditioneller Werte“ und das zunehmende Gefühl einer „Entwurzelung“ der Menschen beklagt wurden.21
In dieser Zeit meldeten sich auch anerkannte Wissenschaftler zu Wort. John Stuart Mill beispielsweise entwickelte angesichts der wirtschaftlichen Dynamik eine neue ökonomische Theorie. Er war der Ansicht, dass wirtschaftliches Wachstum aufgrund von natürlichen Grenzen nicht ewig andauern kann und erwartete, dass nach einer Wachstumsphase ein stationärer Zustand erreicht wird, in dem weder die Produktions- und Kapitalmenge noch die Bevölkerungszahl weiter zunehmen. Auch andere wie Rudolf Clausius (Zitat 1.2) oder Franz Grashof (Zitat 1.3) wiesen auf die Abhängigkeit des Fortschritts von Ressourcen und auf deren Begrenztheit hin. Clausius kritisierte „den sorglosen Umgang mit der Kohleenergie“ und nannte regenerative Energiequellen als Alternative.22 Besonders bemerkenswert sind die Äußerungen Grashofs. Auch er erwartete, dass die Kohlevorräte innerhalb historischer Zeiträume verbraucht würden. Seine Alternative war visionär! Grashof schlug vor, elektrischen Strom an den Meeresküsten herzustellen und über Leitungen zu industriellen Standorten im Inland zu transportieren, wo er auch zur Erzeugung von Wärme verwendet werden sollte. Grashof hat damit gedanklich nicht weniger als das vorweg genommen, was wir heute „Energiewende“ nennen.
Zitat 1.2: Rudolf Clausius (1822–1888)
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„Wir haben gefunden, dass unter der Erde Kohlenvorräthe aus alten Zeiten liegen, […]. Diese verbrauchen wir nun, und verhalten uns dabei ganz wie lachende Erben, welche eine reiche Hinterlassenschaft verzehren. […] Wenn dieser Vorrath verbraucht sein wird, so wird kein Mittel einer noch so vorgerückten Wissenschaft im Stande sein, eine weitere Energiequelle zu eröffnen, sondern die Menschen werden dann darauf angewiesen sein, sich mit der Energie zu behelfen, welche die Sonne ihnen im Verlaufe der ferneren Zeit noch fortwährend durch ihre Strahlen liefert. […] Während das letztverflossene Jahrhundert sich dadurch ausgezeichnet hat, dass durch Erfindung oder Vervollkommnung von Maschinen […] die Kraftquellen der Natur in einer früher nie geahnten Weise dem Menschen dienstbar gemacht sind, werden die folgenden Jahrhunderte die Aufgabe haben, in dem Verbrauch dessen, was uns an Kraftquellen in der Natur geboten ist, eine weise Ökonomie einzuführen, und besonders dasjenige, was wir als Hinterlassenschaft früherer Zeitepochen im Erdboden vorfinden, und was durch nichts wieder ersetzt werden kann, nicht verschwenderisch zu verschleudern.“23
Zitat 1.3: Franz Grashof (1826–1893)
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„Beschränken wir uns auf die Betrachtung einer näher liegenden Zukunft, einer Zeit, in der die Kohlenflötze […] insoweit abgebaut sein mögen, […] d. h. einer Zeit, deren Entfernung durchaus nicht etwa mit kosmischem, sondern mit historisch irdischem Zeitmaaßstabe zu messen ist. […]. Die Aufgabe vortheilhafter Gewinnung von gewerblicher Betriebsarbeit aus dem Arbeitsvermögen der Meeresfluthen wird deshalb wesentlich Hand in Hand gehen müssen mit einer anderen: mit der Aufgabe, dieses Arbeitsvermögen auf vortheilhafte Weise viele Meilen weit in das Innere des Landes fortzuleiten. […] ohne Zweifel kann Arbeitsvermögen auf solche Entfernungen als elektrischer Strom geleitet werden in hinlänglich dicken isolirten metallenen Leitungen, und es ist wohl denkbar, […] den elektrischen Strom in ausgedehnterem Maße als Uebergangsform zu verwenden. Durch Maschinen, die im Princip schon heute bekannt sind und die nur konstructiv dem technischen Bedürfniß entsprechend auszubilden wären, kann an der Küste das durch hydraulische Kraftmaschinen stetig gewonnene und durch sogenannte Accumulatoren aufgespeicherte Arbeitsvermögen daselbst in einen elektrischen Strom verwandelt, und […] an den einzelnen Verbrauchsorten im Binnenlande wieder in Arbeit umgesetzt werden.“24
Sowohl Clausius als auch Grashof hatten Wichtiges in den Wissenschaften geleistet, Clausius als Mitbegründer der Thermodynamik und Entdecker des 2. Hauptsatzes und Grashof als Gründungsdirektor des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI). Obwohl sie, anders als Fourier, gesellschaftlich anerkannt waren und ihre Warnungen physikalisch nachvollziehbar begründeten, konnten auch sie der Dynamik aus ökonomischer und technischer Entwicklung nichts entgegensetzen. Der Ressourcenverbrauch ging in der Folge nicht zurück, sondern nahm im Gegenteil bis heute zu. Besonders entscheidend bei dieser Entwicklung war die Hochkonjunkturphase nach dem 2. Weltkrieg, als neue technische Geräte wie Elektrohaushaltsgeräte, Radios, Fernseher und Autos zu Alltagsgegenständen wurden. Zumindest in der westlichen Welt gelangten in dieser Zeit viele Menschen zu materiellem Wohlstand.25 Diese historische Phase wird heute rückblickend als „große Beschleunigung“ („Great Acceleration“) bezeichnet, weil sie mit einer „in der Geschichte beispiellose[n] Zunahme von menschlicher Aktivität“ verbunden ist,26 die sich in einer wachsenden Weltbevölkerung, großflächigen Bodenversiegelungen, einer Intensivierung der Landwirtschaft, dem Entstehen von Megastädten, einer ökonomischen Globalisierung und der Entwicklung einer Konsumgesellschaft zeigte.27
Zusammengefasst ist diese Entwicklung u. a in einem Artikel von Steffen et al.28, auf den wir uns mit Abb. 1.3 und 1.4 beziehen. Beide Abbildungen zeigen „Megatrends“, die alle etwa ab dem Ende des 2. Weltkrieges ein starkes Wachstum zeigen.29 Der Anstieg der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre ist beispielsweise zum größten Teil erst nach 1945 erfolgt. Gleichzeitig hat auch das Aussterben von Arten zugenommen.30 Das Ausmaß der Veränderungen wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der aktuelle jährliche Verbrauch von Erdöl und Erdgas dem globalen Kohlenstoffumsatz von mehreren Hunderttausend Jahren Planktonpopulation entspricht.31 Einen Überblick über die Dimension der globalen Veränderungen, die auf menschliche Aktivitäten zurückgehen, gibt u. a. ein Artikel mit dem Titel „The Anthropocene Biosphere“ von Williams et al.32 Dessen Autoren schreiben, dass nur etwa ein Drittel des eisfreien Landes auf der Erde noch als Wildnis bezeichnet werden kann und dass, auf die Masse bezogen, der größte Teil der Wirbeltiere heute Nutztiere sind.

