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2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

6. Der ENABLE-Vertriebsprozess

verfasst von : Livia Rainsberger

Erschienen in: Der moderne Kunde – das PHANTOM

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Ein zeitgemäßer Vertriebsprozess spiegelt den Entscheidungsprozess des Kunden wider. Dabei sind die Tätigkeiten in Vertrieb und Marketing an den Bedürfnissen und den Erwartungen der spezifischen Zielgruppe ausgerichtet und haben vor allem das Ziel, den Kunden zu befähigen, die beste Entscheidung für sich zu treffen. Dies ist der Kern des ENABLE-Vertriebsprozesses, dessen Schritte – Educate, Nurture, Affirm, Brainwash, Leverage, Easy-Buy – auf die jeweiligen Phasen des DECIDE-Entscheidungsprozesses des Kunden abgestimmt sind. Dabei stehen der Kunde und sämtliche Interaktionen mit ihm im Fokus aller Aktivitäten, ob technologischer oder menschlicher Natur. Die relevanten Ressourcen, Kanäle, Inhalte, Touchpoints und Engagement-Formen werden anhand der Anforderungen der jeweiligen Phase definiert.
Zusammenfassung Ein zeitgemäßer Vertriebsprozess spie gelt den Entscheidungsprozess des Kunden wider. Dabei sind die Tätigkeiten in Vertrieb und Marketing an den Bedürfnissen und den Erwartungen der spezifischen Zielgruppe ausgerichtet und haben vor allem das Ziel, den Kunden zu befähigen, die beste Entscheidung für sich zu treffen. Dies ist der Kern des ENABLE-Vertriebsprozesses, dessen Schritte – Educate, Nurture, Affirm, Brainwash, Leverage, Easy-Buy – auf die jeweiligen Phasen des DECIDE-Entscheidungsprozesses des Kunden abgestimmt sind. Dabei stehen der Kunde und sämtliche Interaktionen mit ihm im Fokus aller Aktivitäten, ob technologischer oder menschlicher Natur. Die relevanten Ressourcen, Kanäle, Inhalte, Touchpoints und Engagement-Formen werden anhand der Anforderungen der jeweiligen Phase definiert.
Auf ihren Webseiten steht, sie seien kundenorientiert. Sie sagen, sie würden die Bedürfnisse ihrer Kunden kennen. Sie sind der festen Überzeugung, dass sie die Erwartungen ihrer Kunden verstehen und sich danach richten … Die bittere Wahrheit ist aber, dass dies selten der Realität entspricht. In Wirklichkeit agieren die meisten Vertriebs- und Marketingstrukturen eher produkt- als nutzenorientiert und primär verkaufs- statt kundenorientiert. Das glauben Sie mir nicht?
Fragen wir doch einen Verkäufer, worin sein Job besteht bzw. was seiner Meinung nach die Aufgaben in seinem Job sind. Die typischen Antworten, die man auf diese Frage erhält, sind:
  • Produkte erklären, das Unternehmensportfolio präsentieren.
  • Kunden beraten, über Neuerscheinungen informieren.
  • Kunden überzeugen, dass unsere Produkte besser sind.
  • Aufrechterhaltung, Pflege und Ausbau von Kundenbeziehungen.
  • Verkaufen von Produkten und Dienstleistungen.
  • Erklären, warum wir besser sind als die Konkurrenz.
  • Kundenprobleme lösen.
  • Neukundenakquise.
Zwischenfrage: Was steht in Ihrer Job-Description bzw. in der Aufgabenbeschreibung eines Vertriebsmitarbeiters in Ihrem Unternehmen?
Gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen einen Vertriebsleiter, welche Fähigkeiten ein Vertriebsmitarbeiter mitbringen sollte. Typische Antworten darauf sind:
  • Überzeugungskraft.
  • Fachwissen, Produktwissen.
  • Extrovertierte Persönlichkeit, redegewandt.
  • Gute Kommunikationsfähigkeiten.
  • Präsentationsfähigkeiten.
  • Verhandlungskompetenz.
  • Argumentationskraft.
  • Durchsetzungsstärke.
  • Beziehungen aufbauen und pflegen.
Zwischenfrage: Anhand welcher Kriterien stellen Sie selbst Vertriebsmitarbeiter ein?
Betrachten wir nochmals diese typischen Antworten genau: Fehlt da nicht etwas? Wo ist der Kunde mit seinen Bedürfnissen? Was davon benötigt denn der Kunde wirklich? Im Prinzip gar nichts davon.
Alles, was auf diesen beiden Listen steht, benötigt der Kunde genau genommen nicht. Er benötigt niemanden, der ihm Produkte erklärt, das eigene Unternehmen präsentiert, ihn über die neuesten Produkterscheinungen informiert. Auch nicht jemanden, der ihm erklärt, dass seine Produkte besser sind und ihn davon überzeugen kann. Nicht einmal jemanden, der seine Probleme löst. Und schon gar nicht jemanden, der ihm etwas verkauft. Was er wirklich benötigt: eine Unterstützung bei seiner Entscheidungsfindung. Er braucht keinen Verkäufer, der versucht, ihn zu akquirieren, und seine Probleme kann er durchaus selbst lösen. Aber eine aufrichtige Unterstützung auf dem Weg zur richtigen Entscheidung nimmt er sehr gerne an.
Aus der Kundenperspektive liegt die wahre Aufgabe des Verkäufers darin, dem Kunden zu helfen, sein Problem in seinem Interesse zu lösen und nicht, ihm ein Produkt zu verkaufen.
Fachwissen, Präsentationsfähigkeiten, Verhandlungskompetenz, Argumentationskraft, Durchsetzungsstärke: Wem dient das alles in Wirklichkeit? Dem Kunden wohl nicht. Zugegebenermaßen sind gute Kommunikationsfähigkeit und emotionale Intelligenz immer hilfreich, aber wirklich benötigen wird sie ein Kunde auch nicht. Was er braucht, ist jemand, der seine Bedürfnisse erkennt; der nachvollziehen kann, wie gravierend sein Problem ist; der versteht, welche Auswirkungen das Problem auf sein Geschäft haben könnte; der ihn auf einen möglichen Irrtum hinweist und jemanden, der ihm hilft, eine Lösung zu kreieren und dabei wertvolle Einsichten für seine individuelle Situation einbringt.
Kundenzentriertheit: ein missverstandenes Konzept
Die Zutat, die fehlt, ist die Kundenzentriertheit. Denn obwohl Unternehmen annehmen, sie seien kundenzentriert, sind ihre Strukturen, Prozesse, Aktivitäten und Mitarbeiter alles andere als das. Laut einer Studie von Capgemini glauben zwar drei Viertel (75 %) der Unternehmen, dass sie kundenorientiert seien, aber nicht einmal ein Drittel (30 %) der Kunden teilen diese Meinung (Capgemini 2017).
Die Ergebnisse dieser Studie sind keine Ausnahme: Zwar ist der überwiegende Teil der Anbieter der festen Überzeugung, dass sie kundenorientiert agieren, Kunden sehen das jedoch ganz anders. Aber ist das verwunderlich? Sehen wir mal kurz von den obengenannten Job-Profilen und -Anforderungen ab. Es beginnt schon bei den Vertriebszielen, bei den Vertriebssteuerungskennzahlen und auch bei den Vertriebsschulungen, wie etwa Verkaufsseminaren, Akquise- oder Verhandlungstrainings. Wann wurde mit Ihrem Vertrieb – nicht Marketing – eine gründliche Analyse der Kundenbedürfnisse durchgeführt? Diese Kenntnisse setzt man gerne voraus. Man geht davon aus, dass Verkäufer sie kennen und eruieren können. Aber dieses Wissen ist nicht selbstverständlich und entsteht selten von allein.
Verkäufer-Sein ist kein Talent, es ist ein Job.
Und ein Job muss erlernt werden. Dabei ist im Vertriebsjob das Wichtigste, Kundenbedürfnisse zu verstehen und erkennen können. Diese Kompetenzen werden jedoch eher selten trainiert, stattdessen Preisverhandlungen, Gesprächsführung und Telefonakquise.
Besteht im Vertrieb nicht ein grundsätzliches Missverständnis hinsichtlich Kundenzentrierung?
Zweifelsohne kann man genügend Beispiele für Unternehmen anbringen, die auch ohne Kundenorientierung geschäftlich erfolgreich sind. Aber egal, wie innovativ und einzigartig ihr Produkt ist und wie günstig ihre Dienstleistungen sind oder um wie viel schneller sie als die Konkurrenz sind, langfristig beruht der Erfolg eines Unternehmens darauf, wie gut es die Bedürfnisse seiner Kunden versteht und erfüllt. Denn auch mit einem großartigen Produkt kann man schnell zu einer Eintagsfliege in der Branchengeschichte werden. Auch dafür gibt es zahlreiche Beispiele.
Wenn ein Unternehmen von etwas anderem angetrieben wird als von den Interessen seiner Kunden, könnte dies langfristig negative Folgen auf das Unternehmen haben. Letztendlich ist es im Geschäftsumfeld egal, was wir tun, solange wir das, was wir tun, in Verbindung mit den Bedürfnissen unserer Kunden bringen.
Jedes Unternehmen – ausnahmslos – lebt nur und ausschließlich von seinen Kunden.
Kundenzentrierung sollte die Grundlage der Unternehmensstrategie sein. Denn Kundenzentrierung ist keine Aufgabe, die der Marketing- oder der Vertriebsabteilung aufgetragen oder den Vertriebsmitarbeitern allein überlassen werden kann. Die Unternehmensführung muss Kundenorientierung zur wichtigsten Tätigkeit ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Die Realität ist aber weit von diesem Anspruch entfernt. Wann hat sich Ihr Unternehmen zuletzt mit diesem Thema beschäftigt? Wie oft steht das Thema auf der Agenda, sagen wir, innerhalb eines Monats?
Ein Unternehmen muss ein Umfeld schaffen, das es den Mitarbeitern ermöglicht, ihre Kunden besser zu kennen, ihre Bedürfnisse besser zu verstehen und darauf einzugehen. Wie kann denn ein Vertrieb wirklich gut funktionieren, wenn er die eigenen Kunden nicht versteht? Anstatt Produktschulungen zu organisieren, sollten Workshops stattfinden, in denen man erarbeitet, welche potenziellen Ergebnisse die Kunden mit diesen Produkten erzielen können. Nicht die Produkte oder ihr Verkauf, sondern die Kunden mit ihren Bedürfnissen und Erwartungen sollten im Mittelpunkt stehen. Und noch mehr: Die Schaffung einer hochwertigen Kundenerfahrung sollte zur täglichen Aufgabe aller Abteilungen sein, nicht nur des Vertriebs.
Nicht zuletzt kann man – und sollte man auch – Kunden in die Unternehmenspläne und die Strategie einbeziehen. Schon immer war dies auf lange Sicht der bessere Weg zum anhaltenden Unternehmenserfolg, aber unter digitalen Bedienungen wird es zur Notwendigkeit.
Die – nicht mehr so – neue Realität
Die Umstände haben sich gravierend verändert: Kunden übernehmen die Kontrolle über die Verkäufer-Käufer-Beziehung. Wie die zahlreichen zitierten Studien seit einigen Jahren immer wieder belegen: Das PHANTOM ist eine – neue – Realität. Aber die Realität im Vertrieb ist leider immer noch dieselbe wie vor 20 Jahren. In ihrem Zentrum stehen immer noch der Verkauf, diverse Methoden der Verkaufsförderung und ausgeklügelte Verkaufstechniken. Ein fundiertes Verständnis über Kunden und ihre Bedürfnisse ist in Vertriebskreisen immer noch ein rares Gut, trotz gegenteiliger Meinung und Überzeugung der Unternehmen.
Und bevor Sie in Gedanken widersprechen, darf ich noch eine Studie zitieren (Salesforce 2020):
  • 57 % der B2B-Kunden sagen, dass Vertriebsmitarbeiter oft nicht ausreichende Kenntnisse über ihr Geschäft besitzen.
  • 63 % der B2B-Kunden sagen, dass die meisten Verkaufsgespräche sich auf Produkte und nicht auf Lösungen konzentrieren.
  • 73 % B2B-Kunden sagen, dass sich die meisten Gespräche mit den Verkäufern sehr verkaufsorientiert anfühlen.
Wie wir sehen, die überwiegende Mehrheit der Kunden sagt aus, dass der Vertrieb ihr Geschäft nicht versteht und sich nur auf den Verkauf der eigenen Produkte konzentriert. „Was denn sonst?“. könnte man nun entgegenhalten. „Am Ende des Tages muss der Vertrieb die Produkte des Unternehmens verkaufen.“ Ok, grundsätzlich eine berechtigte Erwartung. Das Problem ist aber: Kunden wollen sich per se nichts verkaufen lassen.
Es besteht eine eindeutige Diskrepanz zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Realität in den Vertriebsorganisationen, was die Kundenzentriertheit betrifft. Als Folge daraus entsteht eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Kunden und den Ansätzen der Unternehmen sowie auch zwischen den wahren Bedürfnissen der Kunden und den Angeboten der Unternehmen. Diese Diskrepanz ist das größte Problem im Vertrieb, das es zu lösen gilt.
Vertrieb jenseits des Verkaufens
Erlauben Sie mir bitte, Sie für einen kurzen Moment in eine Fantasiewelt mitzunehmen: Was wäre, wenn der Vertrieb
  • versuchen würde, mehr Kundenbedürfnisse zu identifizieren und zu erfüllen, statt mehr zu verkaufen?
  • Kunden helfen würde, bessere Geschäftsergebnisse zu erreichen, statt Beziehungen zu pflegen?
  • für seine Kunden Mehrwert generieren würde, statt Mehrwert zu kommunizieren?
  • sein Leistungsportfolio in Einklang mit den Kundenbedürfnissen bringen würde, statt es nur zu präsentieren?
  • seinen Kunden für ihre spezifische Situation wichtige Einsichten mitgeben würde, statt über Produkte zu beraten?
  • seinen Kunden helfen würde zu verstehen, welches Ausmaß die Auswirkungen einer schlechten oder gar keiner Entscheidung auf ihre Situation hätten, statt hart zu verhandeln und die Gültigkeit der Angebote zeitlich zu begrenzen?
  • dem Kunden darstellen würde, welchen positiven Einfluss auf sein Geschäft die Zusammenarbeit haben könnte, statt nur zu überzeugen?
  • zu verstehen versuchen würde, was der Kunde wirklich erreichen möchte und ihn auf seine möglichen Fehlannahmen hinweisen würde, statt Angebote auf Anfragen zu schreiben?
  • aufhören würde zu verkaufen? Und stattdessen beginnen würde, Kunden zu befähigen, für sich beste Entscheidungen zu treffen?
Würden sich dann die Produkte und die Dienstleistungen nicht wie von allein verkaufen? Ich behaupte es nicht, ich verspreche es sogar.
Zeitgemäßer Vertrieb ist die Verbindung von Produkten und Dienstleistungen eines Unternehmens mit den Problemen und den Bedürfnissen seiner Kunden. Darunter fallen alle Aktivitäten und Tätigkeiten einer Organisation, die für die erfolgreiche Vermarktung und die Distribution des Leistungsportfolios erforderlich sind.
Den Vertrieb neu erfinden
Viele Unternehmen sind sich der veränderten Dynamik der letzten Jahre im Einkaufsverhalten ihrer Kunden schmerzlich bewusst: zuerst im Konsumentenbereich und nun auch im Geschäftsbereich. So versuchen sie, mit dem Modellieren einer neuen Customer Journey auf diese Änderungen einzugehen. Leider fehlt bei den meisten dieser Initiativen die Kundenzentrierung, denn sie werden meist aus der eigenen Unternehmensperspektive betrachtet. Das Ergebnis ist eher das, was der Anbieter sich vorstellt oder hofft, dass der Kunde macht, oder das, was der Kunde seiner Ansicht nach tun soll, als das, was auf der Kundenseite tatsächlich geschieht.
Im Endeffekt definiert eine Customer Journey den Weg, dem ein Kunde folgen soll. Wie wir wissen, interessiert sich das PHANTOM allerdings selten dafür. Anstatt den Kunden in eigene ausgedachte Prozesse zu zwingen, sollte der Vertrieb die eigenen Prozesse an dem Verhalten und den Erwartungen der Kunden ausrichten. Das wäre wahre Kundenorientierung.
Während die digitale Welt die Wege der Entscheidung und des Kaufs auf der Kundenseite getrennt hat, konzentrieren sich immer noch viele Anbieter ausschließlich auf den Verkaufsprozess. Der Vertrieb muss den Entwicklungen auf der Kundenseite folgen und ebenfalls getrennte Wege gehen und den Entscheidungsprozess des Kunden in den Vordergrund stellen, statt den reinen Kaufprozess zu betrachten.
Der ideale Vertriebsprozess spiegelt den Entscheidungsprozess des Kunden wider.
Das Ziel in diesem Vertriebsprozess ist es nicht zu verkaufen, sondern den Kunden bei seiner Entscheidungsfindung zu unterstützen. Erst im letzten Schritt, wenn der Kunde effektiv einen Kauf tätigt, wird man zum effektiven Verkauf übergehen. Doch auch hier sollte der Fokus weniger auf den Verkauf gelegt werden, sondern primär auf die Erleichterung des Kaufvorgangs.
Die Idee ist simpel: Kunden folgen dem DECIDE-Prozess, infolgedessen soll der Vertrieb sie bei ihren Entscheidungen begleiten und sie befähigen, mithilfe des ENABLE-Prozesses die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen, siehe Abb. 6.1.
Die jeweiligen Ebenen im ENABLE-Vertriebsprozess spiegeln eins zu eins die jeweiligen Ebenen im DECIDE- Beschaffungsprozess wider:
DECIDE
→ ENABLE
Discover
→ Educate
Explore
→ Nurture
Consider
→ Affirm
Interact
→ Brainwash
Determine
→ Leverage
Execute
→ Easy-buy
Im Konkreten bedeutet das, dass:
  • Wenn der Kunde erst den Bedarf oder das Problem entdeckt, sollte der Vertrieb ihn in Bezug auf dieses spezifische Thema aufmerksam machen: bilden.
  • Wenn der Kunde über das Problem und die mögliche Lösung recherchiert, sollte der Vertrieb ihn mit relevanten Informationen und Einsichten versorgen: nähren.
  • Wenn der Kunde die potenzielle Lösung in Betracht zieht und sie erwägt, sollte der Vertrieb ihn auf dem Weg zur Lösung bekräftigen: bestätigen.
  • Wenn der Kunde die Optionen evaluiert und mit Lieferanten interagiert, sollte der Vertrieb die bestehenden Annahmen hinterfragen, mit dem Ziel, ihm wertvolle Erkenntnisse zu bieten und auf mögliche Fehler hinzuweisen: aufrütteln.
  • Wenn der Kunde sein Vorhaben final evaluiert und über den Partner der Wahl bestimmt, sollte der Vertrieb die Entscheidungslast mit einer Handlungsempfehlung minimieren und mit einer Aufklärung über die Notwendigkeit der Entscheidung positiv beeinflussen: bekräftigen.
  • Wenn der Kunde bereit ist zu kaufen, sollte der Vertrieb den Kauf und die Umsetzung möglichst einfach gestalten: erleichtern.
In seinem Kern unterstützt der ENABLE-Vertriebsprozess die Entscheidung des Kunden, statt „einfach“ zu verkaufen, siehe Abb. 6.2. Er führt den Kunden zu der, für den Kunden richtigen Entscheidung, die erfahrungsgemäß auch in einem Kauf resultiert. „Wirklich, seine Entscheidung?“, könnten Sie sich fragen. Richtig. Sofern im Prozess alles richtiggemacht wurde, wird die finale Entscheidung für den Kunden richtig sein – nicht für Sie. Denn mit einer beeinflussten und „schlechten“ Entscheidung für Sie und Ihr Produkt wird der Kunde enttäuscht sein, und Sie werden dafür sicherlich die Rechnung kassieren: Wenn er den Kauf nicht rückgängig macht, dann verschwindet der Kunde bei der nächstbesten Gelegenheit, und statt Sie zu empfehlen, wird er womöglich Andere vehement davon abhalten wollen, denselben Fehler zu begehen. Wenn Sie dem Kunden von einem schlechten Kauf abraten, wird Ihnen der Kunde dafür dankbar sein und das nie vergessen und sich irgendwann dafür bedanken – in einem anderen Projekt oder auch mit einer Empfehlung. Auf lange Sicht ist dies der einzig richtige Weg.
Kunden von einem Kauf abraten? Wir sind doch im Vertrieb, wir müssen verkaufen, wir müssen die Vorgaben erreichen?! Wir sind doch kein gemeinnütziger Verein?! Solche Gedanken mögen aufkommen, und sie sind durchaus nachvollziehbar, wenn man die Ziele oder die Provision nicht erreicht und womöglich die Miete nicht bezahlen kann. Es ist verständlich, dass Menschen aus existenziellen Gründen Überredungs- und Überzeugungskunst bei Kunden leisten. Auf lange Sicht wird es für Unternehmen aber schwierig, mit solchen Strategien eine loyale Kundenbasis aufzubauen.
