Skip to main content
Erschienen in: Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) 3/2022

Open Access 21.07.2022 | Aktuelles

Verändernde Welt mit exponentieller Beschleunigung: Wie kann Foresight einen Beitrag für Organisationen leisten?

verfasst von: Laura Johanna Karwehl, Simone Kauffeld

Erschienen in: Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) | Ausgabe 3/2022

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …
Die Disziplin der Zukunftsforschung erfreut sich stetig wachsender Beliebtheit – gerade im unternehmerischen Kontext unter dem Begriff „(corporate) Foresight“. Bengston zufolge kommt Foresight ein wesentlicher Teil der strategischen Arbeit in Organisationen zu, da jede zu treffende Entscheidung und jeder geschmiedete Plan Annahmen über zukünftige Entwicklungen enthalten (2018). Diesem Verständnis nach wohnt Foresight also jeder getroffenen strategischen Entscheidung inne, da sie a) Informationen darüber enthält, wie die entscheidende Person zukünftige Entwicklungen bewertet und b) wie stark ausgeprägt das „Denken in Zukünften“ der jeweiligen Person ist. Ziel von Foresight ist es „verschiedene Zukünfte und deren Konsequenzen vorzustellen und, auf dieser Basis, informierte Entscheidungsfindung zu betreiben. Foresight fußt damit also auf zwei Grundannahmen: (1) dass die Zukunft nicht ausgestaltet ist und (2) dass heute getroffene Entscheidungen und unternommene Handlungen die Zukunft beeinflussen können“ (Hobday et al. 2020, S. 632).
Wo lineare Extrapolationen durch hohe Dynamiken in ihrer Präzision beschränkt werden und Vorhersagen durch die Vernetzung vieler komplexer Variablen schwierig sind, kann Zukunftsforschung einen Beitrag zum besseren Verständnis dieser Felder und zur Bewältigung von Herausforderungen leisten. Um zu verstehen, wie Zukunftsforschung zu einer Zukunftssicherung beitragen kann, ist es zum einen wichtig, die Treiber zu identifizieren, die unsere Welt von morgen gestalten, und zum anderen ein Verständnis darüber zu schaffen, wie Zukunftsforschung funktioniert und in welchen Feldern und Kontexten sie wirksam sein kann. Zukunftsforschung kann – und soll – keine exakten Vorhersagen treffen, wie eine künftige Welt aussehen wird (Sardar 2010), sondern soll Akteure viel mehr auf künftige Herausforderungen in plausiblen Zukünften vorbereiten (Vecchiato 2015). Der Fokus der Erkenntnisgewinnung liegt weniger in der exakten Beschreibung externer Entwicklungen, als vielmehr darin, Stellhebel für menschliche Einflüsse zu erkennen und mithilfe dieser eine erwünschte Zukunft aus einer Reihe plausibler Zukünfte zu entwickeln (van der Laan 2021). Die Frage, die Zukunftsforschung immer wieder stellt, lautet also, welche Handlungsoptionen innerhalb bekannter zukünftiger Dynamiken bestehen, und wie diese zu nutzen sind, damit die Wahrscheinlichkeit des Erreichens einer erwünschten Zukunft steigt (Sardar 2010). Die Strategie von Zukunftsforschung liegt damit in der Verkettung heutiger Gegebenheiten mit einer wünschenswerten Zukunft. Die Verbindung mit der heutigen Welt ist essenziell für die Anknüpfungsfähigkeit der Resultate zukunftsforscherischer Arbeit, da die bloße Berücksichtigung künftiger Dynamiken in häufig zu nicht umsetzbaren Handlungsplänen führt. Während die Zukunftsforschung (futures studies) bereits seit mehreren Dekaden praktiziert und stetig bekannter wird, so dass sie inzwischen als eigenständiges Feld gesehen werden kann (Hines 2020), ist die Sub-Facette der Zukunftsforschung zur Entscheidungsvorbereitung im unternehmerischen Kontext (strategic/corporate Foresight) eher neuartig (Iden et al. 2017). Gerade unter Berücksichtigung der bevorstehenden Veränderungen noch unbekannten Ausmaßes stellt die Corporate Foresight aber eine essenzielle Kompetenz für Unternehmen dar, die sich auch im globalisierten, digitalisierten Wettbewerb behaupten wollen (Calof und Bishop 2020; Fuller 2017).