1.3 Die Umweltbewegung

Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Einstellung zur Technik verändert. Immer mehr Menschen stellten die Fortschrittsvision des 18. und 19. Jahrhunderts, mit Wissenschaft und Technik die Natur zu beherrschen, infrage. Die Bewertung von Technik wurde, auch wenn dies zunächst keine praktischen Auswirkungen hatte, ambivalenter.33 Einerseits sorgte die technisch-ökonomische Entwicklung für Sicherheit und Wohlstand, andererseits war es aber genau diese Dynamik, die wachsende Risiken und Gefahren mit sich brachte. Der Wohlstand wurde, wie der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch „Risikogesellschaft“ schrieb, mithilfe von Risikotechnologien, wie der Atomkraft, „erkauft“.34 Als es 1986, dem Jahr, in dem sein Buch erschien, zur Kernschmelze in Tschernobyl kam, schien Becks Analyse bestätigt.
Im 20. Jahrhundert hatten nicht zuletzt die beiden Weltkriege gezeigt, welche Zerstörungen mit technischen Waffensystemen angerichtet werden können. Spätestens ab 1945, nachdem die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki durch Atombomben zerstört wurden, war klar, dass Technik das Leben nicht nur besser machen kann, sondern dass Menschen mit ihrer Hilfe sowohl ihr eigenes Leben als auch das ihrer Mitmenschen und das anderer Lebewesen vollständig vernichten können.35 Welche Ambivalenz in Technik steckt, wird durch die Raketentechnik deutlich. Sie wurde im 2. Weltkrieg als Waffensystem entwickelt. Heute ist sie sowohl Grundlage einer militärischen atomaren Bedrohung als auch das Mittel, das Raumfahrt erst möglich macht.
Zu der atomaren Bedrohung im „Kalten Krieg“ kam hinzu, dass immer weniger ignoriert werden konnte, dass der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegsjahre mit einem gigantischen Ressourcenverbrauch verbunden war. Er schädigte die Umwelt und gefährdete die Gesundheit. Auf die Frage, ab wann Umweltprobleme gesellschaftlich wahrgenommen wurden und wann sich ein fortschrittsoptimistischer Zeitgeist in ein eher fortschrittsskeptisches Denken wandelte, nennen manche Publikationen36 das 1962 erschienene Buch „Silent Spring“37, in dem sich die Biologin Rachel Carson gegen den Einsatz von Pestiziden aussprach. 1968 erschien dann das Buch „Population Bomb“. Der Autor des Buches, der Biologe Paul Ehrlich, erwartete schon für die 1970er-Jahre gravierende Hungersnöte, deren Ursache er in der wachsenden Weltbevölkerung sah.38
Umweltthemen spielten in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der 1960er-Jahre jedoch noch keine große Rolle. Das Interesse der Menschen lag häufig anderswo. Meistens wird deshalb als Wendepunkt nicht das Erscheinen von Carsons Buch, sondern die Zeit um das Jahr 1970 genannt.39 In diese fielen die Gründung der Umweltorganisation Greenpeace (1971)40 und die Veröffentlichung der berühmten Studie des Club of Rome über „Die Grenzen des Wachstums“ (1972)41. In ihr wurden die Folgen eines exponentiell steigenden Bevölkerungswachstums und Ressourcenverbrauchs untersucht. Die Botschaft der Studie war, dass auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen grenzenloses Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum nicht möglich sind. Wie abhängig wir von bestimmten Rohstoffen sind, wurde 1973 auch durch die „Ölkrise“ deutlich, als, verursacht durch einen drastischen Preisanstieg, Rohöl vorübergehend weniger verfügbar war. In der Folge formierte sich die „Umweltbewegung“. Sie bestand aus ökologisch motivierten, politischen Strömungen, die sich u. a. gegen die Nutzung der Atomkraft, neue Autobahnen und Flughafenausbauten richteten und später zur Gründung „grüner“ Parteien führten. Innerhalb der Umweltbewegung wurde die Einstellung zum technischen Fortschritt kritischer und die Erwartungen an die Zukunft pessimistischer.42 Diese Haltung war jedoch durchaus widersprüchlich, da trotzt zunehmender Technikkritik erwartet wurde, dass Umweltprobleme durch technischen Fortschritt und umwelttechnische Verfahren gelöst werden.43
Der Stimmungswandel spiegelt sich auch in Science-Fiction-Filmen. Während die Star-Trek-Serie noch optimistisch in die Zukunft blickte, zeigten andere Filme und Serien zunehmend dystopische Zukunftsvisionen. Früher war also auch die Zukunft besser! Ein Beispiel ist der Film „Soylent Green“ (1973), der für das Jahr 2022 ein Szenario schildert, in dem die natürlichen Lebensgrundlagen fast vollständig zerstört sind und Menschen mit künstlich hergestellten Lebensmitteln versorgt werden. Eines dieser Lebensmittel, Soylent Green, wird angeblich aus Plankton hergestellt. Im Film stellt sich dann jedoch heraus, dass es bereits nicht mehr genügend Plankton gibt und Soylent Green stattdessen aus menschlichen Körpern hergestellt wird. Ein aktuelleres zukunftspessimistisches Beispiel von 1999 ist der Film „Matrix“. In diesem haben Maschinen die Weltherrschaft übernommen, und Menschen werden von ihnen in riesigen Zuchtanlagen gehalten und dort als lebende Energiequellen benutzt. Ihre Gehirne sind dabei an eine komplexe Computersimulation, die Matrix, angeschlossen, die sie für das echte Leben halten. Was für ein Perspektivenwechsel: Auf der Enterprise befreite Technik die Menschen noch, durch die Matrix versklavt sie sie.44