Kurzfristiges Denken als Kernursache einer schlechten Vertriebsleistung
Leider sind viele Vertriebsorganisationen immer noch zu kurzfristig orientiert, was auf die Unternehmensstrategie und die Einstellung der Entscheider zurückzuführen ist. Viele Vertriebsorganisationen leben von einem Quartalsende zum nächsten, und viele Führungsebenen treffen Entscheidungen auf der Grundlage ihrer Jahresbonifikation. Nach mir die Sintflut, oder doch nicht? Viele verhalten sich unbewusst so. Aus Unwissen, weil sie es nicht anders kennen und diese Haltung in der bestehenden Struktur gar nicht hinterfragt werden kann.
Dieses kurzfristige Denken ist nicht selten die Hauptursache für eine schlechte Performance im Vertrieb, und auf Dauer lässt sich eine hohe Vertriebsleistung mit solch einer Einstellung nicht aufrechterhalten. Das größte Problem dabei: Diese Denkweise hat dazu geführt, dass der Verkäuferjob verpönt ist. Der Beruf hat einen schlechten Beigeschmack. Beim Begriff Top-Verkäufer denkt man an den berüchtigten Verkäufer, der einem alles andreht. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind keine erwünschten Eigenschaften. Psychologische Tricks, geschickte Gesprächsführung, irreleitende Aussagen, versteckte Fakten, suggestive Fragestellungen: Das alles dient der Kundenmanipulation und ist nicht selten Teil von Verkaufsschulungen.
Wollen wir den Vertrieb rehabilitieren?
Wer will schon Verkäufer werden? Der Beruf wird selten bewusst gewählt, vor allem Frauen haben eine große Abneigung gegenüber diesem Berufsbild. Wie viele Frauen im Außendienst, Key Account Management oder gar in der Vertriebsführung kennen Sie? Sie sind eher im Hintergrund, im Administrationsbereich zu finden und erledigen den „Papierkram“ der Verkäufer an der Front. Nicht selten habe ich es erlebt, dass Menschen eine Anregung, sich mehr im Bereich des direkten Vertriebs zu entwickeln, vehement ablehnen und manchmal schon fast als Beleidigung empfinden. Sogar einen Auftrag für Präsentationscoaching habe ich mal verloren, weil ich argumentierte, dass es bei einer Präsentation eigentlich immer darum geht, etwas zu „verkaufen“: egal, ob es sich um ein Produkt oder selbst eine Idee handelt. Aber die Dame wollte keinesfalls in Verbindung mit dem Verkauf gebracht werden. „Ich präsentiere, ich verkaufe nicht“, war ihre Überzeugung und davon war sie nicht abzubringen.
Egal, was ein Unternehmen macht, ohne Vertrieb kann es nicht existieren. Denn am Ende muss jedes Unternehmertum für seine Produkte und Dienstleistungen Kunden gewinnen, alles andere produziert nur Kosten. Wie ist es denn so weit gekommen, dass die wichtigste Aufgabe eines Unternehmens zur unehrenhaftesten überhaupt geworden ist?
Wir wissen es alle: Der Vertrieb hat einen schlechten Ruf. Wollen wir nicht alle gemeinsam daran arbeiten, dass sich das ändert? Irreführende Vertriebstaktiken und die alten Methoden, Ansätze und auch Einstellungen im Vertrieb führen nur selten zum langfristigen Erfolg und funktionieren in der modernen digitalen Welt nicht mehr: Das PHANTOM, wie wir wissen, lässt sich mit herkömmlichen Vertriebsmethoden nicht erreichen. Eher im Gegenteil, es wird dadurch in die Flucht geschlagen. Dagegen lässt es sich mit dem ENABLE-Ansatz leicht gewinnen. Denn im Kern des ENABLE-Ansatzes steht nicht der Verkaufsvorgang, sondern die Begleitung des Kunden bei seiner Entscheidung, mit der Absicht, seine Bedürfnisse bestmöglich zu erfüllen.
Kunden zu guten Entscheidungen befähigen
Ziel des ENABLE-Prozesses ist es, die Entscheidung für den Kunden zu erleichtern. Denn je schneller er sich entscheidet und je überzeugter er von seiner Entscheidung ist, desto schneller wird er auch kaufen. Und je besser Sie ihn dabei unterstützt haben, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er bei Ihnen kauft. Dazu müssen wir dem Kunden über seinen gesamten Entscheidungsprozess und auf jeder Ebene seiner Entscheidung die notwendige Unterstützung bieten, wozu unter anderem Folgendes zählt:
  • Für seine Entscheidung relevante Inhalte
  • Werkzeuge und interaktive Tools
  • Berechnungen, Analysen
  • Zugang zu Systemen
  • Anleitungen
  • Neutrale Beratung
  • Use Cases
Neben all dem benötigt der Kunde vor allem für seine Entscheidung wichtige Erkenntnisse. Diese können nicht nur die Recherchezeit verkürzen, sondern die Kaufentscheidung beschleunigen und höchstwahrscheinlich sogar zu Ihren Gunsten beeinflussen. Dabei wollen wir über die Content- und Inbound-Marketing-Ansätze, die in den letzten Jahren einen Hype erlebten, hinausgehen. Denn:
  • Das Content-Marketing verfolgt primär den Ansatz der Bereitstellung von Informationen. Daran mangelt es unserem PHANTOM aber nicht mehr. Im digitalen Raum gibt es mehr als genug hochwertige Informationen, auf die Kunden zugreifen können. Woran es wirklich noch mangelt: an Einsichten für die spezifische Situation der Kunden, die ihnen die Gewinnung von wichtigen Erkenntnissen ermöglichen.
  • Das Inbound-Marketing zielt darauf ab, von potenziellen Kunden gefunden zu werden. Auch das reicht heute nicht mehr aus. Das PHANTOM ist genauso schnell weg, wie es aufgetaucht ist, wenn es nicht schnell genug für sich relevante Inhalte findet. Der klassische Ansatz des Inbound-Marketings geht davon aus, dass der Kunde weiß, was er will, und das Unternehmen versucht, sich unter den vielen anderen Anbietern zu positionieren: Ich bin der Beste. Dass der Kunde vielleicht noch gar nicht weiß, was er will, bedenken nur wenige Anbieter. Die meisten Marketinginitiativen fokussieren sich darauf, das Unternehmen und seine Produkte ins rechte Licht zu rücken, insbesondere auf ihren Webseiten. Letztendlich fokussieren sich die Bemühungen auf den allerletzten Schritt im Entscheidungsprozess des Kunden – Kauf – und übersehen alles, was davor geschieht.
    Zweifelsohne gibt es im Vertrieb professionelle Beratung, die Kunden helfen kann, eine richtige Entscheidung zu treffen. Aber was, wenn der Kunde gar nicht so weit kommt? Wenn er schon beim ersten Besuch auf Ihrer Webseite weg ist? Ich habe eine gut begründete Vermutung, dass dies häufiger geschieht, als es uns lieb ist. Gerne können Sie aber in den Google Analytics die Absprungrate Ihrer Webseite überprüfen.
Beide Ansätze, sowohl Content- auch als Inbound-Marketing, sind sicherlich ein guter Anfang, um sich im digitalen Raum zu positionieren. Sie sollten aber optimiert werden, indem man sie auf relevante Inhalte ausrichtet.
Bessere Entscheidungen durch weniger Information
Die große Mehrheit der Vertriebs- und Marketingorganisationen ist der Meinung, dass mehr Informationen dem Kunden helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. In ihrem Bestreben, auf Kundenwünsche flexibel zu reagieren, nehmen sie an, dass es „extrem wichtig“ sei, Kunden beim Abwägen unterschiedlicher Alternativen zu helfen. Die Studie von CEB „The new sales imperative“ (HBR 2017) stellte fest:
  • 86 % der Vertriebsprofis stimmen der Aussage zu, dass es wichtig ist, „dem Kunden zu helfen, alle möglichen Optionen und Alternativen zu erwägen“.
  • 79 % stimmen der Aussage zu, dass „ich während eines Verkaufsvorgangs sehr flexibel auf Kundenbedürfnisse und -meinungen eingehe, auch wenn ich nicht unbedingt mit ihrer Richtung einverstanden bin.“
  • 68 % stimmen der Aussage zu, dass „mehr Informationen dem Kunden im Allgemeinen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen“.
Dieser „flexible und reaktionsfreudige“ Verkaufsansatz hat aber den gegenteiligen Effekt. Kunden sagen aus, dass sich dadurch die Wahrscheinlichkeit verringert (um 18 %), eine Kaufentscheidung leicht zu treffen. Zudem erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Kauf bereut wird, um 50 % (HBR 2017). Die Verkäufer bemühen sich mehr denn je, auf ihre Kunden einzugehen und ihnen vielfältige Informationen zur Verfügung zu stellen, wodurch aber Kunden in ihren Entscheidungen eher verwirrt als unterstützt werden. Denn immer mehr Informationen und Optionen machen die Dinge nur noch schwieriger.
Das PHANTOM hat zwar Zugang zu Informationen, das bedeutet aber nicht, dass es dadurch besser entscheiden kann. Wir produzieren heutzutage so viele digitale Informationen, dass Kunden nicht mehr wissen, wann und wo sie sie effektiv abrufen können und welche wirklich relevant sind.
Anstatt Kunden mit Informationen zu erschlagen und sie dadurch in ihren Entscheidungsprozessen zu lähmen, muss der Vertrieb für die spezifische Situation des einzelnen Kunden und für seine Entscheidung relevante Inhalte bieten: zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Phase des Entscheidungsprozesses, auf dem richtigen Weg und auf die Bedürfnisse der jeweiligen Rolle im Buying Center abgestimmt.
Ziel ist es, zu viele – unnötige – Informationen zu vermeiden und nur relevante Inhalte zur Verfügung zu stellen. Aber was sind relevante Inhalte und wo liegt der Unterschied zwischen einer Information und einem relevanten Inhalt?
Relevanz durch 5E-Inhalte erreichen
Relevante Inhalte unterscheiden sich von den herkömmlichen Marketinginhalten und Produktinformationen. Ihre Relevanz wird dadurch definiert, dass sie Kunden helfen,
  • Probleme zu entdecken, von denen sie nicht wussten, dass sie sie haben,
  • wichtige Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie kritisch diese Probleme für sie sein könnten,
  • Lösungsansätze im Kontext der eigenen Situation zu erkennen,
  • Möglichkeiten zu entdecken, die ihnen gänzlich neu sind,
  • Für ihre Entscheidung wichtige Einsichten zu generieren.
Der Unterschied liegt darin, dass traditionelle Marketing- und Vertriebsaussagen:
  • primär Anbieter- und Produktzentriert sind,
  • eine breite Zielgruppe adressieren,
  • versuchen, einen vorhandenen Bedarf zu erfüllen,
  • sich primär auf den Verkauf und die Werbung fokussieren.
Relevante Inhalte dagegen konzentrieren sich darauf, eine Hilfestellung im Prozess der Kundenentscheidung zu leisten. Sie sind anbieterneutral und stellen die jeweilige Information des Anbieters in den spezifischen Kundenkontext, siehe Tab. 6.1.
Tab. 6.1
Traditionelle Informationen versus relevante Inhalte
Traditionelle Marketing- & Vertriebskommunikation
Relevante Inhalte
Stellt die eigenen Produkte und Leistungen in den Vordergrund: Funktionalitäten, Beschreibungen, Alleinstellungsmerkmale.
Stellen den Nutzen für den Kunden in den Vordergrund. Stellen klar, welche konkreten Ergebnisse man durch den Einsatz der Lösung erzielen kann.
Adressiert eine große Zielgruppe mit allgemeinen Informationen.
Setzen die Information in den Kontext des Kunden: Branche, Anwendung, Bedürfnisse etc.
Versucht, schon vorhandene Bedürfnisse zu decken.
Bringen neue Einsichten, generieren neue Bedürfnisse.
Versucht, Dringlichkeit mit Sonderangeboten zu generieren.
Generieren Dringlichkeit durch die Darstellung der Auswirkungen der bestehenden Probleme.
Bietet möglichst viel Information, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass der Kunde etwas Nützliches darin findet.
Sind ausselektiert und an die spezifische Situation des Kunden angepasst.
Bietet eine große Auswahl an Optionen an.
Stellen wenige konkrete Optionen für unterschiedliche Kaufsituationen zur Verfügung.
Konzentriert sich auf den Verkauf und die Bewerbung der eigenen Produkte.
Stellen allgemeingültige Entscheidungshilfen zur Verfügung.
Ist anbieterspezifisch.
Sind anbieterneutral.
Hilft, ein spezielles Produkt aus dem Portfolio auszusuchen oder zu konfigurieren.
Helfen, eine richtige – neutrale – Entscheidung zu treffen.
Ist anhand des Leistungsportfolios geordnet.
Sind entlang des Schrittes im Entscheidungsprozess des Kunden organisiert.
Der Zweck von relevanten Informationen ist nicht zu verwirren, sondern Klarheit zu schaffen – Klarheit nicht in Bezug auf das Produkt, sondern in Bezug auf die Entscheidung des Kunden.
Produktinformationen, Anleitungen, Unternehmensinformationen, Testimonials, Image-Videos fallen nicht darunter, denn diese Art von Informationen sind produkt- und anbieterzentriert und stellen den Verkauf in den Fokus. Der Kunde ist aber auf der Suche nach Einsichten, Erfahrungen, Einblicken, Handlungsempfehlungen, woraus er für seine eigene Entscheidung wichtige Erkenntnisse gewinnen kann. Anstatt es dem Kunden selbst zu überlassen, sich mit dem Berg von irrelevanten Informationen zurechtzufinden, bieten wir ihm doch das an, was ihm hilft, neue Perspektiven für seine Entscheidung zu gewinnen, siehe Abb. 6.3.
Im Gegensatz zu traditionellem Marketingmaterialien bieten die E-Inhalte einen Mehrwert an sich, nicht nur in Bezug auf den spezifischen Kauf. Folglich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kunden Ihre Webseite mehrfach besuchen und dort länger verweilen. Womit die Relevanz für die Suchmaschinen steigt, was wiederum weitere potenzielle Kunden anzieht und im Endeffekt dazu führt, dass Kunden bei Ihnen kaufen. Denn wie wir schon gesehen haben, Kunden kaufen gerne dort, wo sie die relevantesten Inhalte für sich finden.
Abgesehen davon sind die E-Inhalte ein perfektes Instrument, um die eigene Glaubwürdigkeit zu steigern und Kompetenz zu beweisen, womit auch mehr Vertrauen auf der Kundenseite aufgebaut wird, was ebenfalls in höheren Umsätzen resultiert.
Die E-Inhalte bieten die größte und beste Möglichkeit, sich im digitalen Raum zu differenzieren.
Indem Sie genau dasselbe machen, was die Konkurrenz auch macht, nur eben für die eigenen Produkte, unterscheiden Sie sich in den Augen des Kunden gar nicht. Und je mehr Anbieter und je mehr Information, desto schwieriger für den Kunden, eine Entscheidung zu treffen. Weniger ist mehr, wie wir wissen.
Weniger Information in mehr Kontext
Wir erreichen viel mehr, indem wir wenige und relevante Inhalte in einem engeren Kontext bieten. Die Angst, durch das starke Fokussieren potenzielle Kunden auszulassen, ist vermutlich in jeder Zielgruppendefinition zu finden. Leider erreicht man dadurch nur den gegenteiligen Effekt: Je breiter die Zielgruppe und je allgemeiner das Adressieren, desto geringer die Wirksamkeit der Kundenansprache. Insbesondere im digitalen Raum müssen die Informationen auf die jeweilige eng definierte Zielgruppe so spezifisch wie möglich abgestimmt sein. Was natürlich einen sehr großen Aufwand nach sich zieht: sowohl bei der Erstellung der relevanten Inhalte als auch bei ihrer gezielten Platzierung auf dem Entscheidungsweg des Kunden.
Die Relevanz ist an sich kein neues Konzept. Schon länger arbeiten Marketingabteilungen mit Landingpages und versuchen, Informationen zu einem Produkt gezielt an einem Ort zusammenzustellen. Leider sind sie immer noch oft rein produkt- und nicht entscheidungszentriert. Es gibt so viele Produktkonfiguratoren, warum gibt es denn keine Entscheidungskonfiguratoren? Abgesehen davon sind sie selten in den individuellen Kontext des Kunden bzw. Webseitenbesuchers eingebunden. Das ist natürlich die Königsdisziplin im Marketing, die am schwierigsten zu meistern ist, die aber die besten Chancen eröffnet. Denn auch die relevantesten E-Inhalte werden ohne jeglichen Kontext in der individuellen Situation des Kunden irrelevant.
Unternehmen müssen ihre eigene Position im Kontext ihrer Kunden verstehen und ihre Marketing- und Vertriebskommunikation in diesen – engen – Kontext setzen.
Das allein kann schon zu einer fast nicht zu bewältigenden Aufgabe werden, wenn ein Unternehmen mehrere Zielgruppen mit mehreren Produkten adressiert. Hinzu kommt noch ein weiterer erschwerender Faktor: die Relevanz für jeden einzelnen Entscheider im Buying Center des Kunden zu schaffen. Und je mehr involvierte Rollen (Finanz, IT, Einkauf, Geschäftsleitung etc.), desto unmöglicher scheint diese Aufgabe zu sein. Aber nur, weil es schwierig ist, dürfen wir nicht aufgeben. Die Aufgabe besteht darin zu erkennen, wann, für wen und über welche Kanäle welche Inhalte bereitgestellt werden sollten. Denn nicht alle Beteiligten gehen dieselben Wege in ihren Entscheidungen. Allerdings ist diese Herausforderung durch den intelligenten Einsatz von Technologie zu bewältigen, wie etwa mit Account Based Marketing Tools.
Ziel ist es, den Entscheidungsprozess zu erleichtern. Je komplexer die Entscheidung und je mehr Involvierte, desto mehr Erleichterung muss geboten werden. Dazu bedarf es eines kompletten Umdenkens der Vertriebs- und Marketingansätze. Und auch die Einstellung der Mitarbeiter selbst bedarf einer Neujustierung, beginnend mit der Erkenntnis, dass sie nicht für den Verkauf zuständig sind. Ihre Aufgabe verlagert sich vom Verkauf hin zur Unterstützung von Kunden in ihren Entscheidungsprozessen.
Relevanz und Kontext für die richtige Person im richtigen Moment und auf dem richtigen Weg schaffen
Unternehmen müssen relevante, aussagekräftige Inhalte dann anbieten, wenn der Kunde sie braucht, und zwar zu seinen Bedingungen und über seine Kanäle – nicht dann, wenn und wie das Unternehmen es für angemessen hält. Wir benötigen eine individuelle Strategie, um für das gesamte Buying Center relevante und personalisierte Inhalte im Kundenkontext auf den richtigen Channels zum richtigen Zeitpunkt bereitzustellen, siehe Abb. 6.4.
Die Kernaufgabe des zeitgemäßen und zukünftigen Vertriebs besteht darin, die Entscheidungsreise des Kunden durch adaptive, intelligente und personalisierte Erlebnisse zu verbessern und zu unterstützen. Womit wir nicht allein gelassen werden, denn die moderne Technologie, insbesondere die Künstliche Intelligenz, bietet viele Möglichkeiten, um diese schwierige Aufgabe zu bewältigen.
Ziel ist es, die Ansätze in Vertrieb und Marketing auf die Bedürfnisse des PHANTOMs in jeder Phase seines DECIDE-Prozesses abzustimmen und sich dadurch Zugang zum gesamten Entscheidungsvorgang zu verschaffen, statt zu warten, bis der Kunde in Kontakt tritt, oder ihn mit veralteten Methoden, wie Werbung und Kaltakquise, in die Flucht zu schlagen. Um dies zu erreichen, muss jeder Schritt des ENABLE-Prozesses gezielt strukturiert und aufgebaut werden.
Hinweis
Bei der nachfolgenden Darstellung des ENABLE-Prozesses werden vermehrt die B2B-Besonderheiten in den Vordergrund gestellt. Dies aus dem einfachen Grund, weil im B2C-Markt schon ein gewisses Bewusstsein über die stattfindenden Veränderungen herrscht, im B2B-Bereich dagegen ein in meinen Augen noch größerer Aufklärungsbedarf herrscht. Der Prozess ist allerdings für beide Bereiche gleichermaßen relevant und auch aus der Business2Person-Perspektive nicht mehr trennbar.