1 Die Arbeitswelt von morgen

Unsere Umwelt wird durch die dynamischen Wirkbeziehungen eines komplexen Netzes mannigfaltiger Treiber beeinflusst. Diese Dynamiken gestalten nicht nur Werte und Bedürfnisse von Gesellschaften, sondern formen damit auch Geschäftsmodelle und Wettbewerb. Diese sich anbahnenden Entwicklungen zu identifizieren und zu verstehen ist (mitunter) Gegenstand der Zukunftsforschung. Hierfür wird zwischen verschiedenen Konstrukten unterschieden: Megatrends beispielsweise können als tiefgreifende Transformationen verstanden werden, deren Effekte sich branchenübergreifend und global (auch wenn sie nicht überall gleich stark wirken müssen) beobachten lassen. Sie wirken bis über Dekaden hinweg (Naisbitt 1986; Naisbitt und Bisesi 1983). Aufgrund ihrer Stabilität eignen sie sich besonders gut als Leitplanken für strategische Planungen, da sie mächtige Einflüsse auf Gesellschaften haben (Naisbitt 2015; Sadler 1996). Megatrends (wie beispielsweise Digitalisierung oder Urbanisierung) entstehen nicht plötzlich, sie sind vielmehr das Ergebnis systematischer Beobachtungen und der Verknüpfung von Daten über mehrere Bereiche hinweg. Megatrends zu erkennen und Handlungsspielräume zu erkennen stellt also einen erheblichen Mehrwert in der Vorbereitung strategischer Entscheidungen dar. Eine Übersicht verschiedener Megatrends ist bei Retief et al. (2016, S. 52) aufgeführt. Naisbitt (1986) definiert 3 Kriterien die erfüllt sein müssen, um von einem Megatrend sprechen zu können: 1) Megatrends weisen eine Halbwertszeit von mindestens 25–30 Jahren auf; 2) Megatrends tauchen über alle Lebensbereiche von Gesellschaften auf und wirken auf diese; 3) Megatrends verfügen über einen globalen Charakter, auch wenn ihre Auswirkungen nicht überall gleich stark zu spüren sind. Ziel der Strategieentwicklung im Umgang mit Megatrends sollte stets die Adaption an selbige sein, da zu mächtig sind, um durch einzelne Akteure beeinflusst zu werden (Retief et al. 2016).
Trends hingegen haben eine mittelfristige Dauer (etwa 10 Jahre) und stellen „Quantitäten oder Veränderungen [dar], die sich inkrementell über einen langen Zeitraum hinweg in eine bestimmte Richtung bewegen“ (Hines und Bishop 2013, S. 38), wobei die Veränderungsrate und die absolute Zahl bedeutsam sind. Die prognostizierte Erderwärmung um 3–4 °C (unter Beibehaltung des aktuellen Kurses) stellt einen vergleichsweise bekannten Trend dar. Neben Trends sollten in Zukunftsprognosen noch weitere Treiber von Veränderungen berücksichtigt werden, wie beispielsweise Konstanten, Zyklen, Pläne, bereits bekannte Projektionen. Konstanten beschreiben Elemente, die mit hoher Wahrscheinlichkeit unverändert bleiben (wie beispielsweise die Ungleichverteilung von Vermögen in Deutschland), während Zyklen vorhersagbare Schwankungen (wie zum Beispiel Umsatz- oder Verkaufszyklen) darstellen. Pläne sind kommunizierte Handlungsintentionen (wie beispielsweise das Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung), während Projektionen Zukunftsannahmen mit variierender Akkuratheit darstellen (wie beispielsweise die mögliche Reduktion von Lebensmittelverlusten um 35 t in 2030 durch IoT-basierte Optimierung von Lieferketten). Aber auch die Betrachtung sogenannter „weak signals“, also nicht notwendigerweise relevanter Beobachtungen die scheinbar keinen starken Einfluss auf ihr Umfeld haben (Butter und Popper 2008), können zur Identifikation von „tipping points“ oder „wildcards“ führen (Hines und Bishop 2013). Bei letzteren handelt es sich um Ereignisse, die unwahrscheinlich, aber dennoch realistisch sind (Opaschowski 2015) und bei Eintreten einen hohen Einfluss auf ihr Umfeld haben (wie beispielsweise Fukushima in 2011).
Neben den etablierten Konzepten der empirischen Zukunftsforschung hat in jüngerer Vergangenheit auch der Begriff der Trendforschung (gerade in wirtschaftlichen Kontexten) steigende Bekanntheit erlangt. Aus der Trendforschung finden sich noch weitere Konzepte wie Zeitgeisttrends oder Mikrotrends (Horx 2010), die kurzweilige gesellschaftliche Phänomene und Trends beschreiben. Die Überlebensdauer dieser liegt allerdings mit maximal 3 Jahren weit unter den für Zukunftsforschung relevanten Zeithorizonten und ist damit für diese Domäne nicht weiter von Interesse. Weiterhin wird die Trendforschung von zukunftsforschenden Personen eher kritisch betrachtet (Pfadenhauer 2004; Heschel 2018). In Frage gestellt werden unter anderem Wissenschaftlichkeit und Innnovationspotenzial (Pfadenhauer 2004) sowie die „mangelnde Seriosität“ von Trendforschern (Rust 2002, S. 23) und ihren Methoden.

2 Zum Begriff der Zukunftsforschung

Beginnt man, sich mit dem Feld der Zukunftsforschung auseinanderzusetzen, so fällt einem zuerst die Vielzahl verwendeter Begrifflichkeiten auf. Während beispielsweise der Begriff „Zukunftsforschung“ eher ein Feld wissenschaftlicher Forschung skizziert, dessen Ziel die Untersuchung und Entwicklung neuartiger und inklusiver Lösungen ist (Sardar 2010), wird bei der Anwendung zukunftsforscherischer Methoden im unternehmerischen Kontext primär der Begriff „Foresight“ verwendet. Häufig liegt den angewendeten Praktiken eine Generierung von Wettbewerbsvorteilen zugrunde. Grundsätzlich gestaltet sich die Schaffung eines einheitlichen Verständnisses bezüglich des Rahmens und eines designierten Begriffs für Zukunftsforschung schwierig (Coates et al. 2010; Urueña et al. 2021; Rohrbeck et al. 2015), so dass es eine Vielzahl von anwendungsbezogenen Definitionen gibt (Minkkinen et al. 2019; European Foresight Platform 2010; Kattinger 2018; Bourmistrov und Åmo 2022; Kajikawa et al. 2008). Ein Blick in wissenschaftliche Publikationen aus dem Bereich der Zukunftsforschung offenbart die Koexistenz der Begriffe „Zukunftsforschung“, „Future(s) Research“, „(Strategic) Foresight“ und „(Corporate) Foresight“, wobei alle Begriffe ähnliche oder gar gleiche Verständnisse des gleichen Konstrukts beschreiben: Slaughter (1990) beschreibt Foresight als menschliches Attribut, das es uns ermöglicht, Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen, verschiedene Handlungsoptionen zu durchdenken und verschiedene mögliche Zukünfte mit ausreichend Realität und Bedeutung zu kontextualisieren um sie als unterstützende Faktoren in Entscheidungsprozessen zurate zu ziehen, während Strategic Foresight als die Fähigkeit verstanden werden kann „eine qualitativ hochwertige, kohärente und funktionale Zukunftsperspektive zu schaffen und aufrecht zu erhalten und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse auf organisatorisch nützliche Weise zu nutzen, zum Beispiel um ungünstige Bedingungen zu erkennen, Politik zu lenken, Strategien zu gestalten, [und] neue Märkte, Produkte und Dienstleistungen zu erkennen.. Sie stellt eine Verschmelzung von Zukunftsmethoden mit denen des strategischen Managements dar“ (Slaughter 1997, S. 13). Gordon et al. (2020, S. 1) definieren Corporate Foresight als „die Anwendung von Zukünften und Praktiken der Vorausschau durch eine Organisation um sich selbst weiterzuentwickeln, das heißt um ihren Zweck zu erfüllen und Erfolge zu erzielen, wie auch immer sie Erfolge definiert“, während Rohrbeck und Kum (2018) Corporate Foresight als Praktiken beschreiben, die es Organisationen ermöglichen eine Vormachtstellung auf künftigen Märkten einzunehmen. Nach Müller und Müller Stevens bezeichnet Strategic Foresight einen „systematisch-partizipatorischen strategischen Unternehmensprozess und verfolgt das Ziel, die strategische Entscheidungsfindung im Unternehmen durch die ganzheitliche Antizipation, Analyse und Interpretation langfristiger gesellschaftlicher, ökonomischer und technologischer Umfeldentwicklungen sowie durch die aktive Gestaltung alternativer Zukunftsvorstellungen und -visionen zu unterstützen“ (2009, S. 25), was von Bourmistrov und Åmo (2022) noch um die Erweiterung der Wahrnehmungsgrenzen zukunftsforschender Personen erweitert wird. All diesen Definitionen ist gemein, dass es sich bei Foresight um eine strategieorientierte Praktik handelt, die durch die bedarfsorientierte Kontextualisierung von Wissen dazu beitragen kann, Zukunftsvorstellungen aufzubauen und so einen Wettbewerbsvorsprung zu generieren. Foresight im unternehmerischen Kontext – in diesem Beitrag Corporate Foresight genannt – arbeitet also mit unterschiedlichen Ansätzen und orientiert sich dabei eng an strategischen Fragestellungen, mit denen das Unternehmen konfrontiert ist. Über das Denken in zukünftigen Möglichkeitsräumen werden Reflexionsprozesse und Diskurse angestoßen, die ansonsten unberührt bleiben. So erfüllt Foresight nicht nur die Funktion ökonomisch relevantes Orientierungswissen zu generieren, sondern wirkt gleichzeitig auch sensibilisierend (Mietzner et al. 2017) und leistet somit immer auch einen gesellschaftlichen Auftrag (Kattinger 2018) folge.