Dass der Blick auf die Zukunft zunehmend pessimistischer wurde, obwohl sich das „technologische Wunder“ der Mondlandung ereignete, ist bemerkenswert. Eigentlich passt das nicht zusammen: Technikskeptizismus entwickelt sich angesichts eines größtmöglichen technischen Erfolges. Was jedoch zunächst widersprüchlich klingt, lässt sich erklären, wenn wir berücksichtigen, dass die Bilder und Ergebnisse der Weltraummissionen nicht nur aus einer Perspektive wahrgenommen werden können. Auf der einen Seite lässt sich mit den Bildern der Mondflüge, wie das bei Star Trek geschieht, ein grandioses Zukunftsversprechen verbinden, das die Menschen über die Grenzen ihres Planeten hinausführen wird. Auf der anderen Seite waren es aber dieselben Bilder, die zeigten, dass außerhalb dieser Grenzen die unwirtliche und lebensfeindliche Welt des Alls nicht gerade auf uns wartet. Als besonders eindrucksvoll erwies sich dabei der Blick auf die Erde selbst (Abb. 1.5). Erstmals war es möglich, sie von außen, in all ihrer Schönheit, Verletzlichkeit und Einzigartigkeit zu betrachten. Die Bilder zeigen einen Körper, der isoliert, inmitten einer endlos scheinenden, schwarzen Leere schwebt, was den Vergleich mit einem Raumschiff nahelegt, das in den Weiten des Alls auf sich gestellt ist. Das Überleben der gesamten „Besatzung“ dieses „Raumschiffs Erde“ hängt dann in dieser Analogie vom „Funktionieren“ der lebenserhaltenden Ökosysteme ab.
Die Raumschiffmetapher entwickelte sich zu einem wichtigen Leitmotiv der Umweltbewegung. Sie wurde sowohl von dem Ökonomen Kenneth Boulding als auch von dem Designer und Schriftsteller Richard Buckminster-Fuller verwendet, um die Ganzheit und Geschlossenheit der Erde zu illustrieren (Zitat 1.4).45 Bouldings systemische, aus der Raumschiffmetapher abgeleitete Überlegungen und seineVision von einer „Spaceman-Economy“ gelten heute als Ursprung der Circular Economy.
Zitat 1.4: Kenneth Boulding (1910–1993)
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„The closed economy of the future might similarly be called the ‚spaceman‘ economy, in which the earth has become a single spaceship, without unlimited reservoirs of anything, either for extraction or for pollution, and in which, therefore, man must find his place in a cyclical ecological system which is capable of continuous reproduction of material form even though it cannot escape having inputs of energy.“47
Die ökologischen Grundlagen, von denen die Funktionen des „Erdraumschiffs“ und die Existenz seiner „Besatzung“ abhängen, sind heute insbesondere durch den menschengemachten Klimawandel bedroht. Er geht auf Kohlendioxid- und Methanemissionen zurück, die eine Erwärmung der unteren Atmosphärenschichten verursachen. Der dahinterstehende physikalische Zusammenhang ist seit etwa 200 Jahren, durch die Entdeckung Joseph Fouriers im Jahr 1824, als „Treibhauseffekt“ bekannt. Svante Arrhenius berechnete auf dieser Grundlage bereits 1896, dass eine Verdopplung der atmosphärischen Kohlendioxidkonzentration zu einer Erhöhung der mittleren globalen Temperatur um vier bis sechs Grad Celsius führen würde. Eine globale Temperaturzunahme wurde 1938 auch von Guy Stewart Callendar und 1941 von Hermann Flohn prognostiziert.48
Politische Aufmerksamkeit erhielt der Klimawandel erstmals 1965. In einem an den US-Präsidenten gerichteten Bericht prognostizierte ein wissenschaftliches Beratergremium, dass die atmosphärische Kohlendioxidkonzentration weiter zunehmen würde, wodurch eine Störung des Wärmehaushalts der Atmosphäre zu erwarten wäre, die im 21. Jahrhundert eine Veränderung des globalen Klimas verursachen könne.49 In den 1970er-Jahren gingen Klimamodelle bereits von einer Erhöhung der mittleren globalen Temperatur um zwei bis drei Grad bis zum Jahr 2050 aus.50
Rückblickend auf diese Zeit lässt sich sagen, dass die wissenschaftlichen Prognosen, die einen bedrohlichen Klimawandel voraussagten, zwar bekannt waren, gesellschaftliche und politische Konsequenzen aber ausblieben. Viele Menschen glaubten den noch nicht absolut sicheren Vorhersagen nicht. Den Prognosen wurde entgegengehalten, dass man ja nicht wissen könne, ob die Modelle der Klimaforschung stimmen. „Vielleicht kommt alles ja ganz anders“, „Die Natur wird das schon aushalten und regeln“ und „Die Wirtschaft muss Vorrang haben“ waren Argumente, die in diesem Zusammenhang oft zu hören waren.51 Sie verhinderten lange eine ernsthafte gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Klimawandel.
Heute wissen wir es besser. Wir wissen, dass unsere Art zu leben, unsere Wirtschaftsweise und die Technologien, die wir einsetzen, das Klima derart verändern, dass die Lebensgrundlagen von Menschen und anderen Lebewesen bedroht sind. Wir wissen auch, dass wir weniger Ressourcen in Emissionen und Abfälle verwandeln dürfen als bisher. Können wir aber einfach damit aufhören, industriell zu wirtschaften? Sollen wir etwa unsere kulturellen Errungenschaften mitsamt unserem Wohlstand aufgeben und stattdessen ein Leben in der Natur führen? Gibt es ein „Zurück zur Natur“?