6.1 Educate

Die Educate-Phase spiegelt die Discover-Phase des Kunden wider, in der sich der Kunde des Problems oder seiner Auswirkungen noch gar nicht bewusst ist bzw. noch keine Kenntnis über eine potenzielle Verbesserung der eigenen Situation besitzt:
  • Entweder er weiß nicht, dass er ein Problem hat.
  • Oder er kennt es, sieht aber noch keinen Handlungsbedarf bzw. hat noch nicht erkannt, wie kritisch das Problem ist und welche negativen Auswirkungen es in sich birgt.
  • Oder er kennt die neuen – besseren – Möglichkeiten nicht, um seine Situation zu verbessern.
Der Kunde hat noch keinen Bedarf, er muss diesen erst entdecken und entwickeln. Infolgedessen müssen wir dem Kunden helfen, seinen möglichen Bedarf zu erkennen.

6.1.1 Ziel: Problem erkennen

Alle Aktivitäten in dieser Phase zielen darauf ab, den Kunden aufzuklären und ihn auf seine potenziellen Bedürfnisse aufmerksam machen. Womit der Wunsch ausgelöst werden soll, sich mit dem Thema vertiefend zu beschäftigen. Im Grunde wollen wir den Kunden von der „Ahnungslos“-Ebene auf die „Aha?!“-Ebene bringen (siehe Abschn. 5.​1 und 5.​3), sodass er sich auf die aktive Recherche zu diesem Thema begibt. Er erkennt, dass er ein Problem hat, und möchte mehr darüber erfahren, womit die Basis für die weitere Bedarfsentwicklung geschaffen wird.

6.1.2 Missverständnis-Potenzial: Keine Produktaufklärung

Man könnte leicht annehmen, dass mit „Educate“ gemeint wäre, den Kunden über die Existenz der eigenen Produkte oder Dienstleistungen zu informieren. Auch wenn dies manchmal in einem Zug passiert, insbesondere im Konsumentenbereich, geht es hier nicht um die Aufklärung des Kunden über Ihre Produkte und Dienstleistungen, sondern um die Aufklärung über die damit verbundenen Probleme und den potenziellen Nutzen der Problembehebung.
Unternehmen betreiben selten Aufklärungsarbeit zu den Problemen, die von ihren Produkten gelöst werden, zu ihren negativen Auswirkungen auf die Situation des Kunden und was ein ungeklärtes Problem im Endeffekt bedeuten könnte. Stattdessen fokussieren sie sich auf die Eigenwerbung, für die sich ein Kunde aber selten interessiert. Warum sollte er darauf reagieren, wenn er noch nicht weiß, wozu er das braucht?

6.1.3 Notwendiges Verständnis: Kundenbranchenspezifische Situation

Für die Aufklärungsarbeit ist tiefes Verständnis der Situation der Kunden und ihrer Bedürfnisse erforderlich. Was bewegt sie, wie wollen sie wahrgenommen werden, was ist ihnen wichtig, welche Ziele streben sie an? Im Geschäftsbereich ist hierfür fundiertes Wissen über das Kundengeschäft notwendig. Welche Trends gibt es in der Branche Ihrer Kunden? Unter welchem Druck stehen sie? Welche spezifischen Probleme müssen sie lösen? Welche – vielleicht unentdeckten – Gefahren lauern?
Wir wollen die möglichen unentdeckten Probleme und unerkannten Bedrohungen aufzeigen sowie ihre Auswirkungen auf die Situation des Kunden. Dafür muss dieses Verständnis in der eigenen Organisation – Vertrieb und Marketing – aufgebaut sein, zusätzlich zu Produkt-Know-how und Fachwissen. Wenn Vertrieb und Marketing über neue Produkte aufklären, müssen sie diese immer in Verbindung zu einem Kundenproblem oder einer Verbesserungsmöglichkeit bringen, denn nur so fühlen sich Kunden tatsächlich angesprochen. Ohne tiefes Verständnis der Kundensituation wird das nicht gelingen.
Die Vertriebs- und Marketingmitarbeiter müssen über ein umfassendes Verständnis für die spezifische Situation des Kunden verfügen: kundenbranchenspezifisch.
Es reicht nicht nur, sich in der eigenen Branche und mit dem eigenen Produkt auszukennen, es ist sogar viel wichtiger, das Geschäft des Kunden zu verstehen, um die Verbindung zu den eigenen Leistungen herstellen zu können. Dazu muss man sagen, dass es sich um die Situation in Bezug auf das Geschäftsfeld des eigenen Unternehmens handelt, die in manchen Fällen sehr spezifisch und in manchen von allgemeiner Natur sein kann. Man muss zu den wirklichen Ursachen und zum Auslöser durchdringen, und das geht nur, wenn der Vertrieb versteht, was seine Kunden bewegt. Im Marketingbereich ist es vielleicht sogar noch „schlimmer“, denn für gewöhnlich herrscht in den Marketingabteilungen ein Mangel an Markt- und Kundenverständnis. Traditionelles Marketing konzentriert sich eher auf die Form und weniger auf den Inhalt und mehr auf die Bewerbung von Produkten als auf Inhalte in Bezug zur Entscheidung selbst.
In den beiden Bereichen – Marketing und Vertrieb – ist heutzutage ein fundamentales Verständnis des Marktes, der Kunden, ihrer Situation und ihrer Probleme notwendig. Abgesehen davon lassen sich die Vertriebs- und Marketingaufgaben nur noch schwer trennen, siehe mehr dazu in „Digitale Transformation im Vertrieb“ (Rainsberger 2021a).

6.1.4 Touchpoints: Digital, indirekt, passiv

Auch wenn es im ersten Moment naheliegend wäre zu glauben, dass die eigene Webseite als möglicher Touchpoint dient, ist dies in Bezug auf die Educate-Phase eine Fehlannahme. Denn der Kunde ist noch gar nicht auf der aktiven Suche nach Antworten oder Lösungen. Er kennt sein Problem gar nicht bzw. beschäftigt sich nicht aktiv damit. Infolgedessen müssen wir den Kunden an den Orten adressieren, wo er sich sonst auffindet. Mit „ansprechen“ sind nicht proaktive Akquise-Methoden gemeint, sondern die passive, strategische Platzierung von Inhalten, die die Aufmerksamkeit der Kunden erregen soll.
Sobald Aufmerksamkeit vorhanden ist, kann man die Kunden auf die Webseite leiten. Aber etwas auf der Webseite zu publizieren und zu warten, dass Kunden das finden würden, ist ein Denkfehler. Google-Ads beispielsweise funktionieren nur dann, wenn der Kunde aktiv auf der Suche ist. In der Realität wird immer wieder Werbung für Produkte geschaltet, von deren Existenz Kunden gar nichts wissen oder zu denen sie keinen Bezug auf sich und die eigene Situation herstellen können.
In dieser Phase geht es um Aufklärung, wofür man klassische Werbekanäle durchaus nutzen kann, aber mit den richtigen Inhalten. Schon besser eignen sich dafür soziale Medien, Artikel in Fachmedien, Vorträge, Online-Veranstaltungen, Webinare, Konferenzen, Diskussionsgruppen, Foren, Netzwerke und andere Webseiten, wo Kunden in der Regel ihre Zeit verbringen. Um die richtigen Touchpoints zu identifizieren sind folgende Überlegungen hilfreich:
  • Wo hält sich die Zielgruppe überwiegend auf?
  • Wie kann man die Zielgruppe dort indirekt und passiv adressieren?
  • Welche Inhalte sind so aufzubereiten, dass sie die Aufmerksamkeit der potenziellen Kunden erregen?
  • Welche Inhalte können den nächsten Schritt im DECIDE-Prozess auslösen?

6.1.5 Key-Inhalte: Bedürfnis- und problemorientiert

Die Inhalte fokussieren sich hauptsächlich auf das Problem und seine Auswirkungen. Der Kunde sollte sich im beschriebenen Problem sofort wiederfinden, am besten den hierdurch verursachten Schmerz regelrecht spüren und sich der damit verbundenen Konsequenzen im Klaren werden. Womit letztendlich der Impuls ausgelöst wird, sich mit dieser Thematik vertiefend zu beschäftigen.
Es geht hier nicht um die Produkte oder ihre Funktionalitäten und schon gar nicht um den Anbieter. Während sich 75 % der B2B-Einkäufer solche Inhalte wünschen, die ihnen bei der Recherche und der Identifikation von neuen Geschäftsideen helfen, konzentrieren sich 93 % der Unternehmen auf die Vermarktung ihrer eigenen Produkte und Dienstleistungen (Peppercomm 2014). Bei 93 % kann man getrost „alle“ sagen, auch wenn sich Unternehmen selbst selten in dieser Gruppe einordnen bzw. die dringende Notwendigkeit des Umdenkens erkennen.
Ein neues Produkt vorzustellen, es mit einem Datenblatt und einer Liste von Merkmalen zu versehen und dazu eine Markteinführungsaktion zu schalten, funktioniert nicht oder nur noch suboptimal. Ja, wir könnten es weiterhin dem Betrachter selbst überlassen, seinen potenziellen Bedarf zu erkennen und darauf zu reagieren, aber in einem immer lauter und bunter werdenden digitalen Raum wird das nur noch bedingt funktionieren. Um die Aufmerksamkeit des nutzenorientierten PHANTOMs zu erregen, müssen wir lernen, primär über seine möglichen Probleme zu kommunizieren und die potenziellen Verbesserungen in seinem Dasein aufzuzeigen, anstatt Werbung zu machen.
Ziel der Inhalte ist es, Kunden auf Bedürfnisse aufmerksam machen, von denen sie nicht einmal wussten, dass sie sie haben.
Der Ansatz liegt darin, Interesse zu wecken, beispielsweise mit solchen Fragestellungen:
  • Wussten Sie, dass …?
  • Schon gesehen …?
  • Kennen Sie das Problem auch?
  • Zahlreiche Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass …
  • Dieses Problem führt dazu, dass …
  • Dieser Trend ist besorgniserregend, weil …
Wir wollen etwas aufzeigen, was der Kunde noch nicht kennt oder in diesem Moment noch nicht ernst nimmt, und ihn dazu bringen, darüber nachzudenken und sich vertiefend damit auseinanderzusetzen. Kunden wollen auch, dass man sie zum Nachdenken bringt: 92 % der B2B-Einkäufer stufen ein „umfangreiches Angebot an Inhalten, die zum Nachdenken anregen“ als wichtig ein (DemandGen 2020). Sie brauchen niemanden, der ihnen etwas verkauft, sondern wollen lernen und für sich und die eigene Situation wichtige Einsichten gewinnen.

6.1.6 Buying Center: Initiatoren erkennen

Kundenaufklärung impliziert nicht nur die simple Verteilung von Informationen und relevanten Inhalten, sondern auch eine durchdachte Vorgehensweise anhand der unterschiedlichen Interessen im Einkaufsgremium des Kunden. Zuerst müssen die Rollen im Buying Center identifiziert werden, welche im Educate-Prozess gezielt angesprochen werden sollen. Denn nicht jeder in einem Buying Center hat ein unmittelbares Bedürfnis, das Problem zu lösen. Infolgedessen müssen die sogenannten Initiatoren identifiziert werden. Das sind diejenigen, die das Problem am ehesten erkennen und sich der Notwendigkeit seines Lösens bewusst werden. Wir müssen uns fragen:
  • Wer hat welche Probleme und Bedürfnisse in Bezug auf unsere Lösungen/Produkte?
  • Wer auf der Kundenseite hat das größte Interesse an einer Lösung?
  • Wer verspürt den größten Schmerz?
Daraus leiten wir ab, welche Zielpersonen aus dem Buying Center angesprochen – aufgeklärt – werden sollten und stimmen anschließend die Inhalte gezielt darauf ab.

6.1.7 Inhaltsformen: Aufrüttelnd und erweckend

Für die Educate-Phase sollten die relevanten Inhalte so aufbereitet werden, dass sie die unterschiedlichen Interessenstiefen erreichen und an den unterschiedlichen Aufmerksamkeitsspannen der Interessenten ausgerichtet sind: von leicht verdaulichen Formen wie Posts, Tweets, Kommentaren, Kurzvideos, Bildern, Anzeigen und bis hin zu detaillierteren Branchenreports, Markttrend-Berichten und Fachartikeln. Besonders gut eignen sich hier provokante Ansprache-Formen und Fragestellungen, um aufzurütteln und den Impuls auszulösen, tiefer hineinzuschauen. Auch News und Markt-Updates eignen sich gut dafür. Wir reden über das, was in der Branche, im Markt, in den Unternehmen passiert und weisen auf bestehende Probleme und potenzielle Gefahren hin, womit Bedürfnisse und Handlungsbedarf erkannt werden. Alle Inhaltsformen, die diesen Content transportieren, eignen sich dafür, inklusive Events – ob online oder offline.