3 Angewandte Foresight

Organisationen bleiben in Anbetracht des steigenden Wettbewerbsdrucks und der Unsicherheit vieler Systeme in der Regel die Wahl zwischen einer Strategie, die auf maximale Flexibilisierung setzt, oder einer Strategie, die auf eine möglichst exakte Prädiktion der Zukunft und dem aktiven Aufbau neuer Ressourcen in diesem Feld setzt, um Wettbewerbern gegenüber einen Vorteil zu generieren (Rohrbeck et al. 2015; Vecchiato 2015). Gerade in technologischen Feldern ist ein Bewusstsein gegenüber möglicher Entwicklungen mitunter überlebensentscheidend, da die Konvergenzen einzelner Technologien häufig größere Effekte auf ganze Branchen haben als die Entstehung einzelner Technologien (Ring 2013). Die häufigsten Anwendungsfälle für Foresight kommen aus Strategieentwicklung, Innovation oder Politik (Hajizadeh und Valliere 2022).
Wie bereits angedeutet kann Foresight dabei unterstützen, in komplexen und dynamischen Umfeldern antizipative Strategien aufzubauen. Der Zeitraum in dem sich diese Betrachtungen bewegen liegt meistens zwischen 15 und 50 Jahren und ist damit kürzer, als die Zeithorizonte, die in der allgemeinen Zukunftsforschung Anwendung finden (Nordlund 2012; Brier 2005). In manchen unternehmerischen Kontexten kann es sogar sinnvoll sein, den Zeithorizont auf 5–15 Jahre zu begrenzen (Ruff 2015). Der gewählte Zeitraum in Foresight-Projekten sollte stets explizit kommuniziert werden. Zum Einen, damit Beteiligte verstehen, welch weitreichende Folgen bereits heute getroffene Entscheidungen (mitunter sogar für künftige Generationen) haben können (Brier 2005) und zum Anderen, um das Denken von der Gegenwart und linearen Entwicklungen zu lösen. Je strukturierter der Rahmen der zu betrachtenden Zukünfte aufgezogen wird und relevante Elemente der Zukunft den Teilnehmenden eines Foresight-Projekts zugänglich und verständlich gemacht werden, umso eher werden die Beteiligten in die Lage versetzt durch kritisches Denken ein breites Spektrum an möglichen Zukünften zu sehen (Poli 2021; Buehring und Bishop 2020; Slaughter 1997). Gerade weil in Foresight-Prozessen stets nur eine Auswahl möglicher Zukünfte berücksichtigt wird (van der Laan 2021), wird der Befähigung einer breit gefächerten, diversen Gruppe in Zukünften zu denken (sog. „Futures Literacy“ (UNESCO 2022; Miller 2018)) eine steigende Relevanz beigemessen. Ohne die Fähigkeit, Informationen über die Zukunft angemessen zu verarbeiten, werden selbst die Ergebnisse sorgfältig angewendeter Foresight Methoden hinter den Erwartungen zurückbleiben. Die Personen, die sich innerhalb einer Organisation mit Foresight beschäftigen (sollten), lassen sich Rohrbeck und Gemünden (2011) zufolge in drei Rollen einteilen: 1) Strategen, die neue Geschäftsfelder erkunden; 2) Initiatoren, die Innovationskonzepte und Ideen fördern; 3) Gegenspieler, die Innovationsideen herausfordern und damit zu einer gesteigerten Qualität der Projekte beitragen. Diese Personengruppen werden von Hofmann (2015) als „Trend receivers“ bezeichnet und zeichnen sich durch kontextuelle Erfahrung mit dem Thema, Selbst-abstraktion, Neugier, Offenheit und Selektionskompetenz aus.
Ein Foresight-Prozess orientiert sich an der Regel an drei verschiedenen Phasen (Horton 1999): 1) die Sammlung und Zusammenfassung von vorhandenen Informationen, die in der Generierung von Zukunftswissen mündet; 2) die Übersetzung und Interpretation des generierten Wissens um enthaltene Implikationen für die Zukunft ableiten zu können; 3) die Angleichung und die Evaluierung des Verständnisses der gewonnen Implikationen. Dieser Schritt ist notwendige Voraussetzung, um Leitplanken für künftiges Handeln und ein klares Bekenntnis zum geplanten Vorgehen einer Organisation festlegen zu können.
Während die Phase der Wissensgenerierung (vgl. Kattinger 2018) und die damit verbundenen Methoden von Foresight (Iden et al. 2017) bisher am ausführlichsten betrachtet wurde, verlagert sich die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern und Praktikern langsam zur zweiten und dritten Phase (Rohrbeck et al. 2015). Zum umfassenderen Verständnis eines Foresight Prozesses haben wir die drei Phasen von Foresight in ein Modell integriert und um weitere, aus unserer Sicht relevante, Aspekte und beispielhafte Foresight Methoden ergänzt. Wir schlagen daher vor, den folgenden Prozess als Schaubild eines beispielhaften Ablaufs von Foresight im organisationalen Kontext verstehen (Abb. 1).
Eine Übersicht über die genannten Methoden findet sich in Tab. 1 im Anhang.
In der Anwendung von Foresight kann zwischen quantitativer und qualitativer Foresight unterschieden werden, wobei quantitative Foresight auf der Extrapolation von Daten und Trends basiert (Schwarz 2008), während qualitative Foresight besonders in dynamischen Umfeldern eingesetzt wird, in denen künftige Entwicklungen von einer Vielzahl an Variablen abhängen und sich schnell und häufig verändern können. Bei der Auswahl der anzuwendenden Foresight-methoden und damit dem Aufbau des methodischen Rahmens (Framework) eines Projekts sollten die angewandten Methoden stets in Abhängigkeit der zu beantwortenden Fragen gewählt werden (Popper 2008; Slaughter 1997) da Foresight über eine beachtliche Bandbreite an Methoden verfügt (Minkkinen et al. 2019) sich nur so inhaltlich wertvolle Handlungsempfehlungen ableiten lassen.
Ein häufig genutzter Weg zur Beschreibung zukünftiger Lebenswelten sind beispielsweise Szenarien (Hirsch-Kreinsen 2016; Tyszczuk 2021), die bis heute als eine der prominentesten Foresight-Methoden zählen (Rohrbeck et al. 2015). Szenarien arbeiten mit der Kreation von Zukunftsbildern, die aus der Kombination von Umfeldsignalen abgeleitet werden. Für einen vertiefenden Einblick in die Szenariotechnik sei auf Bishop et al. (2007) und Oliveira et al. (2018) verwiesen. Auch wenn Szenarien zu den mitunter bekanntesten Verfahren von Foresight gehören, ist die Literaturanalyse das am häufigsten angewendete Verfahren (Rhisiart et al. 2015). In einer Interviewstudie von Hajizadeh und Valliere (2022) nutzten die Befragten vor allem auch bereits bestehende Daten zu Trends und Entwicklungen (sogenannte Extrapolationen) um Foresight zu praktizieren.
Die etablierten Verfahren im Foresight Bereich lassen sich unter Berücksichtigung von vier Methodik-Typen im sogenannten „Foresight Diamanten“ (Popper 2008) platzieren. Kreativitätsbasierte Methoden zeichnen sich durch eine Mischung von originellem und imaginativen Denken aus und erfordern ein hohes Maß an Ideenreichtum. Expertisebasierte Methoden hängen maßgeblich von der Kompetenz oder Erfahrung der beteiligten Personen auf einem bestimmten Gebiet ab. Diese Methoden werden häufig zur Generierung von Handlungsempfehlungen oder zur Unterstützung von Top-Down Entscheidungen verwendet. Interaktionsbasierte Methoden haben den Vorteil inne, dass die Qualität von Einschätzungen durch Einbezug von Experten aus verschiedenen Domänen deutlich an Qualität gewinnen. Außerdem sichern diese Methoden ihre Legitimität durch die Inklusion einer diversen Teilnehmergruppe und einen „Bottom up“-Ansatz als Umsetzung demokratischer Ideale. Evidenzbasierte Methoden versuchen durch genaue Dokumentation und Analysen einzelne Phänomene vorherzusagen oder zu erklären. Diese Verfahren eignen sich besonders zum besseren Verständnis der zu untersuchenden Situation und um Feedback von Teilnehmern zu gewinnen (Abb. 2).
Anwender sollten also reflektieren, welche Methoden sich hinsichtlich des eigenen Foresight-Vorhabens besonders gut eignen. Grundsätzlich empfiehlt sich eine Kombination von Methoden, die über möglichst viele Seiten des Foresight-Diamanten verteilt sind. In der Praxis ist dies allerdings nicht immer umsetzbar. Insbesondere im Bereich der Technology Foresight sollte eine Bewertung der technologischen Trends bezüglich Performanz, sich daraus ergebenden Optionen, entstehenden Kosten, und möglichen Disruptionen als fester Bestandteil des Foresight-Prozesses gesehen werden (Bonaccorsi et al. 2020). Zur Vermeidung eines methodischen Bias und zur Verkleinerung weißer Flecken sollten für einen ganzheitlichen Foresight-prozess mindestens 5 verschiedene Foresight-methoden miteinander kombiniert werden (Popper 2008).