1.4 Zurück zur Natur?

Die Redewendung „Zurück zur Natur“ wird in Zitatensammlungen dem Philosophen und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau zugeschrieben.52 Fälschlicherweise, denn er hat sie wörtlich wohl so nie ausgesprochen.53 Richtig ist jedoch, dass Rousseau, der im Umgang mit Menschen eher als schwieriger Zeitgenosse galt, das Naturerlebnis suchte. Wie er selbst schrieb, liebte er es, sich auf einsamen Spaziergängen an einen „wilden Ort im Wald“ zurückzuziehen, wo ihn „nichts an die Hand des Menschen erinnerte“. Ihn trieb die „Sehnsucht“ nach der Natur.54 Abb. 1.6 zeigt ihn während einer Rast auf einem seiner Spaziergänge. Rousseau sitzt dort, allerdings nicht in einer unberührten Natur, sondern in einer Parklandschaft.55
Rousseaus Naturphilosophie stößt bis heute auf wenig Zustimmung. Er gilt, um den Philosophen Gregor Schiemann zu zitieren, auf den wir uns auch im Folgenden beziehen, als derjenige, der die „wahnwitzige Idee“ hatte, die Welt durch eine Rückkehr in den Naturzustand zu verbessern.56 Ein Leben ohne Technik können wir uns heute nicht mehr vorstellen. Technik ermöglicht es, dass wir im Winter nicht frieren, in der Lage sind, mit anderen Menschen über große Entfernungen zu kommunizieren, mehr Lebensmittel produzieren, mit Medikamenten, Medizintechnik und Hygienestandards unser Leben verlängern und vieles andere mehr. Ohne den Einsatz von Technologie und Ökonomie wird es nicht möglich sein, die aktuell acht Milliarden Menschen der Weltbevölkerung zu versorgen.
Unserer Ansicht nach kann die Frage nach der Technik weder mit einer radikalen Technikfeindlichkeit noch mit einem blinden Technikoptimismus beantwortet werden. Sie lässt sich nicht in ein simples Schwarz-Weiß-Schema pressen, sondern offenbart ein grundsätzliches Dilemma, das darin besteht, dass wir auf der einen Seite unsere Lebensgrundlagen nicht ohne Wirtschaft und Technik erhalten können, auf der anderen Seite aber gerade die ökonomische Anwendung von Technik auch zur Bedrohung dieser Lebensgrundlagen führt. Da jede Technologie Ressourcen benötigt, lösen neue Technologien das Dilemma nicht auf. Sie helfen uns aber dabei, mit ihm umzugehen und uns in ihm zu bewegen. Gefragt ist bei der Technik kein Entweder-oder, sondern eine Reflexion, die berücksichtig, was mit einer Technologie erreicht werden soll und welche Auswirkungen sie hat.
Es ist jedoch ein Missverständnis, zu glauben, dass Rousseau in eine ursprüngliche Natur ohne Technik zurückkehren wollte. Wie wir hielt er das für unmöglich.57 Rousseau hat zwischen einer „äußeren“ Natur und einem „inneren“ menschlichen Naturzustand unterschieden. Die ursprüngliche äußere Natur war für ihn – er lebte lange vor Darwin – ein ohne menschliches Eingreifen stabiler, sich kaum verändernder Zustand. Rousseau wusste, dass diese ursprüngliche Natur im Frankreich seiner Zeit bereits nicht mehr existierte. Um sie dennoch zu beschreiben, musste gedanklich alles von der Welt abgezogen werden, was auf menschlichen Einfluss zurückgeht. Die innere Natur der Menschen hielt Rousseau – im Gegensatz zur äußeren Natur – grundsätzlich noch für intakt. Menschen waren für ihn von Natur aus gut, Schlechtes schrieb er dem Einfluss der Gesellschaft zu. Die kulturelle, wissenschaftliche und technische Entwicklung sah Rousseau kritisch, weil sie, wie er meinte, Menschen von ihrer ursprünglichen Natur entfremdet. Sein Ziel war es deshalb, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu verändern, dass sich die „gute“ menschliche Natur entwickeln kann.58 In seinen 1762 veröffentlichten Roman „Émile oder Über die Erziehung“ schildert Rousseau, wie ein Junge namens Émile, von „negativen kulturellen Einflüssen verschont“, zu einem „selbstbewussten Mann“ heranwächst.59 Das Buch löste einen Skandal aus. Es wurde in Paris verboten und in Genf öffentlich verbrannt.60 Im ersten Abschnitt des Romans gibt uns Rousseau einen Einblick, wie er das Verhältnis zwischen Mensch und Natur bewertet. Sein Befund ist bemerkenswert aktuell und könnte, wenn man einmal von der Ausdrucksweise absieht, auch heute noch so niedergeschrieben sein (Zitat 1.5).
Zitat 1.5: Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)
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„Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines anderen zu züchten, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. […] Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muss ihn dressieren wie ein Zirkuspferd. Er muss ihn seiner Methode anpassen und umbiegen wie einen Baum in seinem Garten.“61
Rousseau schreibt, dass Menschen eine an sich „gute“ Natur gewaltsam zum schlechteren hin umwandeln. Mit seinen Worten gesprochen, „entarten“ Menschen die Natur, ordnen sie ihren Zwecken unter, „verwirren“ das Klima und machen vor ihrer eigenen Natur nicht halt. Sie domestizieren sich gewissermaßen selbst! Wie wir mit der Natur, anderen Menschen und uns selbst umgehen, hängt für Rousseau zusammen. Die Gewinnung von Metallerzen im Kongo oder die Verhältnisse an deutschen Schlachthöfen zeigen, dass er damit grundsätzlich nicht falsch liegt.62 Die Ausbeutung von Natur geht oft mit der von Menschen einher. Eine Fortschrittsidee darf deshalb das Wohl von Natur und Menschen nicht gegeneinander ausspielen. Gefragt sind „nachhaltige“ Handlungsprinzipien, die beide Aspekte berücksichtigen. Diese verfolgen das Ziel, ökologische, ökonomische und soziale Systeme in ihrer Funktionsfähigkeit zu erhalten.63