6.1.8 Aktivitäten: Content Distribution

In dieser Phase geht es primär um inhaltsbezogene Aktivitäten, die die Verbreitung und das Verteilen von relevanten Inhalten betrifft, sodass sie vor den Augen potenzieller Kunden erscheinen und das Problem unmittelbar ansprechen. In den traditionellen Unternehmensstrukturen sind diese Aktivitäten eher in den Marketingabteilungen angesiedelt. In zeitgemäßen Strukturen sollte es keine Trennung zwischen Marketing und Vertrieb mehr geben. Anstatt darauf zu warten, dass das Marketing Leads generiert, sollte jeder einzelne Vertriebsmitarbeiter in die Tätigkeit der Kundenaufklärung involviert werden. Denn jede Person in der Organisation stellt in Wirklichkeit einen zusätzlichen Kanal zur Informationsdistribution im digitalen Raum dar – jedes einzelne Profil in den sozialen Medien. Infolgedessen sollte jedes Mitglied einer Marketing- und Vertriebsstruktur in die strategische Verteilung des Contents einbezogen werden, wodurch auch die Reichweite potenziert wird. Aus demselben Grund sollte man sich auch nicht nur auf Marketing und Vertrieb beschränken: Warum sollten andere Abteilungen ausgeschlossen werden? Jeder Mitarbeiter kann und sollte über digitale Wege und in den sozialen Medien eigenständig Aufklärungsarbeit leisten.
Egal, wer sonst noch involviert wird, eins steht fest: Content-Verteilung wird zu einer neuen täglichen Tätigkeit der Vertriebsmitarbeiter. Denn sie haben den Zugang zu bestehenden Kunden, wo ebenso Aufklärungsarbeit in Bezug auf neue Themen – Achtung: nicht Produkte! – betrieben werden sollte. Der Vertrieb sollte sich aktiv auf die Suche nach weiteren potenziellen Problemen innerhalb seines bestehenden Kundenstamms begeben sowie auch auf die Suche nach Menschen mit dem „richtigen Problem“ in der großen digitalen Welt: zeitgemäße Kundenakquise. Beispielsweise mit Social-Selling-Aktivitäten, die aber natürlich keine Kaltakquise oder Direktansprache über soziale Medien implizieren. Bei diesem Ansatz geht es darum, relevante Inhalte für ausgesuchte Zielpersonen gezielt und strategisch sichtbar zu machen, sodass sie den Wunsch entwickeln, mehr zum Thema zu erfahren, und den jeweiligen Vertriebsmitarbeiter selbst ansprechen.

6.1.9 Engagement: Offener Zugang zu Inhalten

In der Educate-Phase erfahren potenzielle Kunden durch kostenlose, leicht verfügbare Inhalte, dass sie womöglich ein Problem haben. Auf diese Weise erkennen sie auch, dass Sie eine mögliche Lösung für dieses Problem bieten, was die Wahrscheinlichkeit für ein frühzeitiges Engagement erhöht. Was hier aber nicht passieren darf: den Eindruck zu erwecken, den Interessenten etwas verkaufen zu wollen. Denn zu diesem Zeitpunkt sind sie noch nicht einmal davon überzeugt, dass sie das Problem lösen wollen, und sie sind noch weit davon entfernt, über Sie oder Ihre Produkte nachzudenken. Infolgedessen sollte man auch keine traditionellen CTA (Call-To-Action) mit Kontaktaufrufen verwenden oder Kaufreize mit Sonderangeboten verwenden. Zuerst will der Kunde sich informieren, und wenn man ihn mit einem Kaufangebot konfrontiert, kann man schnell alle zukünftigen Verkaufschancen ruinieren. Deswegen wollen wir zwar CTAs verwenden, aber auf andere Art: „Lesen Sie mehr …“, „Siehe Video …“, „Erfahre mehr …“, „Lade ein E-Book herunter …“ etc.
Folglich ist es nur logisch, dass man an dieser Stelle im Prozess von allen Methoden, den Interessenten zu „fangen“, absehen sollte, wie etwa Kontaktinformationen im Austausch für mehr und bessere Information verlangen. 91 % der B2B-Käufer stufen einen „einfachen Zugang zu Inhalten ohne lange Formulare“ als wichtig ein (DemandGen 2020). Wir wollen ihnen diesen Zugang offen gewähren und die freie Entscheidung überlassen, ob und wann sie in Kontakt treten.
Sollte sich ein Kunde in dieser frühen Phase doch zu einer Interaktion entschließen, wollen wir uns auf das Problem fokussieren und ihn weiter darüber aufklären, welche Bedeutung dieses für ihn hätte und keinesfalls die Gelegenheit ergreifen, um aktiv zu verkaufen.

6.1.10 Technologie-Aspekte: Schnell, responsive, barrierefrei

Ein positiver erster Eindruck ist bei jeder Kundenbegegnung wichtig, aber im digitalen Raum der EEE-Welt ist er ein entscheidender Faktor. Einfachheit und Schnelligkeit im Zugang und in der Nutzung von Informationen stehen ganz oben auf der Prioritätsliste in der Educate-Phase, um die Geduld des PHANTOMs nicht zu strapazieren und den dünnen Faden der Aufmerksamkeit nicht zerreißen zu lassen. Denn wenn sich ein Interessent zwar durch die spannende Headline eines Artikels in den sozialen Medien angesprochen fühlt und den nächsten Schritt geht, um den Artikel zu lesen, die Webseite aber zu lange lädt oder ein Registrierungsformular verlangt oder die Navigation zu unübersichtlich ist, ist er schnell weg und hat sein noch nicht ganz entdecktes Problem vermutlich auch gleich wieder vergessen. Der ganze Aufwand für die Erstellung des Inhalts war umsonst.
Wir wollen hier den Fokus auf Technologien legen, die einen schnellen, offenen und intuitiven Zugang zu relevanten Inhalten ermöglichen und den Kunden in ihren Bann ziehen, sodass er sich intensiver damit beschäftigt und tiefer in die Inhalte hineintaucht. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er in die nächste Phase seines Entscheidungsprozesses übergeht, anstatt sofort abzuspringen. Dies alles mit dem besonders angenehmen Nebeneffekt, dass Ihre Webseite auch für die Suchmaschinen an Relevanz gewinnen und besser in den Suchergebnissen gerankt wird.

6.2 Nurture

Unter Nurturing versteht man einen Prozess, in dem Interessenten auf ihrem Entscheidungsweg mit Informationen begleitet und unterstützt werden, bis sie zum Kauf bereit sind. In unserem konkreten Fall ist dies die Spiegelung der Explore-Phase des DECIDE-Kaufentscheidungsprozesses, siehe Abschn. 5.​2.
In dieser Phase ist das Interesse des Kunden geweckt, er richtet nun seine Aufmerksamkeit auf das Thema und begibt sich auf die aktive Recherche. Was hier genau passiert:
  • Er möchte seinen ersten Eindruck validieren.
  • Er hat das Problem oder den potenziellen Verbesserungsbedarf erkannt und möchte mehr darüber erfahren.
  • Er möchte verstehen, was das für ihn bedeutet.
  • Er möchte Antworten erhalten auf Fragen, wie:
    • Worum geht es bei diesem Problem genau?
    • Was sind die Ursachen, woher kommt das Problem?
    • Gibt es Auswirkungen, die mir unbekannt sind?
    • Was könnte ich dagegen tun?
    • Haben andere dasselbe Problem? Was tun sie?
Der Interessent hat viele Fragen, die wir möglichst direkt beantworten müssen. Je relevanter und erhellender die Antworten, die er findet, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er sich mit dem Thema vertiefend beschäftigt und den Weg mit Ihnen weitergeht.

6.2.1 Ziel: Problem vertiefen

Ziel in die Nurture-Phase ist es, den gerade entstehenden Bedarf des Kunden zu stärken und ihn mit relevanten Inhalten zu nähren. Dazu bringen wir Einsichten, Erfahrungen und Einblicke. Wir bieten Antworten auf die Fragen, die in seinem Kopf entstehen, und verhelfen ihm zu der Erkenntnis, dass sein Problem gelöst werden muss, bevor es noch schlimmer wird oder die Auswirkungen massiv zunehmen.
Wir wollen den Interessenten von der „Aha?!“-Bedarfsebene auf die nächsten Ebenen „Achtung“ und „Akut“ bringen, vielleicht sogar auf die „Alarm“- Stufe (siehe Abschn. 5.​1 und Abb. 5.​3), sodass er die Notwendigkeit eines Handlungsbedarfs erkennt.

6.2.2 Missverständnis-Potenzial: Nicht mit Information überfordern

Das erste Missverständnis liegt im Begriff selbst. Denn man könnte durch den Begriff „Nurture“, der übersetzt „Nähren“ bedeutet, sich dazu verleitet fühlen, möglichst viele Informationen bereitzustellen, um den Kunden mit umfangreichen Inhalten zu versorgen. Die Gefahr hier besteht darin, dass man den Kunden mit der Fülle von Informationen und einer möglicherweise zu großen Komplexität überfordert. Hierbei besteht die Gefahr, dass man den gegenteiligen Effekt erreicht und den Kunden sogar abschreckt. Wenn die Beschäftigung mit dem Thema und das Lösen des Problems komplexer erscheinen als das Problem selbst, wird der Wunsch, sich mit dem Thema weiterhin zu beschäftigen, im Keim erstickt.
Ziel ist es, den Kunden nicht zu verwirren, sondern Klarheit für ihn zu schaffen. Wir müssen die richtige Menge an Inhalten zum richtigen Zeitpunkt für den jeweiligen Stakeholder verfügbar machen, wozu die Herstellung des Kontexts und die Personalisierung wichtig sind.

6.2.3 Notwendiges Verständnis: Relevanz aus der Kundenperspektive

In allererster Linie müssen wir, wenn wir die Fragen im Kopf des Kunden beantworten wollen, diese auch kennen und selbstverständlich auch über erhellende Antworten verfügen. Das ist allerdings einer der Bereiche, mit denen sich Marketing- und Vertriebsabteilungen eher selten beschäftigen. Folglich ist es nicht besonders verwunderlich, dass die meisten vom Marketing produzierten Inhalte als nutzlos wahrgenommen werden. Und nicht nur von Kunden. Fragen Sie mal Ihre Vertriebsmitarbeiter, was sie von Ihren Marketingunterlagen halten.
Form und Inhalt müssen natürlich passen, aber nutzloser Inhalt in herausragender Form bleibt immer noch nutzlos. Der nutzenorientierte PHANTOM-Kunde, der in Eile ist, wird seine wertvolle Zeit nicht für nutzlose Inhalte verschwenden. Wenn Ihr Inhalt ihn nicht zum Nachdenken oder Nicken bringt, wird er einfach weiter – woanders – suchen.
Der Vertrieb und das Marketing sollten die Aufgabenstellung aus der Kundenperspektive betrachten und diese dazu nutzen, um für den Kunden einen Mehrwert zu schaffen: In Bezug auf sein Problem und vor allem in Bezug auf die Auswirkungen und die potenziellen Gefahren im Zusammenhang damit. Denn alles andere wird den Kunden auf seinem Kaufentscheidungsweg nicht nur nicht weiterbringen, sondern sogar stoppen. An dieser Stelle könnte der Interessent zu der Annahme gelangen: „Ah, das ist doch nicht so schlimm wie gedacht.“ Und wenn kein anderer Anbieter es schafft, den Kunden zu der Erkenntnis zu verhelfen, dass ein Handlungsbedarf notwendig ist, wird der Kunde den Prozess abbrechen und sich seinen anderen Aufgaben widmen, die wichtiger und kritischer erscheinen.
Das Verständnis über die Tragweite einer „Nicht-Entscheidung“ muss zuerst in den eigenen Vertriebs- und Marketingreihen geschaffen und anschließend nach außen transportiert werden. Finden Sie also heraus, was die Kunden in ihrem Markt, ihrer Branche und ihrem Geschäftsfeld beschäftigt, und verstärken Sie deren individuellen Bedürfnisse.
Die Anbieter müssen nicht nur verstehen, was Kunden brauchen, sondern was Kunden damit erreichen wollen und warum. Nur so können auch die wirklich wichtigen Schmerzpunkte angesprochen werden. Die hinter Ihren Lösungen steckenden Kundenprobleme und Herausforderungen, inklusive ihrer Auswirkungen auf die Kundenzukunft, müssen in ihrer Tiefe verstanden werden, damit die Inhalte auch den richtigen Nerv auf der Kundenseite treffen.
Man möchte gerne annehmen, man würde dies können, wenn man beispielsweise Marketingprofis anspricht. Aber die Inhalte, die im Internet kursieren, belegen eher das Gegenteil. Seit Jahren heißt es „content is king“, aber das sollte nicht die Quantität, sondern die Qualität des Contents implizieren. Es gibt zwar viel Information, aber wenig aus Kundensicht relevante Inhalte. Auch hier ist weniger mehr: Nur relevanter Content im Kontext des Kunden ist wirklich King. Alles andere trägt lediglich zur Reizüberflutung im digitalen Raum bei.

6.2.4 Touchpoints: Sichtbar, barrierefrei, webseitenbezogen

Auf ihrer Suche nach wertvollen Inhalten konsumieren Interessenten gerne mehr aus denselben Quellen, die sie auf die „richtigen“ Probleme hinweisen und Relevanz in ihrem Kontext bieten. Folglich sollte man, beginnend mit dem Auslöser in der Educate-Phase, eine Kette von relevanten Inhalten bilden.
Zweifelsohne wird das PHANTOM auch woanders hinschauen, denn es verlässt sich nie auf eine einzige Quelle. Aber wenn es bei Ihnen die relevantesten Einsichten gefunden und auch die wichtigsten Erkenntnisse gewonnen hat, wird es sicherlich zurückkehren. Erinnern wir uns an die in Abschn. 4.​4 erwähnte Studie, die aufzeigte, dass B2B-Kunden am Ende auch dort kaufen, wo sie den wertvollsten Content für ihre Entscheidungen erhalten: 76 % der Befragten gaben an, dass die Inhalte des „gewinnenden“ Anbieters einen wesentlichen Einfluss auf ihre Kaufentscheidung hatten (DemandGen 2020).
In der Nurture-Phase ist einer der wichtigsten Touchpoints natürlich die Webseite, wo Inhalte so bereitgestellt werden sollen, dass die jeweiligen Personen im jeweiligen Kontext relevante Einblicke in das Thema gewinnen. Sie steht im Zentrum aller Aktivitäten im digitalen Raum, siehe das Beispiel in der Abb. 6.5.
Von allein landen potenzielle Kunden selten auf Ihrer Webseite. Wenn sie nicht von Ihrer Existenz wissen, müssen sie mit systematischen und zweckmäßigen Maßnahmen auf die Webseite geführt werden. Dazu gehört das gezielte Hinleiten mit den Aktivitäten aus der vorigen ENABLE-Phase, die strategische Verteilung des Contents im digitalen Raum mit zielgerichteter Weiterleitung auf die Webseite und natürlich SEO, SEA und Social-Media-Aktivitäten. Damit wollen wir alle potenziellen Interessenten erreichen, die auf der Suche nach Informationen zu diesem Thema sind. Je relevanter die Inhalte für die Besucher Ihrer Webseite, desto größer auch die Relevanz für die Suchmaschine. Denn heute wird das Ranking der Webseite primär durch einen wertvollen Content und das Verhalten des Besuchers auf der Webseite – Verweildauer und Interaktion – definiert, anstatt wie in der Vergangenheit, durch eine Keyword-Schlacht. Ihre Webseite sollte in allererster Linie für die Interessenten aufgebaut sein, nicht für die Suchmaschine. Ziel ist es, Sichtbarkeit und Auffindbarkeit in Bezug auf dieses spezielle Thema – Problem, nicht Produkt! – für die jeweiligen Stakeholder zu schaffen. Dafür eignen sich besonders gut Landingpages, die spezielle Fragestellungen behandeln, Wissensplattformen wie Medium oder Quora und natürlich auch Wikipedia und eigene Blogs. Offene Webinare sowie auch Veranstaltungen und Vortragstätigkeit sind ebenfalls zu evaluieren.
Überall, wo Kunden nach Antworten suchen könnten, sollten wir den passenden Inhalt bereitstellen. Wenn man aber dabei versucht, Kontaktdaten zu sammeln, indem man von einem Kunden verlangt, dass er sich anmeldet, Formulare ausfüllt oder einen Termin vereinbart, befindet man sich noch in der „alten“ Denke, die in der heutigen, von Bequemlichkeit geprägten Welt einfach nicht mehr oder nur noch bedingt funktionieren wird. Folglich müssen wir Inhalte offen, kostenlos und auch ohne lange Formulare oder Anmeldeprozesse anbieten.
Sie können – und sollten auch – die Möglichkeit anbieten, sich zu News, Blog-Updates oder Newslettern anzumelden. Wenn Sie wertvolle Inhalte bereitstellen, werden sich Kunden anmelden und Ihnen ihre Daten freiwillig geben. Einem Zwang oder jeglichen Fangtricks wird sich das PHANTOM entziehen wollen, und das schon aus Prinzip.

6.2.5 Key-Inhalte: Neutral, produkt- und anbieterunabhängig

In der Nurture-Phase wollen wir beginnen, Antworten auf die möglichen Fragen des Kunden zu geben. Dabei bieten wir noch keine Lösungen an, im Sinne von „unser Produkt ist die Antwort auf Ihr Problem“, sondern adressieren das Grundproblem, seine Ursachen und stellen die damit verbundenen Gefahren in den Vordergrund. Wir klären den Kunden weiterhin auf: Weniger in Bezug auf die Lösung, sondern vertiefend zu seinem Problem und vielleicht auch noch dazu, wie man eine Entscheidung in diesem Zusammenhang richtig trifft: Wir zeichnen den Entscheidungsweg auf, noch nicht die Lösung.
Ziel ist es zu sensibilisieren und die Bedürfnisse zu verstärken, bevor wir zu Lösungen übergehen.
Wir sollten hier nicht den klassischen Fehler des Vertriebs begehen, indem wir zu schnell mit der Lösung herausrücken. Wenn der Kunde noch nicht bereit ist zu kaufen und keinen starken Bedarf entwickelt hat, macht es wenig Sinn oder kann sogar kontraproduktiv sein, Lösungen anzubieten. In der Nurture-Phase denkt der Kunde noch gar nicht über Lösungen, er informiert sich noch über das Problem. Es geht ihm immer noch nicht um Sie. Folglich müssen überwiegend neutrale und anbieterunabhängige Inhalte zur Verfügung gestellt werden. Der Content ist problemzentriert und am besten im Kontext des Kunden gestellt. 70 % der Einkäufer stufen „relevante Inhalte, die unser Unternehmen direkt ansprechen“ als „sehr wichtig“ ein, und 96 % der B2B-Fachleute halten Botschaften für wichtig, die „direkt auf die Bedürfnisse unserer Branche eingehen“ (DemandGen 2020).
Wir wollen Inhalte bereitstellen, die relevant und auf die Bedürfnisse der engdefinierten Zielgruppe zugeschnitten sind. Beispielsweise demonstrieren Fallstudien, Branchenberichte und Szenarien-Darstellungen Fachwissen und Kompetenz und sind zugleich praktische Hilfsmittel für Kunden, die sie in ihrem Entscheidungsprozess nutzen können.