4 Foresight im organisationalen Kontext

Obwohl Foresight Gegenstand steigenden Interesses diverser Akteure ist, ist nur spärliche Literatur vorhanden, die die tatsächliche Integration von Foresight in organisationale Strukturen beschreibt (Ruff 2015). Hauptgründe hierfür sind unter anderem der Verlust von Wettbewerbsvorteilen durch Offenlegung strategischen Wissens, die Preisgabe relevanter strategischer Informationen an Wettbewerber und Vertraulichkeitsangelegenheiten. Obwohl mehrere global agierende Organisationen schon länger im Foresight-Sektor aktiv sind (z. B. Shell, Philips, Siemens, BASF, Morgan Stanley & Daimler; Hines und Gold 2015) ist eine vergleichbar geringe Anzahl wissenschaftlicher Publikationen zu Foresight im unternehmerischen Kontext verfügbar. Einen Einblick in die organisationale Verankerung von Foresight in Organisationen bieten beispielsweise die Beiträge der Ausgabe zu Corporate Foresight des Journal for Technological Forecasting and Social Change (Ruff 2015; Hofmann 2015; Darkow 2015; Boe-Lillegraven und Monterde 2015). Weitere verfügbare Praxisbeispiele erstrecken sich meist auf staatlich geförderte Projekte (Gershman et al. 2016; Nemeth et al. 2018, S. 99) oder aggregieren die Erkenntnisse mehrerer Organisationen auf einem höheren Level (vgl. Kononiuk et al. 2017). Dabei können durch kollaborative Foresight-Prozesse qualitativ hochwertigere Ergebnisse generiert werden als durch einzelne Foresight-Einheiten (Wiener et al. 2020). Organisationen sollten also abwägen, ob sie einzelne Foresight-Aktivitäten öffentlich zugänglich machen, um die Vorteile des gesellschaftlichen Kollektivs zu nutzen oder/und sich noch dichter am Kunden zu platzieren.

5 Herausforderungen bei der Integration von Foresight in organisationale Strukturen

Obwohl Foresight stetig an Bekanntheit und Akzeptanz gewinnt, ist ihre Etablierung in Wissenschaft und Praxis nicht so weit fortgeschritten, wie die Aufzählung ihrer Potenziale vielleicht vermuten lassen würde. Noch heute stößt die Integration zukunftsforscherischer Einheiten als soziale Praktik (Riedy 2021) und in organisationalen Umfeldern auf Herausforderungen (Hines und Gold 2015). Die Barrieren sind vielfältig und wirken von organisationaler Ebene bis hin zur individuellen Ebene und umfassen die gesamte Bandbreite von kognitiven Hemmnissen über fehlende Kompetenzen bis zu nicht verfügbaren Ressourcen (Mortensen Kæseler et al. 2021). Die zukunftsforscherische Literatur bietet eine Übersicht über die gängigsten Barrieren bei der Einführung von Foresight in organisationale Strukturen:
1.
Die Komplexität sozialer Kontexte wird vernachlässigt oder gar nicht berücksichtigt (Mastio und Dovey 2021). Die Annahme, dass Foresight vom Kontext lösbare generalisierbare Regeln produzieren kann, führt zu verzerrten plausiblen Zukünften in Foresight-projekten. Die Handlungsempfehlungen, die also in einem spezifischen Kontext erarbeitet werden, lassen sich so nicht ohne weiteres auf andere Akteure mit ähnlicher Fragestellung übertragen. Hierfür müssen stets die Bedürfnisse und Motive der beteiligten Individuen und sozialen Gruppen berücksichtigt werden. Eine Handlungsempfehlung, die für eine Personengruppe angemessen ist, kann von einer anderen Gruppe, beispielsweise aufgrund divergierender Wertvorstellungen oder Prioritäten, abgelehnt werden.
 