1.5 Nachhaltigkeitsstrategien

Die Ursprünge des Nachhaltigkeitsgedankens liegen in der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts. Weil die zu dieser Zeit intensive Nachfrage nach Holz die Entwaldung großer Flächen zur Folge hatte, forderte der sächsische Beamte Hans Carl von Carlowitz in seinem 1713 verfassten Werk „Sylvicultura oeconomica“ eine „nachhaltende“ Waldnutzung. Das hieß, es sollte nur so viel Holz geschlagen werden, wie wieder nachwächst.64 Heute wird der Begriff Nachhaltigkeit unterschiedlich ausgelegt. Die bekannteste Definition wurde 1987 durch eine von der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland geleitete UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung formuliert. Im Vordergrund steht hier der Aspekt der Generationengerechtigkeit. Lebensbedürfnisse heute lebender Menschen, so die „Brundtland-Kommission“, sollten nur so befriedigt werden, dass nachfolgende Generationen die ihrigen auch noch decken können.65 Um das allgemeine Ziel einer nachhaltigen Entwicklung zu konkretisieren, wurden 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) 17 Ziele verabschiedet. Die „Sustainable Development Goals (SDG)“ adressieren Themen, die nach Meinung der Mitgliedsstaaten für eine nachhaltige Entwicklung wichtig sind. Sie berücksichtigen ökonomische, soziale und ökologische Aspekte.66
Insgesamt lassen sich im Nachhaltigkeitsdiskurs mit einer „starken“ und „schwachen“ Nachhaltigkeit zwei Grundpositionen unterscheiden. Die Konzepte, die als starke Nachhaltigkeit zusammengefasst werden, betrachten ökologische Grenzen als limitierende Faktoren für die ökonomische und soziale Entwicklung. Während es bei der starken Nachhaltigkeit also ein ökologisches Primat gibt, soll in den Konzepten, die der schwachen Nachhaltigkeit zugerechnet werden, ein Interessensausgleich zwischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Zielen hergestellt werden. Üblicherweise wird bei Nachhaltigkeitsstrategien zwischen Effizienz-, Konsistenz- und Suffizienzstrategien differenziert. Wir orientieren uns im Folgenden an einer Gliederung von Reinhard Loske, der zusätzlich noch auch zwischen „Subsistenz-“ und „Kooperationsstrategien“ unterscheidet.67
Effizienzstrategien68
Effizienzstrategien bauen hauptsächlich auf technischen Innovationen auf. Weil sie sich im Vergleich zu anderen am besten mit dem aktuellen Wirtschaftssystem vereinbaren lassen, haben sie die größte Verbreitung. Sie sind deshalb so populär, weil eine Verbesserung der Energie- und Ressourceneffizienz nicht nur die Natur schont und das Klima schützt, sondern zusätzlich auch Kosten senkt, zur Versorgungssicherheit beiträgt und Innovationen mit sich bringen kann. Zu den Effizienzstrategien gehören beispielsweise die energetische Gebäudesanierung, die Senkung des Kraftstoffverbrauchs bei Kraftfahrzeugen, energetische Optimierungen in der Industrie sowie neue Produkte, für deren Herstellung weniger Material und Energie als vorher verbraucht wird. Ob tatsächlich ökonomische Vorteile mit Effizienzsteigerungen verbunden sind und wie groß diese sind, hängt von den Energie- und Ressourcenpreisen ab. Niedrige Preise setzen nur geringe Anreize zur Effizienzverbesserung.
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang kann der „Rebound-Effekt“ sein. Er bezeichnet die zunächst paradox scheinende Beobachtung, dass Effizienzsteigerungen den Ressourcen- und Energieverbrauch ggf. nicht verringern, sondern sogar zu einem größeren Verbrauch führen können. Dies ist dann der Fall, wenn der Effizienzgewinn niedrigere Preise zur Folge hat, die einen Anstieg der Nachfrage initiieren. Ein Beispiel ist in Zitat 1.6 wiedergegeben.
Zitat 1.6: Umweltbundesamt (2019)
https://static-content.springer.com/image/chp%3A10.1007%2F978-3-662-68230-2_1/MediaObjects/602102_1_De_1_Figf_HTML.png
„Was ist der Rebound-Effekt?
Der nachhaltige Umgang mit Ressourcen erfordert einen effizienten Einsatz von Energie, Rohstoffen und Wasser. Durch die Steigerung der Effizienz können Produkte oder Dienstleistungen mit weniger Ressourcenverbrauch geschaffen werden. Oft sind damit auch Kosteneinsparungen verbunden. Diese haben wiederum Rückwirkungen auf das Kaufverhalten und den Gebrauch der Produkte.
Ein einfaches Beispiel: Wenn Pkw durch Effizienzsteigerungen günstiger werden, dann fällt beim nächsten Kauf die Entscheidung eventuell zugunsten des größeren Modells aus. Ein sparsamer Pkw verursacht geringere Treibstoffkosten pro gefahrenem Kilometer. Das wirkt sich zumeist auf das Fahrverhalten aus: Wege werden häufiger mit dem Pkw zurückgelegt, längere Strecken gefahren und öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad dafür weniger genutzt. So kommt es, dass die technisch möglichen Effizienz-gewinne in der Praxis häufig nicht erreicht werden, weil das Produkt häufiger oder intensiver genutzt wird.
Neben der unmittelbaren Veränderung bei der Nutzung des betreffenden Produkts (direkter Rebound) sind weitere umweltrelevante Änderungen des Nachfrageverhaltens möglich. In dem Beispiel bedeutet das, dass das beim Pkw eingesparte Geld zum Beispiel für Flugreisen ausgegeben werden könnte (indirekter Rebound) und auf diese Weise ein Teil der Energieeinsparung kompensiert wird.“69
Konsistenz- bzw. Substitutionsstrategien70
Wie Effizienzstrategien sind auch Substitutionsstrategien hauptsächlich technologieorientiert. Es geht darum, technische Abläufe so zu organisieren, dass Natur möglichst wenig in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie werden deshalb auch als „ökoeffektive“ Strategien bezeichnet. Es geht darum, nicht erneuerbare Ressourcen und Energiequellen wie Kohle, Öl, Gas und Uran durch erneuerbare wie Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und Erdwärme zu ersetzen oder wiederverwertbare Materialien zu verwenden. Während Effizienzstrategien ggf. direkt mit einem wirtschaftlichen Vorteil verbunden sind, ist das bei Konsistenz- bzw. Substitutionsstrategien zunächst meist nicht der Fall. Will man in der chemischen Industrie ohne fossilen Kohlenstoff produzieren, müssen etablierte Rohstoffe durch Biomassen oder Kohlendioxid ersetzt werden. Dies erfordert, zumindest zunächst, einen größeren technischen, energetischen und logistischen Aufwand. Politisch gesetzte Rahmenbedingungen sind bei der Umsetzung von Substitutionsstrategien deshalb besonders zu Beginn von Bedeutung, wenn die Kostenvorteile noch zugunsten der etablierten Technologien wirken.