6.2.6 Buying Center: Problemverantwortliche adressieren

Die Inhalte müssen natürlich an die jeweiligen Rollen im Buying Center adaptiert sein. Dafür sollten wir wissen, wer aus dem Buying Center in dieser Phase recherchiert: Wen interessiert dieses Problem und welche seiner speziellen Aspekte besonders? Darauf wollen wir konkret und möglichst personalisiert eingehen. In der Regel werden es immer noch die Initiatoren sein, die adressiert werden, weil sie in der Regel den größten Schmerz im Zusammenhang mit dem Problem verspüren. Wir wollen diese Personen nicht nur auf die Auswirkungen des Problems auf ihr Geschäft hinweisen, sondern auch auf ihre individuellen Rollen im Unternehmen. Derjenige, der das Problem nicht oder zu spät erkannt hat, wird vermutlich auch die Verantwortung für die damit verursachten Probleme übernehmen müssen. Wir müssen erkennen, wer die Verantwortung für die Entstehung des Problems und seine Lösung trägt und diese Personen mit den richtigen Inhalten adressieren.
Wenn mehrere Rollen adressiert werden müssen, kann die KI-Technologie gute Unterstützung leisten, wie etwa bei der Gestaltung von dynamischen und personalisierten Inhalten oder FAQ, die die Antworten und Fragen automatisch anhand der jeweiligen Entscheider-Rolle anpassen.

6.2.7 Inhaltsformen: Wissensbezogen

Wie schon dargestellt, will das PHANTOM in seinem eigenen Tempo lernen, wann und wo es will, nicht dann, wenn die Anbieter bereit sind. Als erstes wendet man sich an das Internet, und nicht nur im Konsumentenbereich. Wir erinnern uns: Die Top-3-Ressourcen, über die sich B2B-Kunden informieren, sind (DemandGen 2020):
  • Websuche: 53 %
  • Anbieterwebseiten: 41 %
  • Bewertungsportale: 30 %
Zu den Inhaltsformen, die in dieser Phase gerne konsumiert werden, zählen Blog-Beiträge, Fachartikel, Infografiken, Videos und interaktive Inhalte. Der Fokus liegt auf unabhängigen Informationen Dritter, nicht umsonst landen die Bewertungsportale so weit oben auf der Liste der Top-Ressourcen. Je nach Geschäftsbereich könnte es ebenfalls sinnvoll sein, Foren und Diskussionsplattformen auf der eigenen Webseite einzurichten, wo Kunden sich austauschen und voneinander lernen können. Wenn die Diskussion auf Ihrer Webseite passiert, ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass der Kunde Sie zum besten Anbieter wählt.
Außerdem würden 91 % der Kunden eine Online-Wissensdatenbank nutzen, wenn diese verfügbar und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten wäre (ZenDesk 2013). Kunden wollen unmittelbaren und durchgehenden Zugang zu den Ressourcen. Dabei dürfen diese Wissensdatenbanken und die Ressourcen-Seiten nicht nach der Form des Inhalts aufgebaut werden, wie normalerweise üblich. Stattdessen sollten sie sich inhaltlich an den Fragestellungen der Kunden ausrichten.
Insbesondere der B2B-Bereich hinkt in diesem Zusammenhang weit hinterher: Ganz gleich, ob man Produkte oder Dienstleistungen anbieten mag, ähneln die Webseiten eines typischen B2B-Anbieters oft einem statischen und unübersichtlichen Werbekatalog. Ist es ein Wunder, dass Webseitenbesucher gleich wieder verschwinden? Kunden wollen adaptive Inhalte, personalisierte Erfahrungen und reaktionsfähige Webseiten, um schnell zu dem Inhalt zu gelangen, den sie speziell benötigen. Die Inhaltsformen dürfen auch nicht überfordern und sollten möglichst leicht lesbar und scannbar sein. Der Besucher sollte seine Erkenntnisse schnell erlangen, ohne viel nachdenken zu müssen. Typische Fragen und Antworten zum jeweiligen Thema eignen sich gut dafür. Zudem müssen nicht nur die Inhalte selbst, sondern auch ihre Formen an die Bedürfnisse der engspezifizierten Zielgruppen angepasst werden, denn sie sind durchaus unterschiedlich. Nehmen wir als Beispiel die Altersgruppen: Unterschiedliche Generationen haben unterschiedliche Präferenzen für die Form und den Umfang von Inhalten. Im Vergleich zu den anderen bevorzugt die Generation X Artikel mit mehr als 500 Wörtern. Dagegen weisen die Babyboomer die höchste Präferenz für Artikel unter 200 Wörtern auf, die bei den X-en weniger gut ankommen (Fractl 2015). Auch hier ist Testen angesagt: Das Beobachten von Konsumverhalten, Lesedauer und Lesehäufigkeit gibt gute Einblicke in die Präferenzen der eigenen Zielgruppe.

6.2.8 Aktivitäten: Inhalte passiv bereitstellen

In der Nurture-Phase suchen die potenziellen Kunden nach Antworten in Bezug zum gerade entstehenden Bedarf, folglich sollten sich auch alle Aktivitäten danach richten. Dies werden überwiegend Content-Aktivitäten sein. Wir müssen allerdings unterscheiden, ob der Kunde auf aktiver oder passiver Suche in seiner Explore-Phase ist, siehe Abschn. 5.​2, denn beide erfordern unterschiedliche Ansätze:
  • Passiv: Wenn Kunden auf passiver Suche sind, dann platzieren wir die Inhalte so, dass die Kunden darauf aufmerksam werden. Wie dürfen diese Kunden keinesfalls mit aufdringlichen Methoden direkt ansprechen, denn sie sind noch passiv und informieren sich beiläufig. Für eine aktive Ansprache sind sie noch nicht bereit.
  • Aktiv: Diejenigen, die aktiv auf der Suche sind, worauf sich anhand ihres Verhaltens auf der Webseite oder in ihrer Interaktion mit dem Unternehmen – Newsletter, Anmeldung, Downloads etc. – schließen lässt, kann man auch etwas direkter adressieren. Zum Beispiel mit einer E-Mail-Marketingstrategie oder mit einer personalisierten und durchdachten Ansprache durch die Vertriebsmitarbeiter.
Generell haben aber die Aktivitäten eher einen passiven Charakter, wobei wir Inhalte verfügbar machen, statt Kunden aktiv anzusprechen. Nicht nur während ihrer Nurture-Phase reagieren moderne Kunden auf direktes Adressieren empfindlich, es handelt sich um einen allgemeinen Trend, wie eine Studie von Trustradius (2020) aufzeigt. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Technologie-Einkäufer auf direkte Ansprachetaktiken reagieren würde, sehr gering:
  • Nicht personalisierte Nachrichten: 5 %
  • Kaltanrufe: 7 %
  • Chatbots/KI-Assistenten: 10 %
  • Gezielte Werbung: 19 %
  • Personalisierte Nachrichten: 29 %.
  • Einladungen zu digitalen Events: 43 %
Daraus lässt sich ableiten, dass de facto alle Kunden Massennachrichten (95 %) und Kaltanrufe (93 %) ablehnen. Was steht denn heute an der Tagesordnung der meisten Marketing- und Vertriebsabteilungen? Nicht etwa pauschale Newsletter und Kaltakquise? Obwohl diese Studie speziell im Technologiebereich durchgeführt wurde, ist anzunehmen, dass in anderen B2B-Bereichen die Zahlen ähnlich ausfallen werden. Auch in besonders konservativen Branchen gehen Anbieter eigene Wege, um Lieferanten zu finden, und warten nicht darauf, von Verkäufern akquiriert zu werden.
Wenn schon, dann möchte das PHANTOM mit personalisierten Nachrichten adressiert werden und wünscht sich, dass der Vertriebsmitarbeiter vor dem Erstkontakt gründlich recherchiert und keine aus seiner Sicht überflüssigen Fragen stellt. „Ich schätze einen Verkäufer, der sich im Vorfeld über unsere Bedürfnisse informiert hat und keine unnötigen Fragen stellt!“ ist ein Käufer-Feedback aus der Studie über B2B-Käuferpräferenzen (Miller Heiman Group 2018).
Denken Sie daran: Eine Frage, auf die ein Kunde eine Antwort hat, nutzt nur dem Verkäufer selbst. Der Kunde lernt nichts daraus. Nur eine Frage, auf die der Kunde keine sofortige Antwort hat und die ihn zum Nachdenken bringt, wird er als wertvoll empfinden.
Die Aufgabe des Vertriebs in dieser Phase besteht darin, das erkannte Problem vertiefend zu ergründen. Wir wollen den Kunden zu der Erkenntnis bringen, dass er nicht alle Antworten hat oder vielleicht nicht alle Antworten im Alleingang findet, sodass er die Unterstützung des Vertriebs bereitwillig annimmt. Dies bedeutet, dass sich die Akquisetätigkeiten in erster Linie auf die Erkundung und das Ergründen von Kundenproblemen fokussieren sollten. Manchmal treten auch in dieser frühen Phase Kunden in Kontakt mit dem Vertrieb und wollen Interaktion gleich zu Beginn des Entscheidungsprozesses. Der Vertrieb muss aber verstehen, was der Kunde bei dieser ersten Interaktion benötigt. Denn wenn er gleich die Gelegenheit ergreift, etwas zu verkaufen, in der Annahme, der Kunde möchte kaufen – Was denn sonst, wenn er schon Kontakt aufnimmt? –, kann der Erstkontakt womöglich auch gleich zum Letztkontakt werden. Der Vertriebsmitarbeiter muss erkennen, in welcher Phase sich der Kunde befindet und was er wirklich will und genau darauf eingehen. Wenn er das schafft, wird sich der Kunde höchstwahrscheinlich auch mit seinem Kaufanliegen zum späteren Zeitpunkt an dieselbe Person wenden.
Wir sollten das PHANTOM, das sich gerade langsam auf seinem Entscheidungsweg vorantastet, während seiner ersten – zögerlichen – Kontaktaufnahmen auch vorsichtig behandeln. Wir dürfen den Vertrauensvorschuss, den er uns entgegenbringt, nicht verspielen, wie etwa seine hinterlassenen Daten oder die Analytics dafür zu verwenden, um ihn zu verfolgen. Immer häufiger empfinden Menschen (57,2 %) Targeting-Taktiken als unheimlich, weil sie sich dadurch bewusster werden, dass und wie ihre personenbezogenen Daten genutzt werden (SmarterHQ 2020). Kennen Sie die Anzeigen, die Sie noch wochenlang verfolgen, nachdem Sie eine bestimmte Webseite besucht haben? Dies ist ein Beispiel für schlecht ausgeführte Targeting-Taktiken, die Kunden ärgern, anstatt sie zum Kauf zu motivieren.
Die Marketing- und Vertriebsaktivitäten sollten in der Nurture-Phase so gestaltet werden, dass sie das PHANTOM ignorieren, ihm aber so viel Mehrwert bieten, dass es von sich aus den Wunsch entwickelt, mit Ihnen zu interagieren.

6.2.9 Engagement: Digital, zeit- und ortsunabhängig

Falls der Kunde sich zu einer Interaktion entscheidet, dürfen wir es ihm nicht allzu schwermachen. In der Nurture-Phase ist der Kunde noch auf der Suche nach Inhalten, und wenn er in Interaktion tritt, möchte er in der Regel auf dem schnellsten Weg das finden, was ihn interessiert. Anstatt hier wertvolle Inhalte hinter verschlossenen Türen zu verbergen, sollten wir sie lieber schnell verfügbar machen: mit interaktiven Anwendungen oder gut aufgesetzten KI-Bots. Denn Kunden greifen nur dann zum Telefon, wenn sie während ihrer Recherchen die wichtigen Informationen nicht gefunden haben: 40 % der Kunden kontaktieren ein Callcenter erst nachdem sie nach Antworten im Selfservice-Bereich gesucht haben (ZendDesk 2013). Und was, wenn der Kunde nicht zum Telefon greift, sondern das, was er sucht, woanders findet?
Generell ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass der Kunde in dieser frühen Phase überhaupt in Interaktion tritt. Sollte er doch zum Hörer greifen oder einen anderen Weg der direkten Interaktion wählen, dann müssen wir natürlich mit einer hohen Reaktionsgeschwindigkeit und einer Vielfalt von Engagement-Channels überzeugen. Wie wir wissen, haben moderne Kunden selten, wenn überhaupt, Spaß am Warten. Folglich dürfen wir ihre schon ziemlich niedrige Geduld nicht weiter strapazieren und müssen schnelle, intuitive Interaktionsmöglichkeiten einrichten: dort, wo er sich befindet und zu dem Zeitpunkt, an dem der Wunsch entsteht. Dass Erreichbarkeit ausschließlich von 9:00 bis 17:00 Uhr und nur von Montag bis Freitag nicht mehr zeitgemäß ist, bedarf wohl keiner weiteren Erklärung. Die ist aber im B2B-Bereich immer noch gelebte Praxis.
Damit meine ich nicht, dass Vertriebsabteilungen 24/7 belegt sein müssen. Jedoch sollten wir für Kunden während ihrer Recherchen Gelegenheiten für sofortige Interaktion schaffen, auf die auch schnellstens reagiert werden soll. Technologie macht das heute möglich, und wir sollten sie auch dafür einsetzen. Denken Sie daran: Der Kunde hat nicht immer Zeit, sich während seines beschäftigten Alltags mit Themen zu befassen, die für ihn noch keine Dringlichkeit aufweisen. Content wird gerne außerhalb des Arbeitsalltags konsultiert, doch auch hier gibt es Unterschiede in den Präferenzen der Generationen (Fractl 2015):
  • Mehr als 40 % der Generation X und der Millennials konsumieren Inhalte am Abend.
  • Die Babyboomer konsumieren die meisten Inhalte am Morgen und sind zum Teil morgens schon ab 5 Uhr online.
  • Im Vergleich zu den Babyboomern konsumieren fast doppelt so viele Millennials und Gen X Inhalte rund um die Mittagszeit.
Wie wir sehen: morgens, abends, mittags. Und wann ist Ihre Vertriebsabteilung besetzt? Was, wenn einem Kunden eine wichtige Frage um 5 Uhr morgens oder um 21 Uhr abends einfällt? An wen wendet er sich dann? Hoffentlich nicht an die Konkurrenz.