2.
Das Komplexitäts-Verfügbarkeits-Dilemma: Für zutreffende Beobachtungen über mögliche Zukünfte muss eine große Menge an Daten analysiert und bewertet werden – im besten Fall auch von Top-Managern. Diese Manager haben häufig aber nur begrenzte zeitliche Ressourcen für derartige Projekte zur Verfügung, so dass eine Analyse der Daten in zufriedenstellender Tiefe der Daten oftmals nicht möglich ist (Rohrbeck et al. 2015). Weiterhin kann es schwierig sein, Akzeptanz für externe Perspektiven zu gewinnen (Kaplan 2002).
 
3.
Organisationale Systeme unterliegen der Verzerrung, häufig Ideen, Annahmen und Pläne zu präferieren, die in Übereinstimmung mit dem Status Quo liegen (van Notten 2014), wodurch die Bereitschaft mit unbequemen Ideen oder unerwünschten Änderungsappellen konfrontiert zu werden den Aufbau einer internen zukunftsforscherischen Einheit weiter einschränkt. So wird Foresight häufig erst gefordert, wenn eine negative Entwicklung sich bereits deutlich abzeichnet (Godet 2000). Punktuelle, hastige Foresight Initiativen führen häufig zu kompromittierten Ergebnissen (Sarpong et al. 2013, S. 39).
 
4.
Foresight wird bis heute primär mit explorativen Ansätzen realisiert, obwohl durch den Einbezug explanativer Ansätze größere Beiträge zum Unternehmenserfolg denkbar wären (Iden et al. 2017). Dieser Umstand verringert neben den hohen Initialkosten (gerade in Klein- und Mittelstandsunternehmen (Mietzner et al. 2017)) die Bereitschaft in den Aufbau von Foresight Prozessen und Einheiten zu investieren.
 
Vor dem Hintergrund dieser Barrieren wird deutlich, dass verschiedene Disziplinen daran beteiligt sind, Foresight fest in Organisationen zu verankern (Iden et al. 2017) – insbesondere da die Kosten einer nicht fehlgeleiteten Strategie in Zeiten des steigenden Wettbewerbsdrucks immens wären: Durch den Verlass auf altbekannte Muster und vergangene Erfolge könnte unter Umständen fälschlicherweise angenommen werden bereits über eine gute Einschätzung möglicher Zukünfte zu verfügen und dabei Zukünfte zu vernachlässigen, die zwar ebenfalls plausibel sind aber außerhalb des Status-quo Korridors liegen. Die Integration neuer Perspektiven und Umfeldsignale in die eigene Entscheidungsfindung sollte also eher geschätzt als skeptisch beäugt werden. Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Haarhaus und Liening (2020), die zeigen konnten, dass Organisationen mit umfassender etablierten Einheiten für Zukunftsforschung einen höheren Grad an strategischer Flexibilität aufweisen als Unternehmen mit schwächer oder gar nicht ausgeprägten zukunftsforscherischen Abteilungen.

6 Kritik an der Anwendung von Zukunftsforschung im organisationalen Kontext

Neben den erwähnten Barrieren bei der Einführung zukunftsforscherischer Einheiten in Organisationen findet sich auch Kritik an der Disziplin selbst. Beteiligte an diesem Diskurs sind sowohl Kritiker aus anderen Disziplinen als auch Praktiker aus den eigenen Reihen. Die wesentlichen Kritikpunkte sollen hier ebenfalls Erwähnung finden.
1.
Einer der prominentesten Kritikpunkte ist das Fehlen eines gemeinsamen methodischen Hintergrunds (Flechtheim 1970; Ropohl 2012). Durch die diversen Fragestellungen, in denen die Zukunftsforschung zum Erkenntnisgewinn eingesetzt wird, hat sich bis heute kein designiertes Methodenrepertoire herauskristallisiert, dass eindeutig und ausschließlich der Zukunftsforschung zuzurechnen wäre. Die Interdisziplinarität der Disziplin macht sie allerdings wiederum mit einer großen Anzahl an Einsatzfeldern kompatibel.
 
2.
Aus dem nicht vorhandenen einheitlichen methodischen Hintergrund folgt, dass Foresight in theoretischen Methoden oftmals mit Foresight-Methoden gleichgesetzt wird (Cuhls 2020). Gerade für neue Praktiker kann diese Unschärfe zu Unsicherheit und Vermeidung führen. Insbesondere Einsteiger der Zukunftsforschung könnten durch einen „Standard Leitfaden“ unterstützt werden. Aufgrund der vielen verschiedenen zu berücksichtigen Variablen lässt sich die Realisierung eines kontextunabhängigen Leitfadens bisher nur unzureichend realisieren.
 
3.
Weiter wird der Zukunftsforschung oft ihr Mangel an Beweisbarkeit vorgehalten. Der Transparenz halber sollte erwähnt werden, dass sich auch andere Disziplinen, wie die Sozialwissenschaften oder die Philosophie, ebenfalls mit dieser Kritik konfrontiert sehen. Diesem Vorwurf könnte man begegnen, indem man die kreierten Zukunftsbilder im Nachhinein mit der eingetretenen Realität vergleicht. Dieses Unterfangen würde allerdings das Ziel (die Beweisbarkeit der getroffenen Vorhersagen) verfehlen, da Ziel der Zukunftsforschung (wie vorangehend bereits beschrieben) nicht die möglichst exakte Vorhersage einer Zukunft ist, sondern viel mehr in der Befähigung der Akteure liegt, die Gegenwart willentlich in Richtung des Erreichens einer wünschenswerten Zukunft zu beeinflussen.
 
4.
Es besteht eine Kluft zwischen Theorie und Praxis von Foresight (Gaponenko 2022). Diese Kluft macht sich besonders in der mangelnden Umsetzung theoretischer Empfehlungen (wie der Verwendung breit gestreuter Foresight-methoden) bemerkbar und führt dazu, dass nur halbherzig implementierte Foresight Prozesse und Projekte häufig nur begrenzt aussagekräftige Ergebnisse liefern und damit hinter den Erwartungen zurückbleiben (für ein Praxis-beispiel vgl. Nemeth et al. 2018).
 