Suffizienzstrategien71
Suffizienzstrategien haben das Ziel, den Ressourcen- und Energieverbrauch durch Einsparungen zu verringern. Während Effizienz- und Substitutionsstrategien im Wesentlichen eine technologische Tendenz haben, zielen Suffizienzstrategien auf eine Veränderung des Lebensstils. Es sollen weniger Güter und Dienstleitungen konsumiert werden und dennoch oder gerade deshalb ein zufriedenstellendes Leben möglich sein. Letztlich geht es um die Frage, was und wie viel Menschen für ein gutes Leben brauchen. Suffizienzstrategien bauen auf einem Menschenbild auf, das sich wesentlich vom Homo oeconomicus der neoklassischen Ökonomie unterscheidet. Bei Letzterem handelt es sich um die abstrakte Vorstellung eines vernunftgeleiteten Individuums, das seinen eigenen Nutzen maximieren möchte. Suffizienzstrategien gehen dagegen von Menschen aus, die aus ökologischer Einsicht oder sozialer Verantwortung mindestens teilweise auf Konsum verzichten und diesen Verzicht als Befreiung von Überfluss erleben. Diese Sichtweise vertritt die Position, dass ab einem bestimmten materiellen Wohlstandsniveau ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt nicht mehr zu einer signifikant größeren Zufriedenheit führt.
Subsistenzstrategien72
Subsistenzwirtschaften sind Wirtschaftssysteme, in denen für den Eigenbedarf und nicht für einen Markt produziert wird. Ihre Elemente Eigenarbeit, Selbstversorgung und nicht kommerzialisierter Tausch gelten, im Vergleich zur „modernen“ Erwerbsarbeit und einer am Markt orientierten Warenproduktion, allerdings oft als rückständig. Subsistentes Verhalten hat jedoch für die meisten Gesellschaften eine tragende und stabilisierende Funktion. Es beinhaltet all die Tätigkeiten, die Menschen sich nicht gegenseitig in Rechnung stellen, wie Kindererziehung, Altenpflege, Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliches Engagement. Auch städtische Gemeinschaftsgärten, Reparaturcafés, Tauschringe oder Freiwilligendienste können als Teil einer Subsistenzwirtschaft aufgefasst werden.
Kooperationsstrategien73
Kooperationsstrategien setzen voraus, dass Menschen nicht nur den eigenen Interessen folgen, sondern ihr wirtschaftliches Handeln auch an gesellschaftlichen Zielen orientieren und mit anderen kooperieren. Zu den kooperativen Wirtschaftsformen, die sich z. T. überlagern, werden gezählt:
Ökonomie des Teilens: In einer Ökonomie des Teilens bzw. einer Sharing Economy sind Dinge wie Räume, Autos, Geräte und Maschinen nicht der persönliche Besitz von Einzelnen. Sie werden gemeinschaftlich genutzt, indem sie geteilt, getauscht, verliehen oder verschenkt werden. Bislang werden die Instrumente der Sharing Economy hauptsächlich von Personen, die sich kennen, angewendet wie Verwandte, Freunde und Nachbarn. Nicht zuletzt durch Möglichkeiten, die digitale Technologien bieten, werden Teile der Sharing Economy zunehmend auch zu Geschäftsfeldern für Unternehmen. Theoretisch müsste in einer Sharing Economy weniger Material für Produkte benötigt werden, da weniger Neues produziert werden muss. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es über sinkende Preise zu konsumstimulierenden Prozessen kommt, durch die immer die neuesten Produkte nachgefragt werden.
Ökonomie des regionalen Prosumierens: Der Begriff „Prosumieren“ ist eine Kombination der Wörter Produzieren und Konsumieren. Eine Ökonomie des Prosumierens richtet sich gegen die globale Entflechtung von Produktion und Konsum und möchte beides regional zusammenführen. Es geht darum, die Entfremdung zwischen Produzenten und Konsumenten zu verringern. Energiegenossenschaften und lokal erzeugte Lebensmittel sind Beispiele für solche Tendenzen. Grundsätzlich sollte die regionale Zusammenführung von Konsum und Produktion zu einem geringeren Ressourcenverbrauch führen, da Verkehrs- und Güterströme geringer werden. Möglicherweise wird auch rücksichtsvoller mit lokalen Ressourcen umgegangen, da Umweltprobleme und deren Verursacher mehr Aufmerksamkeit erhalten, als wenn der Umweltschaden Tausende von Kilometern entfernt auftritt. Nachteilig ist, dass nicht alle Standorte gleich geeignet sind, ein bestimmtes Produkt zu produzieren. Die Herstellung bestimmter Güter geht dann ggf. zulasten der Effizienz. Neben dem Aspekt der Ressourcenschonung geht es in der Ökonomie des regionalen Prosumierens auch darum, regionale Handlungsautonomie für Krisensituationen zurückzugewinnen. Die Anfälligkeit einer global organisierten Wirtschaft hat sich nicht zuletzt durch die Unterbrechung globaler Lieferketten während der Corona-Pandemie und durch den russischen Krieg gegen die Ukraine gezeigt.
Ökonomie der Langlebigkeit: Für den größer werden Ressourcenverbrauch werden in der aktuellen Ökonomie unterschiedliche Entwicklungen verantwortlich gemacht. Veränderungen des Geschmacks, Modetrends und der technische Fortschritt tragen beispielsweise dazu bei, dass viele Dinge schon nach einer kurzen Gebrauchszeit als veraltet gelten und durch neue ersetzt werden. Auch die Fähigkeit und Bereitschaft, Gebrauchsgegenstände zu pflegen, zu warten und zu reparieren, geht zurück. Eine Ökonomie der Langlebigkeit versucht diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, beispielsweise durch die Wiederbefähigung zum Reparieren.
Ökonomie der Gemeingüter: In der Ökonomie der Gemeingüter geht es um die Bewirtschaftung von gemeinschaftlichem Eigentum, sogenannte „Allmendegüter“. Zentraler Gedanke ist, dass eine kooperative und regelbasierte Bewirtschaftung von lokalen Ressourcen durch lokale Nutzergemeinschaften nachhaltiger ist als eine rein durch den Markt oder Staat organisierte Bewirtschaftung. Gründe für diese Annahme sind die lokale Orientierung, der Ausschluss von Nichtberechtigten, Eigenverantwortung, Partizipation sowie Regeleinhaltung und -überprüfung durch die Nutzergemeinschaften.

