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24.04.2024 | Verwaltungsmanagement | Gastbeitrag | Online-Artikel

Der 7. Oktober 2023 und seine Folgen

10 Min. Lesedauer

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Verfasst von: Professor Dr. Lars Dittrich, Professur für Staat und Verfassung, Hessische Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS), Dr. Eliane Ettmüller, Forschungsstelle Extremismusresilienz, HöMS, Swen Eigenbrodt, Leiter des Referats Prävention im Landespolizeipräsidium Hessen, Florian Hoffmann, Fachlehrer Recht, HöMS, Anika Schleinzer, Phänomenbereichsübergreifende wissenschaftliche Analysestelle Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit (PAAF), Landesamt für Verfassungsschutz Hessen

Nach den terroristischen Anschlägen auf Israel kam es in Deutschland zu Kundgebungen. Diese Serie gibt Hinweise zu den Hintergründen und zum Umgang mit den Versammlungslagen. Teil 2 führt in bedeutsame Zusammenhänge des so genannten "Nahostkonflikts" ein.

Der grausame Überfall auf Israel unter der Führung der Hamas fand nicht zufällig am 7. Oktober 2023 statt. Die Hamas und ihre Verbündeten streben die Vernichtung des Staates Israel und die Tötung von Jüdinnen und Juden explizit an, um nicht nur aus Palästina einen „islamischen Staat“ zu machen.

Mit ihrer Wahl des Datums erinnerten sie an die koordinierten Überraschungsangriffe der ägyptischen und syrischen Armeen zu Beginn des Yom Kippur Kriegs am 6. Oktober 1973. Fünfzig Jahre und einen Tag war es her, dass sich die Ägypter mit ihrem unerwarteten Angriff auf Israel ein neues Nationalbewusstsein schufen. Dieses historische Datum nutzten im Nachgang nicht nur die Hamas und ihre Verbündeten, vielmehr ist der 6. Oktober in Ägypten ein gewichtiger nationaler Feiertag. Ein Stadtteil Kairos ist nach ihm benannt und ein Monument in Pyramidenform.

Widersprüchliche Haltungen und geschichtsträchtige Jahrestage

Das Paradox der gleichzeitigen Stilisierung Israels zum Feind der ägyptischen Nation, dem man sich heroisch gestellt hatte, und des Aushandelns eines historischen Friedensabkommens in Camp David, in dem Ägypten als erster arabischer Staat offiziell Israel anerkannte, kostete den damaligen ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat ebenfalls nicht zufällig am 6. Oktober 1981 in einem Attentat das Leben. Der Täter, ein ägyptischer Offizier, der der Vereinigung „Ägyptischer Islamischer Dschihad“ angehörte, stellte sich mit seiner Tat gegen den Frieden, den der Präsident mit „den Juden“ geschlossen hatte.

Der Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn ist gekennzeichnet von etlichen solcher widersprüchlichen Haltungen.

Sie fordern immer wieder an geschichtsträchtigen Jahrestagen weitere Todesopfer . Beispielsweise stellen sich alle Vertreter arabischer Länder gerne im Namen einer panarabischen oder sogar internationalen muslimischen Weltgemeinschaft auf die Seite der Palästinenserinnen und Palästinenser, vorzugsweise, wenn es gegen Israel oder den so genannten „westlichen Imperialismus“ geht. Gleichzeitig unterlassen sie es indes, die in der vierten oder fünften Generation in Flüchtlingslagern im Land lebenden Palästinenserinnen und Palästinenser zu integrieren oder gar einzubürgern, abgesehen von den Personen, die 1948 nach Transjordanien geflüchtet waren.