5.
Das wohl am häufigsten aufgegriffene Argument in der Kritik von Zukunftsforschung als Disziplin beläuft sich auf den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit (Bell 1997; Slaughter 1993; Flechtheim 1970; Kreibich 1991). Während die Zukunftsforschung in den ersten Dekaden ihres Bestehens auch von Zukunftsforschern selbst zwischen Kunst und Wissenschaft verortet wurde (Slaughter 1997; Bell 2003), wurde ihr Charakter mit steigendem interdisziplinären Austausch und der Sammlung von Wissen und Methoden wissenschaftlicher, so dass es inzwischen eigene Fachjournale bei renommierten Verlagen und Lehrstühle an Universitäten gibt. An der Freien Universität Berlin beispielsweise wird seit mehreren Jahren im Curriculum explizit auf die Vermittlung wissenschaftstheoretischer Inhalte im Feld der Zukunftsforschung geachtet (Freie Universität Berlin 2013). Weiterhin gibt es in den letzten Jahren vermehrt Bemühungen Gütekriterien und Standards für die Zukunftsforschung zu etablieren (Gerhold et al. 2015; Shala 2015; Kuusi et al. 2015).
 
Durch die steigende Bekanntschaft und Anwendung von Zukunftsforschung entwickelt sich dieser Diskurs beständig weiter. Sowohl Kritiker als auch Wissenschaftler und Praktiker tragen mit ihrer Beteiligung am Diskurs zur fortschreitenden Professionalisierung der Zukunftsforschung bei.

7 Potenziale von Foresight im organisationalen Kontext

Anstrengungen in den Aufbau einer internen Expertise für strategische Vorausschau zu investieren, scheint gerade in Hinblick auf den Wettbewerb in dynamischen und komplexen Umfeldern eine sinnvolle Maßnahme. Gerade in technologischen Branchen kann Zukunftsforschung mit ihren antizipativen Heuristiken zur Bewusstseinsbildung beitragen, wie heutzutage etablierte Technologien und wissenschaftliche Praxis die Zukunft beeinflussen und formen (Urueña et al. 2021) und damit zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit bezüglich neuer Technologien und ihres Wirksamkeitspotenzials beitragen. Auch in nicht-technologischen Bereichen kann die Integration von Zukunftsforschung in organisationale Strukturen vielfache Vorteile auf verschiedenen Ebenen kreieren. Organisationen können durch Foresight eine Wettbewerbsstrategie ableiten und relevante Wettbewerber bereits frühzeitig identifizieren. Gerade in Verbindung mit Competetive Intelligence (also dem Einsatz intelligenter Systeme zur Generierung von Wettbewerbsvorteilen) kann die Wirksamkeit von Foresight noch weiter gesteigert werden (Hakmaoui et al. 2022) indem Informationen über Wettbewerber und potenzielle Marktnischen in Foresight Fragestellungen einbezogen werden. Auch in der Verknüpfung von Forschung & Entwicklung, Innovation und Foresight lassen sich synergetische Potenziale generieren (Gordon et al. 2020), die Organisationen zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit nutzen können. Akteure können beispielsweise Foresight Praktiken nutzen, um Innovationsstrategien oder Forschungsgebiete mit vermeintlich hoher Relevanz in plausible Zukünfte zu extrapolieren. Die so generierten Informationen lassen sich durch Backcasting in Handlungsempfehlungen mit Gegenwartsbezug übersetzen. Außerdem trägt Foresight selbst dazu bei, die Lernfähigkeit von Organisationen und Personen unter Unsicherheit zu verbessern (Haarhaus und Liening 2020) und kann dazu beitragen, dass Angestellte eine erhöhte Resilienz gegenüber Veränderungen entwickeln, da das Denken in multiplen Zukünften den Schrecken vor Veränderungen und der Zukunft nehmen kann. Darüber hinaus kann Foresight Führungskräfte in der Entwicklung ihrer Führungsqualitäten unterstützen (Rhisiart et al. 2015), in dem Führungskräfte Treiber und Risiken einer wünschenswerten Zukunft identifizieren und bewerten können. Durch transparente Strategien zum Erreichen einer wünschenswerten Zukunft werden Mitarbeitende befähigt relevante Veränderungen herbeizuführen, während gleichzeitig wahrgenommene Wertschätzung und Sinnhaftigkeit der Tätigkeit ansteigen können.
Allerdings steckt die Integration zukunftsforscherischer Praktiken in den Bereich der Personal- und Organisationsentwicklung noch in den Kinderschuhen (Karwehl und Kauffeld 2021, 2022). Gerade die Untersuchung strategisch relevanter Kompetenzen (sogenannter „Zukunftskompetenzen“) kann Organisationen einen Vorsprung in einer unsicheren und sich schnell verändernden Zukunft bieten. Da zwischen dem ersten Auftreten einer neuen Technologie, über ihre Etablierung, bis hin zur Entwicklung entsprechender Qualifizierungen zum Umgang mit dieser mehrere Jahre vergehen, täten Organisationen gut daran, neu auftretende Technologien und technologische Entwicklungen engmaschig zu beobachten und auf ihre Relevanz hinsichtlich des eigenen Geschäftsmodells zu überprüfen. Durch die Überprüfung neuer Einflüsse und Entwicklungen auf konkrete Tätigkeitsbereiche würden sich so auch Kompetenzanforderungen an Individuen erkennen lassen, so dass man hier von einer Art „Competence Foresight“ sprechen könnte. Gelingt es Organisationen und Individuen relevante Umfeldsignale frühzeitig zu erkennen, diese auf ihre Bedeutsamkeit hinsichtlich der eigenen Strategie zu bewerten, so könnten Wandlungsprozesse flexibel und strategisch nachhaltig gestaltet werden und somit sowohl zum Unternehmenserfolg als auch zur Zufriedenheit der Beteiligten beitragen. Gerade vor dem Hintergrund technischen Fortschritts und technologischer Konvergenzen wird es in Zukunft essenziell sein, wie lange ein Akteur benötigt, um sich auf Veränderungen und damit gewandelte Kompetenzanforderungen einzustellen. Aktivitäten im Bereich der Competence Foresight können also dazu beitragen frühzeitig auf Veränderungen vorbereitet zu sein und somit auch in unsicheren und komplexen Umfeldern nutzerzentriert und innovativ wirken zu können.
Weiterhin tragen Organisationen durch die aktive Befassung mit möglichen Zukünften auch zur Erfüllung ihres gesamtgesellschaftlichen Auftrags bei: Eine ausgeprägte Expertise in strategischer Vorausschau befähigt Akteure dazu generierte Innovationen besser an Bedürfnissen der Gesellschaft auszurichten (Urueña et al. 2021) und trägt durch die Implementierung dieser sozialen Innovationen in der Praxis aktiv zum Wandel der Gesellschaft bei (Kattinger 2018).