1.6 Zwischen Green Economy und Postwachstumsökonomie

Mittlerweile gibt es eine Reihe ökonomischer Modelle, die das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung verfolgen, sich in ihrer Herangehensweise und ihrem Nachhaltigkeitsverständnis aber unterscheiden. Manche sind technologisch, geprägt während andere gegenüber technischen Lösungsansätzen skeptisch eingestellt sind. Sie folgen verschiedenen Nachhaltigkeitsstrategien und lassen sich mal mehr, mal weniger eindeutig den Grundpositionen aus starker und schwacher Nachhaltigkeit zuordnen.
Auf der einen Seite des Spektrums, bei der starken Nachhaltigkeit, finden sich Konzepte, die als „Degrowth“ oder „Postwachstumsökonomien“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um ökonomische Modelle, die von einem im Vergleich zu heute deutlich reduzierten Konsum ausgehen und das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts vermeiden.74 Auf der anderen Seite steht die „Green Economy“, die dem Prinzip der schwachen Nachhaltigkeit zuzurechnen ist.75 Im Gegensatz zur Postwachstumsökonomie setzt sie weiter auf kontinuierliches Wachstum. Ökologische Vorteile sollen hier nicht durch Zurückhaltung und Verzicht, sondern durch „grüne Technologien“ wie erneuerbare Energien und Biomaterialien erzielt werden. Der Begriff Green Economy stammt aus dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen von 2008. Die OECD verwendet stattdessen die Bezeichnung „Green Growth“. „Grünes Wachstum“ definiert sie als eine an Wachstum orientierte wirtschaftliche Entwicklung, die auch am Erhalt der Ressourcen interessiert ist, die zur Aufrechterhaltung des Wohlstands benötigt werden.76 Die Green Economy und Postwachstumsökonomie sind dementsprechend unterschiedlichen Nachhaltigkeitsstrategien zuzuordnen. Erstere folgt im Wesentlichen Effizienz- und Substitutionsstrategien, während Postwachstumsökonomien sich an einer Mischung aus Suffizienz-, Subsistenz- und Kooperationsstrategien orientieren (Zitat 1.7).
Zitat 1.7: Reinhard Loske (*1959)
https://static-content.springer.com/image/chp%3A10.1007%2F978-3-662-68230-2_1/MediaObjects/602102_1_De_1_Figg_HTML.png
„Auf die Frage, was eine nachhaltige Wirtschaft auszeichnet, geben Protagonisten der Grünen Ökonomie ganz andere Antworten als diejenigen der Postwachstumsökonomie. Während Erstere überwiegend von grünen Märkten, grünen Jobs, grünen Technologien, grünem Wachstum und hohen Innovationspotentialen schwärmen, um so an die politischen Hauptdiskurse anschlussfähig zu werden, sprechen Letztere eher von Dematerialisierung, Entschleunigung, Entrümpelung, Produktlanglebigkeit und einer Kultur des Teilens und Tauschens, Leihens und Schenkens, Reparierens und Kooperierens. Die Frage ist nun, ob sich Grüne Ökonomie und Postwachstumsökonomie ausschließen oder doch ergänzen und wechselseitig befruchten können.“77
Zu den ökonomischen Modellen, die zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen sollen, indem sie den Ressourcenverbrauch reduzieren, Wirtschaftswachstum ermöglichen und Wettbewerbsfähigkeit sichern, gehören auch, wie Zitat 1.8 und 1.9 zeigen, die Konzepte, um die es in diesem Buch geht: die Bioökonomie und Circular Economy. Im folgenden Kap. 2 gehen wir näher auf sie ein. Wir beschreiben, welche Teilkonzepte ihnen zugeordnet werden, wie sie sich entwickelt haben, welcher Nachhaltigkeitsstrategie sie folgen und wie in jüngerer Zeit versucht wird, sie zu einer „zirkulären Bioökonomie“ zusammenzuführen.
Zitat 1.8: Europäische Kommission (2020)
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„Die Ausweitung der Kreislaufwirtschaft […] wird entscheidend dazu beitragen, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, das Wirtschaftswachstum von der Ressourcennutzung zu entkoppeln und zugleich die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der EU zu sichern und niemanden zurückzulassen.“78
Zitat 1.9: Bioökonomierat (2022)
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„Bei nachhaltiger Nutzung der biologischen Grundlagen kann die Bioökonomie ein fundamentaler Bestandteil und Treiber einer nachhaltigen Entwicklung sein und damit zum Erreichen der globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen und der Klimaschutzziele von Paris signifikant beitragen.“79
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Fußnoten
1
Die Kapitelüberschrift ist an den gleichlautenden Titel eines Spiegel-Artikels von Francesco Giammarco zum 50-jährigen Jubiläum der Star-Trek-Serie angelehnt, Giammarco 2016. Der Ausspruch „Die Zukunft war früher auch besser“ geht ursprünglich wahrscheinlich auf den bayrischen Humoristen Karl Valentin zurück, Valentin 2013.
 