Situation der Palästina-Flüchtlinge

In von der UNRWA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, geführten Lagern in Syrien, Jordanien und im Libanon warten palästinensische Flüchtlinge teilweise seit 1948 auf eine Rückkehr in ihre Heimat, ohne die Möglichkeiten, sich ein Leben im Gastland aufbauen zu können. Die UNRWA nahm ihre Arbeit im Jahr 1950 auf und betreute damals 750.000 Menschen. Heute sind es 5,9 Millionen, die auf die Unterstützung der Organisation vollumfänglich angewiesen sind, von Nahrung, Unterkunft, Gesundheitsversorgung bis hin zur Bildung. Im Jahr 2023 unterstützte die Bundesregierung nach eigenen Angaben die UNRWA mit 200 Millionen Euro. Deshalb verwundert es nicht, dass sich auch im derzeitigen Krieg Ägypten schwertut, seine Grenze für Flüchtlinge zu öffnen. Sie würden zwar Ägyptens inoffizielles antiisraelisches Nationalgefühl bedienen, wären aber zugleich eine große Herausforderung für den übrigen gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftlich latent prekäre Situation des Landes.

Iran verbreitet anti-israelische antisemitische Propaganda seit 1979 auch in Deutschland

Seit der Staatsgründung Israels werden weltweit emotional hoch aufgeladene Legenden verbreitet, die zum Teil stark antisemitisch geprägt sind. Kurz nach seiner Machtergreifung im Februar 1979 erklärte der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini Israel den Krieg. Antisemitische Schriften wurden verbreitet und Khomeini führte den al-Quds-Tag ein, an dem jährlich am Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan international zur Rückeroberung Jerusalems aufgerufen wird. Der al-Quds-Tag wird auch regelmäßig öffentlichkeitswirksam in deutschen Großstädten von regimetreuen iranischen Vereinen veranstaltet. Nach der Hinrichtung des Sadat-Attentäters wurden in Teheran ihm zu Ehren eine Briefmarke gedruckt und eine Straße nach ihm benannt. Damit verurteilte der Iran gleichzeitig den Frieden Ägyptens, als eines gewichtigen sunnitischen Gegenspielers, mit Israel.

Nahostkonflikt beschränkt sich nicht auf Nahen Osten

Der so genannte „Nahostkonflikt“ hat nie nur im Nahen Osten stattgefunden. In den 1980er Jahren wurden im Libanonkrieg iranische Revolutionswächter eingesetzt, die unter dem Namen Hizb Allah (Partei Gottes; Transkription aus dem Arabischen gemäß Standards deutscher Sicherheitsbehörden) gegen Israel kämpften. Die Präsenz der Hizb Allah im Libanon an der Nordgrenze Israels, eröffnete dem Iran einen inoffiziellen Zugang zum Mittelmeer. In den weiteren Bürgerkriegen im Irak, in Syrien und im Jemen hat der Iran durch den Einsatz seiner Revolutionswächter viele Milizen geschaffen beziehungsweise unterstützt, die bereitstehen, um gegen sunnitische Milizen oder Mächte sowie gegen Israel, die USA und allgemein „den Westen“ zu kämpfen. Zusammen mit dem syrischen Assad-Regime, irakischen Milizen, den jemenitischen Huthi-Rebellen und auch der Hamas formierte der Iran ein Bündnis, das als „Achse des Widerstands“ bezeichnet wird. Wenn es um Israel geht, sind schiitische Gruppen durchaus dazu bereit, eine sunnitische Miliz wie die Hamas zu unterstützen.

„Der Jude“ als Feindbild eint die meisten Extremisten. 

Seit der Gründung Israels wurde dieses Feindbild gerade in arabischen Ländern gefördert, so dass in kürzester Zeit zehn- oder gar hunderttausend Jüdinnen und Juden aktiv vertrieben oder anderweitig zur Auswanderung bewegt wurden. Von den rund 800.000 Jüdinnen und Juden in arabischen Staaten, Nordafrika miteingerechnet, leben heute noch weniger als 4.000 in ihrem jeweiligen Heimatstaat. Viele zogen nach Israel. Von dort waren wiederum während des ersten Arabisch-Israelischen Krieges von 1947 bis 1949 circa 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser geflüchtet, was auf Arabisch bis heute als „Nakba“, (Katastrophe), bezeichnet wird.