6.2.10 Technologie-Aspekte: Datenbezogene Personalisierung

Ohne Einsatz von Technologie werden wir in der Nurture-Phase nicht auskommen: beginnend mit einer schnellen, responsiven und interaktiven Webseite und bis hin zum Einsatz von Analytics und KI-Technologie. Dabei gibt aber der Kunde den Takt vor. Wir müssen beginnen, die Technologie anhand unserer Anforderungen auszusuchen, anstatt uns an sie anzupassen oder, noch schlimmer, sie gar nicht zu hinterfragen. In erster Linie definiert der Kunde die Anforderungen inklusive seiner Erwartungen an die verwendete Technologie.
Beispielsweise erwarten Kunden beim Surfen auf den Webseiten der Anbieter eine intuitive und benutzerfreundliche Navigation. Die Betonung liegt auf benutzerfreundlich, nicht auf das, was der Webseitenbaukasten ermöglicht. Zudem müssen wir die Leistung der Webseite permanent analysieren und optimieren, wozu es auch Abertausende von Möglichkeiten gibt: von hochtechnologischen Eye-Tracking-Systemen und bis zu den wohlbekannten Analytics.
Nicht nur die allgemeine Performance der Webseite sollte optimiert werden, sondern auch ihre Auffindbarkeit im digitalen Raum: Stichwort SEO. Damit das funktioniert, muss klar sein, wonach der Kunde sucht: Welche Suchbegriffe werden verwendet? Auch dafür gibt es etliche Tools, die helfen, sich mehr Klarheit zu verschaffen. Der Fehler, der dabei oft begangen wird, liegt darin, dass man sich bei der Keywordsuche auf die Produkte und Lösungen fokussiert, anstatt auf die Problematik aus der Perspektive der Kunden. In dieser Phase sind wir immer noch beim Problem und nicht beim Produkt. Welche Schlüsselwörter würde der Kunde nutzen, um sich im Zusammenhang mit der Problemstellung zu informieren? Diese Frage wird noch viel zu selten in den Marketingabteilungen gestellt.
Um den Interessenten, der auf Ihrer Webseite gelandet ist, abzuholen, sollte nicht nur im Sinne der User Experience optimiert werden, sondern auch und vor allem der Inhalt auf seine individuellen Bedürfnisse möglichst angepasst werden. Auch hier gibt es viele technologische Möglichkeiten, wie On-Site Behavioral Targeting, womit dem Besucher Inhalte ausgespielt werden, die im Zusammenhang mit seinem vorangegangenen Verhalten im Web stehen. Mit KI-Technologie können wir sogar für unterschiedliche Besucher unterschiedliche Versionen einer Webseite ausspielen und so die Besuchererfahrung bestmöglich personalisieren.
Mit Targeting-Taktiken sollte vorsichtig umgegangen werden und wie erwähnt, sollten sie nicht offensichtlich Rückschlüsse auf die Nutzung der Verhaltensdaten der Kunden zulassen. Wie macht es Google? Es nutzt geschickt Algorithmen, um jedem von uns ein individuelles Suchergebnis zu präsentieren, das aufgrund unseres Rechercheverhaltens auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten ist. Dasselbe sollten wir versuchen, für unsere potenziellen Kunden zu erreichen:
Mit dem Einsatz von KI-Technologie können wir dem Besucher das mühsame Suchen nach den für ihn spezifisch relevanten Inhalten erleichtern.
Rechner haben IP-Adressen, Webbrowser haben Cookies, Hyperlinks haben Tracking-Codes, Smartphones haben Ortungsdienste und jede Online-Interaktion ist mit Metadaten überlagert, woraus eine Absicht des Interessenten abgeleitet werden kann. Natürlich dürfen wir die DGSVO-Konformität nicht außer Acht lassen, aber wir erinnern uns, dass Kunden mehr als bereit sind, für eine bessere Kundenerfahrung Zugang zu ihren Daten zu gewährleisten. Mit der zunehmenden Nutzung der Technologie entsteht eine Fülle von Datenquellen, die den Vertriebs- und Marketingorganisationen zu Verfügung stehen, um ihre Aktivitäten zu optimieren, siehe Abb. 6.6.
Wichtig ist es, diese Daten nicht dafür zu verwenden, um Interessenten etwas aktiv zu verkaufen, sondern um ihnen den Entscheidungsprozess zu erleichtern. Diese Mechanismen sollten dazu dienen, um zu erkennen, in welchem Schritt seines Entscheidungsprozesses der Interessent sich befindet, welche Rolle er im Buying Center spielt und welche Interessen er im Beschaffungsprozess hat. Dies mit dem übergreifenden Ziel, ihm die zu diesem Zeitpunkt notwendige Unterstützung zu bieten, sodass er zum nächsten Schritt in seiner Entscheidung übergehen kann. Wir wollen die immer mühsamer und länger werdende Recherche-Phase für ihn erleichtern und verkürzen. Denn je schneller er die für sich richtigen Informationen erhält, desto schneller wird auch seine Entscheidung ausfallen, wodurch der eigene Vertriebsprozess verkürzt wird. Das ist auf Dauer der viel wirksamere Weg, um schnell Umsätze zu generieren, als zeitbegrenzte Sonderangebote zu gestalten.
Das Internet ist laut, chaotisch und besitzt für das technologieversierte PHANTOM überwiegend geringe Relevanz: Voller aufdringlicher Werbung, generischer und sich wiederholender Botschaften, selbstdarstellerischer Aussagen der Anbieter, schlecht gestalteter Websites und ständigen Aufforderungen zum Kontakt, wird es dem Kunden nicht leicht gemacht, die richtige Entscheidung schnell zu treffen. Insbesondere die B2B-Anbieter vermitteln den Eindruck, ihre digitalen Kundenerfahrungen schon fast absichtlich für jeden anderen, als für den Interessenten zu konzipieren. Das Ziel ist es, sich aus dieser – für den Kunden irrelevanten – Masse abzuheben, und dazu mangelt es nicht an technologischen Möglichkeiten.
Ein nahtloser Übergang zwischen der Webseite und den anderen Kanälen ist selbstverständlich. Die mobile Erfahrung darf ebenso nicht außer Acht gelassen werden – insbesondere während der Recherche-Phase. Denn wir erinnern uns: Kunden recherchieren außerhalb der regulären Arbeitszeiten, oft nebenbei und spontan. All das geschieht überwiegend am Smartphone. Mit diesem Verständnis müssen die Anbieter ein synergetisches Ökosystem schaffen, das die mobilen und die anderen Kanäle der Information und Interaktion ineinander integriert.
Nicht zuletzt können in der Nurture-Phase auch Werkzeuge der Marketing-Automatisierung genutzt werden. Ziel dabei ist es, den Entscheidungsprozess zu messen, zu modellieren und durch Automatisierung voranzutreiben. Im B2B-Bereich sind Account Based Marketing Tools ein unersetzliches Werkzeug, um in einem komplexen Beschaffungsprozess die richtigen Stakeholder mit relevanten Inhalten und abgestimmten Marketing- und Vertriebsaktivitäten zu adressieren.

6.3 Affirm

Wenn sich Kunden in der Consider-Phase befinden, dann haben sie sich prinzipiell davon überzeugt, dass eine Lösung notwendig ist, und haben bereits eine vage Vorstellung von der Lösung, die sie benötigen. Während dieser Phase versuchen die Kunden, fundiert zu evaluieren, wie sinnvoll die Lösung des Problems für sie ist, und suchen nach einleuchtenden Belegen dafür. Dabei machen es ihnen die Anbieter für gewöhnlich nicht leichter, indem sie vorwiegend noch mehr Informationen, statt Entscheidungshilfen bieten. Denn auch in dieser Phase sucht der Kunde noch nicht nach Produkten oder Anbietern, sondern nach Antworten auf seine Fragen, die jetzt weniger das Problem betreffen, sondern primär die unterschiedlichen Lösungswege, die ihm zur Verfügung stehen, um den Mehrwert der Lösung in Relation zur Investition zu bewerten. Wir erinnern uns: Einer der möglichen Wege ist, nichts zu tun, siehe Abschn. 5.​3. Der Kunde fragt sich: „Was kann ich tun und zahlt sich das aus?“ Es geht ihm nicht darum, etwas Neues zu kaufen. Ein „Eigenbau“ oder eine „Reparatur“ des Problems sind neben dem „Nichtstun“ durchaus valide Optionen. Der Vertrieb geht aber grundsätzlich davon aus, dass der Kunde, wenn er auf der Suche nach Lösungen ist, etwas kaufen möchte.
Was der Kunde in dieser Phase seines Entscheidungsprozesses macht: Er sucht keine Kaufoptionen, sondern er erwägt die diversen Alternativen, um seine Situation zu verändern, sammelt alle möglichen Informationen und versucht, für sich Klarheit zu schaffen. Dieses Vorhaben müssen wir nun unterstützen und dem Kunden helfen, alle Handlungsoptionen zu erkennen und richtig zu bewerten.

6.3.1 Ziel: Lösungsbedarf bekräftigen

Ziel in der Affirm-Phase ist es einerseits, den Kunden auf seinem Weg zur Lösung zu bestätigen. Es geht darum, ihm weitere Beweise dafür zu liefern, dass eine Lösung notwendig ist, sodass er nicht Gefahr läuft, durch die Komplexität der Entscheidung ins „Nichtstun“ zu verfallen.
Parallel dazu müssen wir ihn im Prozess der Entscheidung selbst unterstützen, alle möglichen Lösungsoptionen anführen (inklusive der „Nichtstun“-Alternative), Bewertungskriterien offenlegen und Entscheidungshilfen bereitstellen. Wichtig ist es, dass der Kunde in seinem Bedarf nach einer Lösung bekräftigt wird. Denn sein Problem wird von allein nicht verschwinden. Was impliziert, dass er sich in Bezug auf die Notwendigkeit der Lösung sicher sein muss und alle Zweifel ausgeräumt sind, damit die Bewertung von Optionen unbefangen geschehen kann. Ziel ist es, in erster Linie die „Nichtstun“-Option vom Tisch zu bekommen und ihm zu helfen, die jeweiligen „Tun“-Optionen richtig zu bewerten.

6.3.2 Missverständnis-Potenzial: Nutzen statt Selbstdarstellung

Wir verkaufen immer noch nicht. Denn auch wenn die Auswahl einer Lösung oft die Auswahl eines Anbieters automatisch nach sich zieht, müssen wir verstehen, dass es nicht um den Anbieter selbst geht, sondern um die Lösung des Problems. Wenn die beste Lösung diejenige eines bestimmten Anbieters ist, wird vermutlich auch derjenige Anbieter den Zuschlag erhalten. Aber prinzipiell geht es dem Kunden nicht um denjenigen, der die Lösung bereitstellt, sondern um die Ergebnisse, die er damit erzielen wird.
Auch hier laufen wir Gefahr, einen wesentlichen Beitrag zum Informationslärm zu leisten, indem wir versuchen, möglichst viel Information zu unseren Produkten und Lösungen bereitzustellen, sodass Kunden sich ein klares Bild darüber verschaffen können, was wir alles können. Dabei verfallen wir gerne in die Beschreibung von Produkten und Dienstleistungen, erklären Funktionsweisen, stellen Produktdatenblätter zum Download bereit und laden zu Produktdemos ein. Dem Kunden geht es aber nicht um die Funktionalität Ihrer Lösungen, sondern darum, was er für sich damit erreichen kann. Durch die Betrachtung und die Analyse von Funktionalitäten versucht er, das herauszufinden. Deswegen stehen bei Kunden die Produktdemos oder die Testzugänge auf den Listen der präferierten Ressourcen auch ganz oben.
Vertriebsintelligente Anbieter listen keine Produktfunktionalitäten auf, sondern verbinden alle wichtigen Funktionalitäten ihrer Produkte mit einem Kundennutzen. Jedes relevante Feature wird in Kundennutzen konvertiert. Und in der Kommunikation mit Kunden werden primär die Ergebnisse transportiert, die dadurch erreichbar sind. Anstatt es den Kunden zu überlassen, selbst darauf zu kommen, wie sie durch die Lösung profitieren können, ist es viel zielführender, sich auf die Kommunikation von Nutzen und erzielbaren Ergebnissen zu fokussieren.
Mit dieser Erkenntnis wollen wir in dieser Phase solche Arten der Marketing- und Vertriebskommunikation vermeiden:
  • zu allgemeine Inhalte, die keinen konkreten Kundenmehrwert bieten,
  • selbstdarstellerische Inhalte, die sich auf die Produkte und die Anbieter fokussieren,
  • die eigene Lösung als die beste unter allen anderen anpreisen,
  • dasselbe wiederholen, was alle anderen im Netz kommunizieren.

6.3.3 Notwendiges Verständnis: Kundenprobleme mit eigenen Leistungen verbinden

Während es in den Phasen Educate und Nurture um die Probleme und die Herausforderungen der Kunden geht, die zu lösen sind, um ihre negativen Auswirkungen auf ihre individuelle Situation zu eliminieren, geht es in der Affirm-Phase darum, die Ergebnisse zu transportieren, die mit dem Einsatz der jeweiligen Lösung erreicht werden können. Nicht nur in Zeiten von Internet, es ging Kunden noch nie alleine um die Funktionalitäten von Produkten oder darum, wie toll die Anbieter sind. In ihrem Inneren interessieren sie sich nur dafür, was sie damit erreichen könnten. Dieses Verständnis ist allerdings in den Vertriebsstrukturen selten vorzufinden, noch weniger in den Marketingabteilungen. Eine Situation, die unter digitalen Bedingungen nicht mehr tragbar ist.
Im Wesentlichen verbinden wir die Probleme der Kunden mit der eigenen Lösung und stellen Parallelen zwischen den Kundenbedürfnissen und den Nutzen unserer Produkte her.
Dieses Wissen muss zuerst in der Organisation aufgebaut werden, denn es entsteht nicht von allein. Genauso wenig, wie das Wissen darüber, was Kunden nicht benötigen oder was weniger wichtig ist. Dazu wollen wir keine Produktentwickler befragen, denn sie sind in der Regel sehr funktionalitätszentriert. Wie viel Prozent der Funktionen Ihres Backofens oder Autos kennen Sie und wie viel davon benötigen Sie tatsächlich und nutzen Sie auch? Vermutlich kann man sie an den vorhandenen – eigenen – Fingern abzählen.
Das Verständnis, das tatsächlich notwendig ist, liegt nicht darin, was Ihr Produkt alles kann, sondern nur darin, wofür man es braucht. Sehr gerne stelle ich immer wieder dieselben Fragen in Workshops: Was habe ich als Kunde davon? Wozu brauche ich es? Ja, aber es kann das und jenes … Na und, inwiefern brauche ich es wirklich? Es ist erstaunlich, wie selten man sich tatsächlich mit diesen Fragestellungen beschäftigt, obwohl es das Einzige ist, was ein Kunde wissen will.
Was braucht Ihr Kunde wirklich?
Ermitteln Sie das, was Ihr Kunde wirklich benötigt. Identifizieren Sie die – wenigen – wichtigsten Ergebnisse, die er durch den Einsatz Ihrer Lösung erreicht. Am besten die, die sich auch am stärksten von den anderen Lösungen abheben. Konzentrieren Sie sich nur darauf. Je weniger, dafür aber je wichtiger die Kriterien, die Sie in den Vordergrund stellen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass man den Kunden im Kern seiner wahren Bedürfnisse adressiert. Haben Sie keine Angst, all die anderen Features auszulassen, denn wie wir wissen: Zu viel ist zu viel.
Im konkreten Fall empfehle ich, all die Marketingaussagen, die Vertriebsargumente sowie auch die Produkteigenschaften minutiös durchzugehen und diese Frage kritisch zu betrachten: Was hat denn der Kunde davon wirklich? Welche Ergebnisse kann er dadurch erzielen? Bewerten Sie sie anhand der Wichtigkeit für den Kunden und stellen sie die allerwichtigsten – aus der Kundenperspektive natürlich – in den Fokus.
Welche Optionen hat Ihr Kunde wirklich?
Ein Verständnis aller aus der Kundensicht verfügbaren Optionen ist ebenfalls notwendig. Beginnen Sie auch damit, alle verschiedenen Optionen zu durchdenken, die Ihre potenziellen Kunden als Lösung für ihr Problem in Betracht ziehen könnten. Versuchen Sie, sich in ihre Lage zu versetzen:
  • Können die Kunden es selbst lösen? Was spricht dafür, was spricht dagegen?
  • Handelt es sich um eine Standard-Lösung oder um maßgeschneiderte Konzepte?
  • Wie hoch ist der Grad der Customization?
  • Was passiert, wenn der Kunde nichts tut?
  • Welche externen Optionen stehen zur Verfügung? Was spricht dafür, was dagegen?
  • Welche Hindernisse können aufkommen?
  • Was müssen Kunden bei der Lösungswahl beachten?
  • Brauchen die Kunden externe Unterstützung: Beratung?
Wenn Sie herausfinden, welche Fragen sich potenzielle Kunden in ihren Erwägungen stellen, verschaffen Sie sich ein Verständnis für ihre Situation, womit Sie Botschaften generieren können, um sie direkt bei ihren Anliegen anzusprechen. Damit können Sie dem Kunden einen Spiegel vorhalten und ihn genau dort abholen, wo er ist. Abgesehen davon werden Sie mit dieser gezielten Ansprache auch die Zielgruppe durch die Ansprache selbst qualifizieren und die Leads eingrenzen, die durch Ihre Lösung tatsächlich einen Mehrwert erhalten, womit sich auch die Abschlusswahrscheinlichkeit erhöht und wertvolle Ressourcen im Vertrieb geschont werden.

6.3.4 Touchpoints: Recherchebezogen

In der Consider-Phase ist der Kunde aktiv bei der Evaluierung von mehreren Lösungsalternativen, folglich steigt auch die Anzahl der möglichen Touchpoints. Sie werden naturgemäß unterschiedlich sein, abhängig vom jeweiligen Geschäftsbereich, und können sehr wohl analoge und digitale Formen annehmen. Ein Kunde kann etwa Ihr Geschäft besuchen, um die Steinfliesen bei Tageslicht zu betrachten oder sich ein Muster nach Hause schicken lassen. Ein anderer wird sich die geflieste Fläche bei einem Ihrer Kunden ansehen wollen. Ein Weiterer wird eine AR-Simulation für sein Penthouse haben wollen. Und vielen anderen wird womöglich die Foto-Darstellung auf der Webseite vollkommen ausreichen.
Trotz ihrer Unterschiede ergeben sich ähnliche digitale Touchpoints in der Affirm-Phase:
  • Suchmaschine
  • Webseite, Webshop, App
  • E-Mail -, Social-Media-, Online-Marketing
  • Content-Marketing, Social Selling
  • Online-Präsentationen und Demos
  • Chatbots, KI-Assistenten, interaktive Lösungen
  • Vertriebsabteilungen, Callcenter, Vertriebsmitarbeiter-Profile in den sozialen Medien
  • Dritt-Anbieter, neutrale Quellen, Communities
  • Bewertungsportale, Foren, Vergleichsplattformen
Die Recherche-Phase kann je nach Produkt sehr lange dauern. Und sie wird zunehmend länger. Erinnern wir uns an die Ergebnisse der 2020 Buyer Behavior Study, die feststellte, dass satte 77 % der B2B-Kunden mehr Zeit mit Recherchen im Vergleich zu 2019 verbringen (DemanGen 2020). Dabei konsultieren sie mehr unterschiedliche Quellen, infolgedessen sollten wir ihnen mehr unterschiedliche Touchpoints anbieten.
Die reine Präsenz über die Webseite reicht heute einfach nicht mehr aus. Ein wesentlicher Bestandteil einer Touchpoint-Strategie ist die Verbindung aller Kanäle, um ein einheitliches Erlebnis über die verschiedenen Berührungspunkte hinweg zu gewährleisten. Je personalisierter und genauer auf die Bedürfnisse der jeweiligen Stakeholder abgestimmt, desto effizienter wird Ihre Strategie sein.