2
Schmid und Beyer-Fistrich 2021; Giammarco 2016.
 
3
Schmid und Beyer-Fistrich 2021; Giammarco 2016.
 
4
Giammarco 2016.
 
5
Proske 1970, S. 34.
 
6
ZDF 2019.
 
7
Proske 1970, S. 5.
 
8
Platon 1855, 320–322 STA.
 
9
Grundsätzliche Unterschiede zwischen moderner Technik und der Technik der Antike hat u. a. Martin Heidegger in seinem berühmten Aufsatz „Die Frage nach der Technik“ herausgearbeitet, Heidegger 2000.
 
10
Toyka-Seid und Schneider 2022; Perret 2014.
 
11
Esfeld 2002, S. 16.
 
12
WBGU 2011, S. 94; Ropohl 2013; Perret 2014.
 
13
Grothe 2009.
 
14
Sudau 2011, 3 f.
 
15
Zweig 2020, S. 19.
 
16
Perret 2014.
 
17
Schiemann 2011, S. 65.
 
18
Precht 2018, 118 ff.
 
19
Saage 1999, S. 71; Precht 2018, S. 123.
 
20
Saage 1999, S. 68; Precht 2018, S. 125.
 
21
Bachmann 2012; Perret 2014.
 
22
Hellige 1994, 294 f.
 
23
Clausius 1885, S. 21–22.
 
24
Grashof 1877, 33 ff.
 
25
Perret 2014.
 
26
BpB 2022.
 
27
Gebhardt 2016.
 
28
Steffen et al. 2015.
 
29
Steffen et al. 2015; International Geosphere-Biosphere Programme 2015.
 
30
Zalasiewicz 2017.
 
31
Steininger 2017.
 
32
Williams et al. 2015.
 
33
Bühler 2016, 17 ff.; Becker 2013.
 
34
Beck 2016.
 
35
Perret 2014.
 
36
Z. B. Sillanpää und Ncibi 2019, S. 2.
 
37
Carson 1962.
 
38
Ehrlich 1968.
 
39
Bühler 2016, 17 ff.
 
40
Bühler 2016, S. 17.
 
41
Meadows et al. 1972.
 
42
Loske 2015, 23 ff.
 
43
Perret 2014, Loske 2015b, S. 58.
 
44
Giammarco 2016.
 
45
Boulding 1966; Fuller 1969.
 
46
Nebeneinanderstellung zweier unabhängiger Bilder.
 
47
Boulding 1966, S. 7–8.
 
48
Mäder 2009, S. 4.
 
49
Revelle et.al. 1965.
 
50
Boeing 2019.
 
51
Erinnerte Wiedergabe von einem der beiden Autoren dieses Buches.
 
52
gute zitate 2022.
 
53
Benz 2014.
 
54
Helferich und Lang 2012, S. 215.
 
55
Parc de la Rochecordon, in der Nähe von Lyon.
 
56
Schiemann 2011, S. 67.
 
57
Schiemann 2011, 64 ff.
 
58
Schiemann 2011, 64 ff.
 
59
Precht 2017, S. 424.
 
60
Tenorth 2006.
 
61
Rousseau 2019, S. 11.
 
62
Polke-Majewski und Faigle 2014; zeit-online 2014.
 
63
Lexikon der Nachhaltigkeit 2015c.
 
64
Lexikon der Nachhaltigkeit 2015a.
 
65
Loske 2015a, 95 ff.
 
66
United Nations (UN) 2022.
 
67
Loske 2015, 101 ff.
 
68
Loske 2015, 101 ff.
 
69
Umweltbundesamt (UBA) 2019.
 
70
Loske 2015, 104 ff.; Lexikon der Nachhaltigkeit 2015b.
 
71
Loske 2015, 107 ff.
 
72
Loske 2015, 110 ff.
 
73
Loske 2015, 112 ff.
 
74
Paech 2009.
 
75
Loske 2015, 95 ff.
 
76
Sillanpää und Ncibi 2019, 14 f.; Fedrigo-Fazio und Brink 2012, 8 f.
 
77
Loske 2015, S. 99.
 
78
Europäische Union 2020, S. 4.
 
79
Bioökonomierat 2022, S. 4.
 
Metadaten
Titel
Unser Blick auf den Status quo
verfasst von
Thomas Marzi
Manfred Renner
Copyright-Jahr
2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-68230-2_1