Migrationsbewegungen und Zweistaatenlösung

Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts große Migrationsbewegungen von Jüdinnen und Juden, die in Europa und Russland verfolgten wurden, in den Nahen Osten begannen, bestand die Bevölkerungsmehrheit vor Ort aus Muslimen. Ungefähr zehn Prozent der damaligen Bevölkerung waren arabische Christen unterschiedlicher Konfessionen. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung lag vor der ersten großen Einwanderungswelle noch unter zehn Prozent. Das 19. Jahrhundert war die Zeit der Nationalismen. In Gestalt des Zionismus hatte der Nationalismus das Ziel, eine Heimstätte für das „jüdische Volk“ zu gründen und aufzubauen. Die Schaffung eines solchen Nationalstaats wurde von den Briten unterstützt, nicht zuletzt, weil Nationalismen ideale ideologische Waffen im Kampf gegen Großreiche in Form von Vielvölkerstaaten wie des Osmanischen Reichs waren. Deshalb befeuerten die Briten auch die Arabische Revolte von 1916 bis 1918. Im Jahr 1917 sicherte der britische Außenminister Lord Balfour den Zionisten in Palästina ein „national home for Jews“ zu. Jüdische Flüchtlinge wurden trotzdem, gerade während des Zweiten Weltkriegs, von den britischen Mandatsträgern in Lagern interniert, weil sich vor allem die muslimisch-arabische Bevölkerung seit den 1920er Jahren gegen den Zuwachs der jüdischen Bevölkerung vor Ort wehrte.

Einer von der UNO vorgeschlagenen Zweistaatenlösung wollten die arabischen Staaten im Jahr 1947 nicht zustimmen. Auf die Staatsgründung Israels, die sofort demokratische Strukturen hervorbrachte – in der Unabhängigkeitserklärung wurden allen Einwohnern gleiche soziale und politische Rechte zugesichert, unabhängig von Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder Geschlecht –, folgte die Kriegserklärung der arabischen Staaten. Bei Kriegsende wurden Grenzen definiert, die bis heute dazu herangezogen werden, um die Ausdehnung des Staates Israel sowie die der palästinensischen Gebiete zu definieren.

Sechstagekrieg wirkt bis heute

Im Jahr 1967 war es Israel, das Ägypten in einem Präventivschlag gegen die Truppenverschiebungen nahe der Grenze angriff. Im darauffolgenden Sechstagekrieg besetzte Israel den Gazastreifen, die Sinaihalbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Die Sinaihalbinsel gab Israel im Jahr 1979 an Ägypten zurück, Ostjerusalem und die syrischen Golanhöhen annektierte es, was bis heute von den meisten Staaten nicht anerkannt wird.

Der Gazastreifen unterliegt seit dem Osloer Abkommen der 1990er Jahre der Selbstverwaltung der palästinensischen Autonomiebehörde. Er wird seit 2007 von der islamistischen Vereinigung Hamas regiert. Das Westjordanland steht mit der Ausnahme weniger Enklaven, die von der palästinensischen Autonomiebehörde als Rumpfstaat verwaltet werden, noch immer unter israelischer Besatzung. In diesem Zustand schwelen Extremismus und Gewaltbereitschaft. Israelische Siedler annektieren weiterhin Land und vertreiben palästinensische Anwohner. Palästinensische Terrorkommandos greifen Israelis unter anderem mittels Selbstmordattentätern an. Die israelische Seite versucht, sich mit Mauern und Zäunen zu schützen, was die Palästinenserinnen und Palästinenser in ihrer Bewegungsfreiheit massiv einschränkt und auch zu Übergriffen führt. So sind auf allen Seiten tausende Menschen in Kriegen, bei Aufständen (Intifada) und Attentaten, aber auch infolge der Vertreibung und anschließenden prekären Lebensumstände gestorben.