6.3.5 Key-Inhalte: Alle Lösungsoptionen

Welche Kanäle auch immer zum Einsatz kommen, wichtig ist es, dass damit die richtigen Inhalte transportiert werden. In dieser Phase sind die Notwendigkeit einer Veränderung und der Bedarf für eine Lösung zwar akzeptiert, aber es steht noch nicht fest, welche Option die beste ist. Demzufolge sollten alle aus der Sicht des Kunden bestehenden Lösungsoptionen aufgelistet und gegenübergestellt werden. Diese Notwendigkeit haben schon einige Anbieter erkannt, insbesondere im Software-Bereich, und bieten ihren Interessenten passende Ressourcen an, um zwischen den unterschiedlichen Anbietern von Lösungen vergleichen zu können. Diese Vergleichsdarstellungen erleichtern den Kunden zwar die Entscheidung, sie sind aber immer noch rein auf den Vergleich von bestehenden Kaufoptionen reduziert. Die Optionen für interne Lösungen oder für „Nichtstun“ fehlen immer noch. Die Anbieter haben zwar den Mehrwert eines Vergleichs erkannt, aber sie gehen davon aus, dass die Kaufentscheidung bereits getroffen sei. Dabei ist nur eine Entscheidung getroffen, nämlich die, das Problem zu lösen, was aber an sich noch keinen Kauf impliziert.
Der Bedarf nach der Lösung eines Problems resultiert nicht zwangsläufig in einem Kaufbedarf.
Die generelle Annahme, dass der Bedarf bereits besteht, kann zu einem großen Missverständnis führen, und zwar aus zwei Gründen:
  • Ein Bedarf nach einer Lösung impliziert nicht unbedingt den Bedarf nach einer Beschaffung einer externen Lösung.
  • Der Bedarf muss in Relation zur Investition gestellt werden. Denn wenn die Investition die bestehenden Möglichkeiten übersteigt, sei es in monetärer, risiko- oder ressourcentechnischer Hinsicht, wird sich der Bedarf in Luft auflösen.
Demnach benötigen wir relevante E-Inhalte (Empfehlungen, Einblicke, Einsichten, Erfahrungen, Erkenntnisse, siehe Kap. 6), die einerseits die Wahl der Lösung unterstützen und zugleich aber auch ihre Notwendigkeit untermauern.
Dazu eignen sich besonders gut Darstellungen von „Was wäre, wenn …“-Szenarien, damit der Kunde sich vorstellen kann, was in unterschiedlichen Fällen passieren könnte. Und wenn man keine konkreten Szenarien darstellen kann, sind „Was wäre, wenn …“-Fragestellungen an sich schon ein gutes Werkzeug, um Kunden zum Nachdenken anzuregen und dabei zu unterstützen, selbst die Szenarien aufzulisten. Führen Sie alle wichtigen Fragestellungen bei der Evaluierung von unterschiedlichen Optionen auf. Zudem sollten die Optionen selbst sowie auch ihr Vergleich möglichst anbieterneutral dargestellt werden und keine Manipulation zu Ihren eigenen Gunsten enthalten. Denn eine Manipulation wird vermutlich erkannt, und dieses Risiko wollen wir nicht eingehen, um das Vertrauen des PHANTOMs nicht zu verlieren.
Transparenz ist der Schlüssel zum Kundenvertrauen
Wenn wir das Vertrauen des Kunden nicht gewinnen, werden wir, trotzt der allerbesten Lösung, aus dem Rennen ausscheiden. Transparenz bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Sie Zugang zu genauen, richtigen und möglichst anbieterneutralen Inhalten gewähren.
Heutzutage verlassen sich die Kunden nie auf eine einzige Option. Durch die Vielfalt von unterschiedlichen Optionen im Internet findet fast immer ein Vergleich statt. Kunden evaluieren in ihrer Consider-Phase mehrere Optionen und können jederzeit auf eine schon zuvor evaluierte Lösung erneut zugreifen oder einfach einen Schritt in ihrem Entscheidungsprozess zurückkehren. Das PHANTOM bildet es sich nicht nur ein, es ist tatsächlich durch die Möglichkeiten der digitalen Welt viel weniger auf einzelne Anbieter angewiesen. Auch nicht auf diejenigen aus seinem Umkreis, so wie es früher der Fall war. Auch nicht auf schon bestehende Lieferantenbeziehungen, wie manche Verkäufer glauben.
Umso wichtiger ist es in diesem Zusammenhang, sich von den anderen Lösungsoptionen zu differenzieren. Am besten geht das, indem man
  • einen neutralen Entscheidungsweg aufzeichnet und darstellt, worauf alles zu achten ist,
  • auf potenzielle Fehler und Stolperfallen hinweist,
  • alle möglichen Lösungsoptionen aufzeigt,
  • Empfehlungen und Einsatzszenarien für die jeweiligen Optionen ausspricht,
  • die zukünftigen Ergebnisse, die erreichbar sind, hervorhebt,
  • Praxiswissen aus den vielen Erfahrungsjahren und umgesetzten Projekten teilt und
  • sich als ein vertrauenswürdiger und hilfsbereiter Partner positioniert.
Während 37 % der Besucher B2B-Webseiten wegen der schlechten Navigation und des nicht benutzerfreundlichen Designs verlassen, sind es ganze 46 % der Besucher, die es wegen der fehlenden Botschaft tun: Es ist ihnen nicht klar, was das Unternehmen macht (Huff Industrial Marketing et al. 2015). Wenn die Besucher nicht erkennen können, was Sie machen und was sie davon haben könnten, ist es ein Wunder, dass sie dann weggehen?
Kunden verlassen Webseiten nicht – nur – wegen der Technik, sondern – vor allem – wegen des Inhalts.
Dieselbe Studie hat ihre Teilnehmer auch dazu befragt, welche Informationen ihnen am meisten auf den B2B-Anbieterwebseiten fehlen. Die Ergebnisse: Details zum technischen Support (59 %), Preisgestaltung (56 %) und Produktbewertungen (43 %).
Was Kunden auf Ihren Webseiten nicht finden
Kunden wollen nicht nur wissen, was Sie zu bieten haben und wie toll Ihre Produkte sind, sondern auch, was passiert, nachdem sie sich für Sie entschieden haben: Support. Sie wollen erfahren, was Ihre Lösungen kosten, am liebsten direkt auf der Webseite, sodass sie nicht extra den Vertrieb kontaktieren müssen: Preis. Und Sie wollen wissen, welche Erfahrungen haben andere mit Ihnen schon gemacht: Bewertungen, Use Cases.
Zu den Bewertungen noch eine andere interessante Diskrepanz zwischen den Kunden und den Anbietern: Kunden sagen aus, dass das Wichtigste für sie der Inhalt der Bewertungen ist. Die Anbieter glauben jedoch, dass die Anzahl oder die Höhe der Bewertung für die Käufer am wichtigsten sei (TrustRadius 2020). Kunden ist es im Grunde egal, wer von Ihnen kauft, sie wollen genau wissen, welche Erfahrungen andere mit Ihnen oder Ihren Produkten gemacht haben. Die wenigsten von uns wollen Versuchskaninchen für eine unbekannte Lösung sein. Wir hätten gerne den Beweis dafür, dass die Lösung, die wir in Betracht ziehen, sich bei anderen als erfolgreich erwiesen hat. „Beweis“ deshalb, weil es dem Kunden wichtig ist, dass die Lösung funktioniert.
Vor allem aber wollen Kunden wissen, welche Ergebnisse die anderen erreichen konnten.
Und was machen die Anbieter selbst? Sie listen Logos im Bereich „Referenzen“ und führen eine Namensliste der Kunden auf. Im Grunde nicht verkehrt, denn je mehr Namen und je bekannter sie sind, desto höher die Annahme, dass Ihre Lösung funktioniert. Aber eine einzige Customer Story mit der Beschreibung der erzielten Ergebnisse ist viel aussagekräftiger als die Auflistung von zig Logos.
Was kann man mit Ihren Produkten erreichen?
Neben der Positionierung als Experte auf diesem Gebiet müssen wir auch die potenziell zu erreichenden Ergebnisse darstellen. Insbesondere in der Consider-Phase, denn es geht hier immer noch um die Lösung selbst, nicht um den Anbieter. Wenn Kunden in dieser Phase Referenzen und Bewertungen konsultieren, dann nur, um zu verstehen, was mit dem Einsatz Ihrer Lösung möglich wäre. Deswegen nutzt es auch wenig, wenn bestehende Kunden uns zwar gut „bewerten“ und uns erlauben, ihr Logo auf dem Marketingprospekt aufzudrucken, aber potenzielle Kunden nicht wissen, welchen Nutzen diese Kunden aus der Zusammenarbeit mit uns gezogen haben. Am besten funktionieren Use Cases, Customer Storys und Projektbeschreibungen mit klarer Darstellung von erzielten Erfolgen. Und falls Sie die Erlaubnis nicht erhalten, den Kundennamen zu erwähnen, sind anonymisierte Use Cases immer noch besser als gar keine.
Noch besser ist es, wenn die Erfahrungsberichte die jeweiligen Branchen und die Kundensituationen ihrer spezifischen Zielgruppen widerspiegeln: je genauer, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Inhalt die individuellen Bedürfnisse der Kunden erfüllt. Technologie kann hier gute Unterstützung leisten und helfen, vorkonfigurierte und auf das spezifische Marktsegment oder die spezifische Situation zugeschnittene und maßgeschneiderte Inhalte zu unterbreiten. Damit wird sich ein potenzieller Kunde mit seinem Problem bei Ihnen am ehesten bestätigt fühlen, in Vergleich zu dem sonstigen Lärm im digitalen Raum. Weil Sie ihm mit diesen maßgeschneiderten Inhalten das Gefühl vermitteln, einer der wenigen zu sein, die ihn und seine speziellen Bedürfnisse versteht.
Haben Sie auch keine Scheu, Erfahrungsberichte zu publizieren, ohne die jeweiligen Kundennamen zu veröffentlichen, falls Ihnen das nicht erlaubt wird. Auch ohne Kundenname funktionieren sie immer noch besser im Vergleich zu einem nichts aussagenden Logo.

6.3.6 Buying Center: Alle Beteiligten identifizieren

Zu diesem Zeitpunkt beginnen die Entscheider-Gruppen, sich zu formieren. Es werden mehr und mehr Personen in die Entscheidung involviert, da die Notwendigkeit einer Lösung anerkannt wurde. Das erste Ziel ist es hier, die relevanten Rollen im Buying Center zu identifizieren und individuell zu adressieren. Denn nur wenn die Bedürfnisse aller erfüllt sind, wird auch der Prozess voranschreiten.
In komplexen Beschaffungen ist der Vertrieb an dieser Stelle im Prozess in der Regel schon persönlich involviert. Einer seiner wichtigsten Aufgaben besteht darin, alle Personen, die in dieser speziellen Situation einbezogen sind, zu identifizieren und sich entweder Zugang zu ihnen zu verschaffen oder anderweitig dafür zu sorgen, dass auf ihre speziellen Bedürfnisse eingegangen wird. Dazu kann man die bestehenden Beziehungen nutzen, aber auch Technologie, siehe „Technologie-Aspekte“ in Abschn. 6.​3.​10.
Die Abstimmung in einem modernen Buying Center kann zu einer besonderen Challenge werden, folglich müssen wir hier aktiv Hilfe leisten: Je schneller alle Beteiligten identifiziert und die Involvierten gezielt darauf hingewiesen werden (etwa, dass die Finanz-Entscheider auch rechtzeitig involviert werden sollten) und je besser alle unterschiedlichen Interessen adressiert werden, desto schneller kommen sie zu einer Einigung, und der Entscheidungsprozess verkürzt sich, folglich auch Ihr Vertriebsprozess. Dabei dürfen mögliche Externe nicht übersehen werden, denn oft tragen sie eine entscheidende Rolle im Entscheidungsprozess, wie etwa Berater, Investoren oder andere Lieferanten.

6.3.7 Inhaltsformen: Distribution vor Produktion

Der beste Weg, um potenzielle Kunden in der Consider-Phase zu erreichen, liegt im strategischen Content Marketing mit allen seinen Inhaltsformen. Wir dürfen nicht voreilig für die eigene Marke und die Produkte werben oder mit aufdringlicher, aggressiver Werbung versuchen zu verkaufen. Stattdessen wollen wir lehrreiche Inhalte bereitstellen, die alle möglichen Lösungen für das Problem des Kunden aufzeigen. Letztendlich ist das Ziel, den Kunden in die engere Auswahl von Optionen zu bringen, die er in seiner Entscheidungsphase in Betracht zieht.
Für die Verteilung von Inhalten sollten unterschiedliche Channels verwendet werden, um die Zielgruppe bestmöglich zu erreichen. Diese lassen sich in drei Überkategorien einordnen: earned, owned und paid Channels, siehe Abb. 6.7.
  • Paid (bezahlte) Medien: sind bezahlte Kanäle, um Inhalte zu transportieren. Dazu zählen beispielsweise Anzeigen in den sozialen Medien, Suchmaschinenwerbung und klassische Werbeformate. Wichtig ist es, dass die Inhalte selbst keinen Werbecharakter aufweisen, sondern relevanten Content transportieren. Hier sollte man zwar bezahlte Werbekanäle nutzen, weil man dadurch schneller von den Zielgruppen gefunden wird, aber transportieren sollten wir wertvolle Inhalte, mit dem Ziel, die Zielgruppe zur eigenen Webseite zu leiten, wo noch mehr Relevanz und Mehrwert geboten wird.
  • Owned (eigene) Medien: sind im Grunde eigene Kanäle wie Webseite, Landingpages, Blogs, Podcasts, Video-Channels, Profile in den sozialen Medien etc., die klassischerweise für Content Marketing verwendet werden. Über diese Kanäle hat man die volle Kontrolle in jeglicher Hinsicht: in Bezug auf den Inhalt, seine Veröffentlichung und die Verbreitung.
  • Earned (verdiente) Medien: sind Medien, in denen man sich die Verteilung im übertragenen Sinne „verdienen“ muss. Dies bedeutet, dass einflussreiche Dritte Ihre Inhalte aus eigenem Antrieb bewerben und teilen oder eigene Inhalte über Ihr Unternehmen oder Ihre Produkte generieren. Beispielsweise ein IT-Dienstleister lobt Ihre Software oder ein beliebter Blogger verlinkt zu Ihrem Beitrag oder ein beliebter Influencer berichtet über die Erfahrung mit Ihren Produkten (in diesem Fall unbezahlt).
Ob owned, paid oder earned: Alle Channels bieten ihre Vorteile aus unterschiedlichen Perspektiven. Bestenfalls beschränken Sie sich nicht nur auf einen dieser Ansätze, sondern nutzen einen Multi-Channel-Ansatz. Der Vorteil liegt darin, dass die Inhalte potenzielle Neukunden auch Jahre später nach ihrer Veröffentlichung anziehen können, wenn sie strategisch platziert worden sind.
Distribution vor Produktion
Wichtig ist es, sich nicht nur auf die Generierung von Inhalten zu konzentrieren, sondern vor allem auf ihre Distribution (Verteilung). Denn viele missverstehen den Ansatz und nehmen an, sie müssten ständig neuen Content produzieren, was sehr ressourcenintensiv ist. Die wahre Kunst liegt darin, lieber weniger, dafür aber wertvollen Inhalt zu produzieren und ihn möglichst oft und an den richtigen Stellen zu platzieren, um die größtmögliche Reichweite innerhalb der Zielgruppe zu erhalten. Die Bedeutung der größtmöglichen Verteilung des Contents darf nicht unterschätzt werden. Machen Sie nicht den Fehler – so wie viele andere – anzunehmen, dass es ausreicht, Inhalte auf der eigenen Website zu veröffentlichen und sie dann – einmal – in einem Beitrag in den sozialen Medien zu teilen.
Sinnvoll ist es, denselben Inhalt in unterschiedlichen Formen zu transportieren. Dies ist nicht nur effizient, sondern erlaubt es auch, unterschiedliche Präferenzen der Zielgruppe zu erfüllen. Die Formen, um die Inhalte zu verteilen, können sehr vielfältig sein: Lehrvideos, Erklärvideos, Events, Webinare, Präsentationen, Analysen, Anleitungen, Lösungsweg-Darstellung, Guides, Infografiken, Bilder & Fotos, Vlogs, How To’s, Do’s & Dont’s, Quizze, Diskussionsrunden, Optionsvergleiche, Konfiguratoren, Interviews, Customer Storys, Use Cases, Interaktive Modelle, ROI-Kalkulatoren, Leitfäden, Checklisten, E-Books, Demos, Erfahrungsberichte, Bewertungen, FAQ, Q&A-Sessions, Buyer Guides, Decision Tree u. v. m.
Vielfältig, aber strategisch
Auch hier wollen wir nicht überfordern: Sie können durchaus viele unterschiedliche Formen nutzen, um die Inhalte zu vervielfältigen, sollten sie aber strategisch an unterschiedlichen Orten für die jeweiligen Involvierten im Entscheidungsprozess positionieren, sodass eine einzelne Person nicht von der Masse an Informationen überwältigt wird.
Um die richtigen Formen auszusuchen, ist ein tiefes Verständnis der Zielgruppe notwendig. Bleiben wir bei den unterschiedlichen Generationen als Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit, dass Kunden der Generation Z und der Millennials ein Produkt über Online-Kanäle entdecken, ist fast doppelt so hoch wie bei älteren Generationen, die eher auf bestehende Beziehungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit zurückgreifen (Trustradius 2020, S. 1). Jüngere Generationen (Z und Y) ziehen tendenziell kürzere Inhalte in visueller Form vor (Infografiken, Bilder und Videos). Die Generation X dagegen liest lieber längere Artikel und konsultiert die Fachpresse und Marktberichte.
Beachten Sie auch die neuen SEO Trends, wie Bild-, Voice-, Video- und Local-Search, und natürlich vor allem Mobile-SEO, die zunehmend an Wichtigkeit, vor allem bei den jüngeren Generationen gewinnen, siehe Abb. 6.8.
In jedem Fall sollten die Inhalte zur Selbstbedienung angeboten werden, denn diese Vorliebe setzt sich zunehmend bei allen Generationen durch. Entfernen Sie alle Barrieren zum Content und beseitigen Sie die möglichen Sackgassen. Wenn der Kunde seine Self-Service-Reise begonnen hat, sollte er nicht irgendwo an einem Punkt landen, wo er seine Antwort nicht gefunden hat, und von vorne beginnen oder auf alternative Quellen umsteigen muss. Dem kann man mit interaktiven Formen der Inhaltsbereitstellung entgegenwirken, wie zum Beispiel mit Assistenz-Bots oder gezielter und selektiver Navigation durch die Webseiteninhalte. Wenn es um Selbstbedienung geht, ziehen Kunden vermehrt interaktive Formate statischen Webseiten vor, was durch den Zeitmangel und die Flut an Informationen bedingt ist. Vermeiden Sie es, zu viel Information am Stück zur Verfügung zu stellen, sondern präsentieren Sie sie selektiv anhand ihres Mehrwerts für die jeweiligen Personas.