8 Fazit

Wie der Diskurs über Inhalte und den Namen von Zukunftsforschung bereits suggeriert, gibt es auch außerhalb des organisationalen Kontexts keinen einheitlichen Prozess, nach dem Zukunftsforschung sich standardisiert durchführen lässt. Diese Unschärfe liegt zum Einen darin begründet, dass das Feld der Zukunftsforschung sich noch in einem Orientierungs- und Verortungsprozess in unterschiedlichen Kontexten befindet. Zum Anderen, geht es bei der Anwendung von Zukunftsforschung (gerade im organisationalen Kontext) nicht bloß um die Anwendung einzelner Methoden, sondern um ein Verständnis dafür, wie die breit gefächerten Methoden der Zukunftsforschung zu kombinieren sind, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. In jedem Fall sollten Akteure sich bewusst sein, dass nicht jedes Projekt sich für zukunftsforscherische Fragestellungen eignet und, dass nur anteilig oder falsch ausgeführte Foresight Aktivitäten zur minderwertigen Ergebnissen führen können. Die Auswahl der Fragestellungen und Methoden sollte also stets fundiert und an Unternehmenszielen ausgerichtet sein um die Akzeptanz unter Entscheidern sicherzustellen. Hier sehen wir unter anderem Potenzial in der Verbindung evidenzbasierter Ansätze mit Methoden der Zukunftsforschung. Durch die Anwendung zukunftsforscherischer Praktiken können Akteure fundierte Abbilder plausibler Zukünfte generieren, die als Grundlage zur Definition strategischer Ziele dienen können. Mittels Backcasting können anschließend mittelfristige und taktische Ziele identifiziert werden, die sich durch Experimente und Beweise des evidenzbasierten Management (EBM) überprüfen und validieren lassen.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie

Die Zeitschrift beleuchtet organisationspsychologische Fragestellungen an den Schnittstellen von Organisation, Team und Individuum.