Wer am Konflikt beteiligt ist

Am Konflikt sind unterschiedliche Parteien beteiligt. Auf der israelischen Seite sind die politischen Lager aufgrund der demokratischen Ordnung sehr unterschiedlich. Sie reichen von ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden, die den Staat Israel komplett ablehnen, über ultrarechte Siedlungsbauer, die den Palästinensern das Existenzrecht absprechen, über eine solide Mitte, die sich für den Frieden einsetzt, bis zu ultralinken Aktivistinnen und Aktivisten, die am liebsten geeint mit den Palästinenserinnen und Palästinensern gegen den Kapitalismus und den Zionismus kämpfen würden.

Der palästinensische Widerstand und eine eigenständige palästinensische Identität formierten sich demgegenüber unter politisch weniger günstigen Bedingungen. 

Der Großteil aller Palästinenserinnen und Palästinenser lebte in autoritär regierten Staaten, die keine freie politische Betätigung zulassen, oder unter israelischer Besatzung. Früh einwickelten sich in diesem Kontext islamistische Strukturen. Muslimbrüder kämpften bereits im ersten Arabisch-Israelischen Krieg freiwillig mit. Einer von ihnen, Abdullah Azzam, zog später nach Pakistan und legte gemeinsam mit Osama Bin Laden die Basis für die Entstehung der al-Qaida. Ein anderer ehemaliger Muslimbruder, Taqi ad-Din an-Nabhani, gründete 1953 die „Partei der Befreiung“ Palästinas (Hizb ut-Tahrir) im damals jordanisch kontrollierten Ostjerusalem. Sie strebt die Vernichtung Israels und "der Juden" sowie die weltweite Errichtung eines Kalifats an. Seit 2003 unterliegt sie in Deutschland einem Betätigungsverbot.

Etwas später formierten sich Terrororganisationen von links, die sich in den 1970er Jahren in unterschiedlichen Zellen international bemerkbar machten, in Deutschland unter anderem mit dem Attentat auf das israelische Olympiateam in München 1972 und mit der Flugzeugentführung der „Landshut“ fünf Jahre später im so genannten „Deutschen Herbst“, den die RAF prägte. Der Kampf der Palästinenser hat seither fast sämtliche Bereiche des deutschen Extremismus beeinflusst und das nicht nur ideologisch, sondern auch sehr praktisch durch die Ausbildung von Kämpfern in den dafür eingerichteten Trainingscamps. Die Verbrüderung voneinander teilweise feindlich gegenüberstehenden Richtungen erfolgte, wie bei der bereits beschriebenen Zusammenarbeit sunnitischer und schiitischer Extremisten, über den geteilten Antisemitismus.

Warum der Konflikt weiter andauert

Während der Staat Israel sich politisch, wirtschaftlich und sozial als einzige Demokratie im Nahen und Mittleren Osten etablieren konnte, wird der palästinensische Rumpfstaat durchgängig geplagt von Symptomen eines „failed state“. Dazu haben aber nicht nur die eigenen autoritären und korrupten politischen und sozialen Strukturen beigetragen. Die Attacken israelischer Siedlerinnen und Siedler, die sich nach internationalem Recht illegal im Westjordanland Land aneignen, die Diskriminierung der arabischen Bevölkerung in Israel selbst, die immer wieder von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch angeprangerten Fälle von Folter und Misshandlungen von palästinensischen Gefangenen in israelischer Präventivhaft oder gar Kriegsverbrechen, welche durch israelische Truppen verübt werden, tragen ebenfalls dazu bei, dass der Konflikt weiter andauert.

Hier geht es zu Teil 3: Extremistischer Einfluss auf das Protestgeschehen

Weitere Teile:

Teil 4: Rechtslage beim polizeilichen Umgang mit Versammlungen

Teil 1: Der 7. Oktober und seine Folgen

Die Hintergründe zu diesem Inhalt