Anhänge

Anhang

Tab. 1
Übersicht der im Foresight Modell genannten Methoden
Delphi Studie
Hinter der Delphi Studie steht die Annahme, dass Experten in ihrem jeweiligen Fachgebiet zu besonders fundierten Aussagen über künftige Entwicklungen fähig sind. Mit dem Ziel einer harmonisierter harmonisierten Gruppenbewertung werden Fachleute i. d. R. separat über mehrere Runden hinweg per Fragebogen befragt
Fragebogen
Fragebögen dienen als Instrumente zur Datenerhebung und Informationsgewinnung. Sie stellen ein Standardwerkzeug in der empirischen Forschung dar und ermöglichen beispielsweise die Erfassung von Meinungen, Einstellungen und Merkmalen
Interviews
Interviews stellen eine dialogische Gesprächsform dar, die (ähnlich wie Fragebögen) zur zweckgerichteten Informationsgewinnung eingesetzt wird. Über Interviews lassen sich ebenfalls Meinungen, Einstellungen, Merkmale, Motive und Erfahrungen erfassen
Critical Technologies
Die Methode der Key/Critical Technologies umfasst die Erarbeitung einer Liste an Schlüsseltechnologie für einen spezifischen Anwendungsfall. Dieser kann beispielsweise ganze Länder oder einzelne Branchen umfassen
Literature Review
Der Literature Review ist die am häufigsten genutzte Methode im Foresight Prozess. Er beleuchtet einen Diskurs gezielt unter Berücksichtigung relevanter Aspekte und Theorien. Quellen hierfür können beispielsweise Bücher, Berichte, Journals oder Webseiten sein
SWOT
Die SWOT Analyse identifiziert interne Faktoren des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes, die in Stärken und Schwächen eingeteilt werden. Anschließend werden relevante externe Faktoren in Möglichkeiten und Bedrohungen unterteilt. Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden anschließend mögliche Strategien abgeleitet
Trend Analyse
Eine Trendanalyse umfasst im ersten Schritt eine Auflistung von Megatrends. Anschließend werden diese Trends bezüglich ihrer Effekte auf den definierten Untersuchungsgegenstand (z. B. Branche, Technologie oder Region) untersucht. Anschließend werden externe Entwicklungen den Megatrends zugeordnet
Cross Impact Analyse
Cross Impact Analysen beinhalten das Ziel, das Zusammenspiel von Trends, Akteuren und Zielen innerhalb eines Systems sichtbar zu machen. Die auch als strukturelle Analyse bekannte Methode fußt auf Expertenurteilen. Eine Limitierung liegt in der mangelhaften Darstellung komplexer Kausalitäten über mehrere Variablen hinweg
STEEP
STEEP steht für social, technological, economic, environmental und political. Es handelt sich um eine Form des strukturierten Brainstormings, während dem relevante Faktoren für die jeweiligen Kategorien identifiziert und erfasst werden
Weak Signals
Weak Signals werden auch „Keimzellen des Wandels“ genannt und zeichnen sich durch ihren mehrdeutigen Charakter aus. Sie enthalten Hinweise auf oder Informationen über potenziell relevante zukünftige Entwicklungen des untersuchten Gegenstands
Wildcards
Wildcards bezeichnen Ereignisse, die über eine geringe Eintretenswahrscheinlichkeit aber einen hohen Einfluss bei Eintreten verfügen. Wildcards entstehen unter anderem aus unerwartetem menschlichen Handeln oder den Erkenntnissen zufälliger Entdeckungen
(SMIC) Scenarios
Scenarios umfassen ein breites Spektrum möglicher Ansätze bezüglich der Konstruktion und Verwendung von Szenarien. Szenarien sollten systematische und in sich konsistente Visionen von plausiblen Zukünften enthalten. Bei SMIC Szenarien werden die Quantitäten, die zu einer Herbeiführung des jeweiligen Szenarios führen, ebenfalls mit berücksichtigt
Backcasting
Backcasting bedient sich eines Zukunftsbildes und der Findung des Weges, der von der Gegenwart in diese Zukunft führt. In diesem Prozess werden Meilensteine, Maßnahmen und Ereignisse identifiziert, die für das Erreichen der visualisierten Zukunft nötig sind
Literatur
Zurück zum Zitat Bell, W. (1997). The purposes of futures studies. The Futurist, 31(6), 42–45. Bell, W. (1997). The purposes of futures studies. The Futurist, 31(6), 42–45.
Zurück zum Zitat Bell, W. (2003). Foundations of futures studies: History, purposes, and knowledge. Human science for a new era. New Brunswick: Transaction. Bell, W. (2003). Foundations of futures studies: History, purposes, and knowledge. Human science for a new era. New Brunswick: Transaction.
Zurück zum Zitat Flechtheim, O. K. (1970). Futurologie. Der Kampf um die Zukunft. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik. Flechtheim, O. K. (1970). Futurologie. Der Kampf um die Zukunft. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik.
Zurück zum Zitat Gerhold, L., Holtmannspötter, D., Neuhaus, C., Schüll, E., Schulz-Montag, B., Steinmüller, K., & Zweck, A. (2015). Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung. Wiesbaden: Springer.CrossRef Gerhold, L., Holtmannspötter, D., Neuhaus, C., Schüll, E., Schulz-Montag, B., Steinmüller, K., & Zweck, A. (2015). Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung. Wiesbaden: Springer.CrossRef
Zurück zum Zitat Karwehl, L. J., & Kauffeld, S. (2022). Future Compentencies in HMI. An interdisciplinary approach for the anticipation of strategically relevant competencies in Human Machine Interaction (HMI). In WORK.CrossRef Karwehl, L. J., & Kauffeld, S. (2022). Future Compentencies in HMI. An interdisciplinary approach for the anticipation of strategically relevant competencies in Human Machine Interaction (HMI). In WORK.CrossRef
Zurück zum Zitat Kattinger, J. (2018). Viable Futures. Zwischen Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Dissertation. Berlin: Freie Universität Berlin. Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung, zuletzt geprüft am 16.12.2021 Kattinger, J. (2018). Viable Futures. Zwischen Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Dissertation. Berlin: Freie Universität Berlin. Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung, zuletzt geprüft am 16.12.2021
Zurück zum Zitat Kreibich, R. (1991). Zukunftsforschung und Politik in Deutschland, Frankreich, Schweden und der Schweiz. ZukunftsStudien, 3. Weinheim: Beltz. Kreibich, R. (1991). Zukunftsforschung und Politik in Deutschland, Frankreich, Schweden und der Schweiz. ZukunftsStudien, 3. Weinheim: Beltz.
Zurück zum Zitat Mietzner, D., Hartmann, F., & Fahrenkrug, M. (2017). Szenariobasierte Geschäftsmodellentwicklung als Ansatz der strategischen Vorausschau in kleinen und mittleren Unternehmen. Ein Leitfaden. https://www.prokom-4-0.de/downloads/instrumente-zum-kompetenzmanagement. Zugegriffen: 3. Febr. 2022. Hg. v. Technische Hochschule Wildau und Forschungsgruppe Innovations- und Regionalforschung. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Mietzner, D., Hartmann, F., & Fahrenkrug, M. (2017). Szenariobasierte Geschäftsmodellentwicklung als Ansatz der strategischen Vorausschau in kleinen und mittleren Unternehmen. Ein Leitfaden. https://​www.​prokom-4-0.​de/​downloads/​instrumente-zum-kompetenzmanagem​ent. Zugegriffen: 3. Febr. 2022. Hg. v. Technische Hochschule Wildau und Forschungsgruppe Innovations- und Regionalforschung. Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Zurück zum Zitat Miller, R. (2018). Sensing and making-sense of futures literacy. Towards a futures literacy framework (FLF). In R. Miller (Hrsg.), Transforming the future. Anticipation in the 21st century. London, New York: Routledge Taylor & Francis. Miller, R. (2018). Sensing and making-sense of futures literacy. Towards a futures literacy framework (FLF). In R. Miller (Hrsg.), Transforming the future. Anticipation in the 21st century. London, New York: Routledge Taylor & Francis.
Zurück zum Zitat Müller, A. W., & Müller-Stewens, G. (2009). Strategic Foresight. Trend- und Zukunftsforschung in Unternehmen – Instrumente, Prozesse, Fallstudien. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Müller, A. W., & Müller-Stewens, G. (2009). Strategic Foresight. Trend- und Zukunftsforschung in Unternehmen – Instrumente, Prozesse, Fallstudien. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
Zurück zum Zitat Naisbitt, J. (1986). Megatrends. 10 Perspektiven, d. unser Leben verändern werden ; [Vorhersagen für morgen] (6. Aufl.). Bayreuth: Hestia. Naisbitt, J. (1986). Megatrends. 10 Perspektiven, d. unser Leben verändern werden ; [Vorhersagen für morgen] (6. Aufl.). Bayreuth: Hestia.
Zurück zum Zitat Pfadenhauer, M. (2004). Wie forschen Trendforscher? Zur Wissensproduktion in einer umstrittenen Branche. Forum Qualitative Sozialforschung, 5, 1–18. Pfadenhauer, M. (2004). Wie forschen Trendforscher? Zur Wissensproduktion in einer umstrittenen Branche. Forum Qualitative Sozialforschung, 5, 1–18.
Zurück zum Zitat Popper, R. (2008). Foresight methodology. In L. Georghiou (Hrsg.), The handbook of technology foresight. Concepts and practice. Prime series on research and innovation policy. (S. 44–88). Cheltenham: Elgar. Popper, R. (2008). Foresight methodology. In L. Georghiou (Hrsg.), The handbook of technology foresight. Concepts and practice. Prime series on research and innovation policy. (S. 44–88). Cheltenham: Elgar.
Zurück zum Zitat Rust, H. (2002). Zurück zur Vernunft. Wenn Gurus, Powertrainer und Trendforscher nicht mehr weiterhelfen (1. Aufl.). Wiesbaden: Gabler. Rust, H. (2002). Zurück zur Vernunft. Wenn Gurus, Powertrainer und Trendforscher nicht mehr weiterhelfen (1. Aufl.). Wiesbaden: Gabler.
Zurück zum Zitat Sadler, B. (1996). Environmental assessment in a changing world. Evaluating practice to improve performance ; final report. International study of the effectiveness of environmental assessment. Ottawa: Minister of Supply and Services Canada. Sadler, B. (1996). Environmental assessment in a changing world. Evaluating practice to improve performance ; final report. International study of the effectiveness of environmental assessment. Ottawa: Minister of Supply and Services Canada.
Zurück zum Zitat Slaughter, R. A. (1997). Developing and applying strategic foresight. ABN Report, 5(10), 13–27. Slaughter, R. A. (1997). Developing and applying strategic foresight. ABN Report, 5(10), 13–27.
Metadaten
Titel
Verändernde Welt mit exponentieller Beschleunigung: Wie kann Foresight einen Beitrag für Organisationen leisten?
verfasst von
Laura Johanna Karwehl
Simone Kauffeld
Publikationsdatum
21.07.2022
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
DOI
https://doi.org/10.1007/s11612-022-00642-9

Weitere Artikel der Ausgabe 3/2022

Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) 3/2022 Zur Ausgabe

Premium Partner