6.3.8 Aktivitäten: Pull vor Push

Wie wir wissen, führen immer mehr Informationen, mehr Optionen und mehr Personen, die in den Kaufprozess involviert sind, dazu, dass Kunden in ihren Entscheidungen gebremst und teilweise gelähmt werden. Folglich sollten alle Marketing- und Vertriebsaktivitäten darauf ausgerichtet sein, die Kunden auf ihrem Entscheidungsweg und in ihrer Entscheidungsfähigkeit zu bestätigen. Dazu bedienen wir uns auch hier passiver und aktiver Maßnahmen. Zu den passiven gehören die zuvor beschriebenen Content-Strategien und zu den aktiven Maßnahmen zählen die Aktivitäten der Vertriebsmitarbeiter und sonstige Engagement-Ansätze, wie ABM-Strategien oder E-Mail-Marketing.
In Marketingfachkreisen wird zwischen Pull-Pusch- oder Inbound-Outbound-Strategien unterschieden. Vereinfacht ausgedrückt, bedeutet Push-Marketing, dass man die eigene Marke und die Produkte der Zielgruppe aktiv „pushed“, was „erzwingen“ bedeutet, in der Regel mit bezahlter Werbung oder Akquiseaktivitäten. Pull-Marketing hingegen bedeutet die Umsetzung einer Strategie, die auf natürliche Weise das Interesse der Kunden an der Marke oder den Produkten weckt, in der Regel mit relevanten und interessanten Inhalten. Im Grunde gehen wir mit dem Push-Ansatz aktiv auf Kundensuche und mit dem Pull-Ansatz baut man die Voraussetzungen dafür, dass man von Kunden gefunden wird. Beide Ansätze haben – mit den richtigen Inhalten – ihre Berechtigung und oft wird eine Kombination sinnvoll sein. In der Recherche-Phase ist der Pull-Ansatz der wirksamere, weil man damit auf das Verhalten des modernen Kunden besser eingeht.
Aktiv, aber nicht invasiv
Bei den aktiven Maßnahmen sollten wir darauf achten, dass sie nicht zu invasiv sind. Insbesondere bei Push-Ansätzen ist Vorsicht geboten, weil sie als Belästigung empfunden werden könnten. 74 % der Verbraucher halten Push-Benachrichtigungen auf ihren Smartphones für den invasivsten Kanal, weil sie ihr Telefon als ein alltägliches Werkzeug betrachten, das Teil ihres persönlichen Raums ist (SmarterHQ 2020). Somit können Push-Nachrichten jeder Art, inklusive der Messenger-Dienste wie WhatsApp, als Eingriff in die persönliche Sphäre gesehen werden und das Gegenteil der erhofften Wirkung erzielen.
Kunden lehnen invasive Marketing- und Vertriebsmethoden vehement ab.
Auf die Frage, was sie an Marketing am meisten stört, bringen die B2B-Käufer an erster Stelle E-Mails und an zweiter Stelle Kaltanrufe vor, gefolgt von aggressiven Verkäufern, uniformierten Verkaufsgesprächen und nicht personalisierter Kommunikation (Trustradius 2020). Die Studie ging noch einen Schritt weiter und befragte die Kunden, wie wahrscheinlich es sei, dass sie auf diese Taktiken reagieren würden. Das Ergebnis spricht für sich: Über 90 % der Käufer sagen, dass sie auf nicht personalisierte Nachrichten und auf Cold Calls „überhaupt nicht“ reagieren würden. Kein Wunder – Wer liebt schon kalte Anrufe? Doch statt ein Verständnis für die Bedürfnisse der Zielgruppe aufzubauen, wird der Vertrieb weiterhin beharrlich in Kaltakquise-Techniken geschult, die Kunden einfach kaltlassen. Nicht einmal die Einkäufer reagieren darauf, deren Job es ist, potenzielle Lieferanten zu finden, geschweige denn beschäftigte Entscheider. Eine noch größere Diskrepanz zwischen Vertriebsaktivitäten und Kundenerwartungen ist kaum vorstellbar.
Dasselbe betrifft Social-Selling-Aktivitäten von Vertriebsmitarbeitern. Denn auch hier haben wir es mit einem Missverständnis dieses Ansatzes zu tun: Anstatt anzurufen und E-Mails zu schreiben werden nun beispielsweise InMails auf LinkedIn genutzt, um Kunden aktiv zu akquirieren. Diese Methoden gehören ebenso zu der Kategorie „unerwünscht“ und zählen zu den ausgedienten Ansätzen. Denn sie machen nichts anderes als dasselbe wie in der Vergangenheit, nur halt auf neuen Channels. Social Selling, richtiggemacht, kann ein sehr wirksames Werkzeug sein, dabei geht es aber keinesfalls darum, Kunden mit Selbstdarstellungsnachrichten in den sozialen Medien zuzuspammen.
Social Selling beschreibt ein Prozess zum gezielten Aufbau von Beziehungen über soziale Netzwerke als Teil des Vertriebsprozesses. Im Mittelpunkt steht der direkte Dialog mit Kunden, der durch die Bereitstellung von relevanten Inhalten entsteht und Kunden einen Mehrwert bietet. Nicht der Verkauf und die Akquise stehen im Vordergrund, sondern der Aufbau eines Netzwerks innerhalb der eigenen Zielgruppe, das auf lange Sicht – indirekt – zu mehr Geschäft führt.
Es geht um den Aufbau von Vertrauen und um die Demonstration von Expertise im jeweiligen Fachgebiet. Ziel ist es hier, sich als wertvolle Quelle von relevanten Inhalten zu positionieren, sodass Kunden selbst den Wunsch entwickeln, den Anbieter zu kontaktieren.
Es ist wichtig, daran zu denken, dass Interessenten in der Consider-Phase nach möglichen Lösungen suchen und nicht einen Kauf tätigen wollen. Wenn wir möchten, dass sie uns ernsthaft als eine potenzielle Lösung in Betracht ziehen, müssen wir Verständnis für ihre Situation demonstrieren, indem wir ihnen zeigen, dass wir ihr Problem verstehen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Vertriebsmitarbeiter in der Affirm-Phase, denn hier entsteht oft schon ein erster direkter Kontakt. Wenn wir unsere Arbeit in den vorigen Phasen richtiggemacht haben, entwickelt der Kunde freiwillig das Bedürfnis, mehr mit uns und unserem Unternehmen zu interagieren. Durch den Fokus auf die für seine Entscheidung wichtigen Inhalte ist er der Annahme, er würde von einem Kontakt noch mehr profitieren, weil er vielleicht noch mehr Wichtiges erfährt.
Was hier nicht passieren darf, ist, den potenziellen Kunden zu enttäuschen, was aber zweifelsohne passieren wird, falls er den Eindruck gewinnt, dass ihm etwas aktiv verkauft wird. Die Aufgabe des Vertriebs ist bei diesem ersten Kontaktversuch, Antworten auf folgende Fragen zu finden:
  • Wo befindet sich die Person im Entscheidungsprozess?
  • Welche Rolle spielt sie im Entscheidungsgremium?
  • Welche Herausforderungen hat sie im Prozess selbst?
  • Was wurde schon gemacht und welche Unterstützung wird benötigt?
Um dann genau die Unterstützung zu bieten, die der Kunde sich in diesem Moment wünscht. Achtung: Es geht nicht darum, dass dem Kunden genau die gestellte Frage beantwortet wird bzw. dass man ihm eine Information bereitstellt, sondern dass ihm die notwendige Unterstützung geboten wird. Dazu muss man die Situation verstehen und vor allem die Frage beantworten: Was will der Kunde erreichen? Damit wird der Kunde in seinem Vorhaben, Sie zu kontaktieren, bestätigt und sein sich entwickelndes Vertrauen wird verstärkt, womit sich uns ein potenzieller Zugang zu seinem Entscheidungsprozess eröffnet.
Bei der Planung von Aktivitäten ist es wichtig zu verstehen, inwiefern der Kunde eine Unterstützung in seinem Entscheidungsprozess überhaupt benötigt. Dazu wird in der Analyse des Kundenbeschaffungsprozesses sein Eigenständigkeitsgrad in den jeweiligen Entscheidungsphasen ermittelt, siehe „Digitale Transformation im Vertrieb“ (Rainsberger 2021a). Beispielsweise wird für eine Entscheidung darüber, welches Druckpapier man kauft, vermutlich keine telefonische Vertriebsberatung benötigt und für eine Druckmaschine vielleicht doch noch.

6.3.9 Engagement: Nicht erzwungen

In der Affirm-Phase wollen wir vor allem interaktive, antizipative und personalisierte Engagement-Formen aufbauen. Ziel ist es, eine möglichst individualisierte Erfahrung zu gestalten. Dazu wollen wir in einen Dialog mit Interessenten treten, statt Informationen einfach von innen nach außen zu transportieren. Am besten erreicht man das PHANTOM, indem man ihm die Kontrolle über sein Erlebnis überlässt. Dies ist die höchste und die effektivste Form der Personalisierung, die Kunden heute auch erwarten. Am besten geschieht dies unter Berücksichtigung des Unterhaltungsfaktors unserer EEE-Welt, Stichwort Enthusiasmus. Denn das Kind in uns wird humorvolle, originelle und unterhaltsame Interaktionsformen willkommen heißen, die natürlich nicht zu banal sein dürfen.
Je mehr der Kunde mit Ihnen interagiert und je mehr Informationen er mit Ihnen teilt, desto personalisierter soll seine Erfahrung sein. Dabei wollen wir ihn mit „gruseligen“ datenbezogenen Taktiken nicht abschrecken, sondern einen kontinuierlichen Dialog in beide Richtungen führen und nicht jedes Mal von vorne beginnen. Insbesondere bei bestehenden Kunden, die wiederholt kaufen und im Zuge dessen erneut die Consider-Phase durchlaufen, sollte die Kundenerfahrung auf der Grundlage ihrer bekannten Interessen und der Kaufhistorie personalisiert werden.
Dabei dürfen die Einfachheit und die Schnelligkeit in der Kundenerfahrung nicht vergessen werden. Wie wir bereits wissen, ist die Reaktionsgeschwindigkeit eines der wichtigsten Kriterien im Entscheidungsprozess der Kunden. Aber auch die Reaktionszeiten unterscheiden sich anhand der Engagement-Form. Wenn jemand eine Angebotsanfrage geschickt hat, dann erwartet er eine sofortige Antwort. Wenn jemand ein Kontaktformular ausgefüllt hat, dann erwartet er eine Reaktion demnächst. Und wenn jemand ein Formular ausgefüllt hat, um ein Whitepaper herunterzuladen, bedeutet das nicht, dass er überhaupt mit jemandem sprechen will. Abgesehen davon, ist von solchen Praktiken erzwungener Interaktion abzusehen.
Unternehmen müssen verstehen, dass man Interaktion nicht erzwingen kann, und schon gar nicht mit dem Vorenthalten von Informationen. Im Gegenteil, das Ziel ist es, den freiwilligen Wunsch zur Interaktion durch Mehrwert auszulösen.
Den möglichen Mehrwert erkennt ein potenzieller Kunde anhand der Qualität und der Relevanz der von Ihnen gebotenen Inhalte. Viele Unternehmen sehen sich immer wieder mit Bedenken konfrontiert, wichtige Inhalte im Netz offen bereitzustellen. Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit dieses Ansatzes innerhalb von Unternehmen in stark konkurrierenden Marktsegmenten zu schaffen, ist schwer. Die Angst, auf diese Weise die eigene Konkurrenz zu stärken, ist verständlich. Aber mal ehrlich: Die Konkurrenz findet immer einen Weg, wenn sie will, oder?
Beim PHANTOM-Kunden ist es anders. Er muss es wollen. Und wollen wird er es in der Regel nur dann, wenn er sich die Information nicht auf andere Weise beschaffen kann. Indem man Kunden wertvolle Informationen vorenthält, ob aus Angst oder mit der Intention, Kontaktdaten zu sammeln, tut man sich selbst keinen Gefallen. Denn der PHANTOM-Kunde wird andere – offene – Wege gehen, die ihm heute vermehrt zur Verfügung stehen. Die Unternehmen sollten die Risiken dieses Ansatzes kritisch und faktisch betrachten. Wo verliert man und wo gewinnt man mehr: bei der Konkurrenz oder bei den potenziellen Kunden?

6.3.10 Technologie-Aspekte: Analytics und Automation

In der Affirm-Phase gibt es verschiedene technologische Aspekte, die zu berücksichtigen sind und die es uns ermöglichen, die Kundenerfahrung zu optimieren:
  • Analytics bieten unterschiedlichste Ebenen von Analysen für Zwecke der Optimierung von Marketingaktivitäten. Dazu steht uns inzwischen eine breite Palette an Anwendungen und Anbietern zur Verfügung, die diese analytische Arbeit im Hintergrund erledigen und dem User relevante Informationen aller Art und im bequemen Format bieten, siehe Abb. 6.9. Für zeitgemäße Marketingaktivitäten ist der Einsatz solcher Tools unerlässlich, denn wir müssen unsere Ansätze und Inhalte, unser Design sowie die User Experience an die ständig wachsenden und wandelnden Bedürfnisse der Zielgruppe anpassen. Und das geht nur, wenn wir sie laufend analysieren.
  • Tracking Tools erlauben es, nachzuvollziehen, wer sich für die Inhalte interessiert, in welcher Tiefe und wie damit interagiert wird. Dies kann nützlich sein, um neue unbekannte Zielgruppen zu identifizieren, die eigene Zielgruppe besser zu verstehen und auch die Individuen innerhalb eines Buying Centers zu identifizieren. Dazu gehören beispielsweise Sales Enablement Tools, die erlauben zu tracken, wer mit dem Content interagiert sowie auch Sales Intelligence Tools, KI unterstützte CRM-Systeme oder Analytics. Damit können Sie genau sehen, wer, wann und wie lange mit Ihren Inhalten interagiert, was wichtige Einblicke für die Steuerung und die Unterstützung des Entscheidungsprozesses auf der Kundenseite bietet.
  • ABM – Account Based Marketing ist in komplexen Entscheidungen mit großen Buying Centern unumgänglich. Das sind Tools, die eine zielgerichtete und personalisierte Ansprache von Zielkunden mit abgestimmten Marketing- und Vertriebsaktivitäten über den gesamten Entscheidungsprozess und für alle Entscheider im Buying Center ermöglichen. Darunter finden sich Tools, die sich auf die Gewinnung von neuen Accounts spezialisieren, und auch solche, die auf den Geschäftsaufbau mit bestehenden Kunden fokussieren.
  • Automatisierungstools sind heute eine Voraussetzung im zeitgemäßen Marketing. Die Menge an Aufgaben im digitalen Raum steigt stets an und ihre Planung, Koordination und Umsetzung ist mit manuellen Ressourcen kaum noch leistbar. Ohne Automatisierung wird heute keine Marketingabteilung mehr auskommen können. Abgesehen davon kann moderne Technologie viele Tätigkeiten im Marketing besser und schneller erledigen. Es gibt zahlreiche Anwendungen und Tools, die im Marketing gut unterstützen können: von der Automatisierung der klassischen Aufgaben im E-Mail-Marketing, über die Automatisierung von Social-Media- und Content-Aktivitäten und bis hin zur Dynamischen Zielgruppenansprache und automatisierten Interaktion mit Interessenten, siehe Abb. 6.10.
Weitere Technologien, wie Augmented Reality und Virtual Reality können simulierte Umgebungen schaffen, die den Kunden helfen, den potenziellen Wert eines Angebots besser zu erfassen. Dadurch entsteht ein zusätzlicher Mehrwert, und der Inhalt gewinnt eine neue Bedeutung. KI-unterstützte Lösungs- und Produkt-Konfiguratoren ermöglichen es, schnell eine maßgeschneiderte Produktlösung zusammenzustellen und ein Angebot zu erstellen, sodass Kunden keine langen Wege auf sich nehmen müssen oder auf die Öffnungszeiten und die Reaktionsgeschwindigkeit des Vertriebs angewiesen sind. Eine detaillierte Beschreibung der vielfältigen technologischen Möglichkeiten für den Vertrieb finden Sie in „Digitale Transformation im Vertrieb“ (Rainsberger 2021a).

6.4 Brainwash

Die Brainwash-Phase spiegelt die Interact-Phase im Entscheidungsprozess des Kunden wider. Zu diesem Zeitpunkt ist der Kunde immer noch beim Recherchieren, allerdings steht die Lösung meist schon fest, und es geht dem Kunden primär darum, zwischen den unterschiedlichen Anbietern zu wählen. Je nach Geschäftsbereich kann diese Phase ohne jegliche Interaktion des Vertriebs stattfinden, falls der Kunde alle notwendigen Informationen auf digitalen Wegen erhalten hat. Ansonsten erfolgt in dieser Phase der Erstkontakt, insbesondere im B2B-Bereich. Hier sind wir im Wesentlichen an der 70-Prozent-Schwelle angelangt, siehe Abb. 4.​3 im Kap. 4.
Der Kunde ist in der Regel gut informiert, und unter den Beteiligten herrscht eine grundsätzliche Einigung über die Notwendigkeit der Investition. Jetzt geht es darum, die Annahmen zu validieren und die Investition in Relation zum Mehrwert der Lösung zu bewerten. Ihr Interessent sieht sich jetzt die Optionen genauer an, die machbar und sinnvoll erscheinen. Darunter auch Ihre. Jetzt ist es an der Zeit, ihm zu zeigen, warum er Ihre Unterstützung bei der Evaluierung benötigt. Wenn Sie den Interessenten über die vorherigen Entscheidungsphasen (Discover, Explore, Consider) gut angeleitet haben, wird sich Ihre Vorarbeit nun auszahlen. Er wird auch auf Sie bei der Evaluierung der potenziellen Lieferanten zurückkommen, wenn Sie ihn von der Unkenntnis über die Problemerkennung zur Lösungsidentifikation geführt haben. Und sofern er aus Ihren Ressourcen den größten Mehrwert gewinnen konnte, wird er höchstwahrscheinlich auch auf Ihre Expertise zurückgreifen und Ihnen einen Vertrauensvorschuss gewähren.

6.4.1 Ziel: Richtige Perspektive schaffen

Jetzt, wo der Kunde aktiv in Interaktion tritt, müssen wir zwei Dinge tun:
  • Ihm neue und für seine spezifische Situation relevante Perspektiven eröffnen, die er noch nicht selbst erkannt hat.
  • Zeigen, wie sein Problem mit Ihrer Lösung gelöst wird und welche konkreten Ergebnisse er in seiner spezifischen Situation erzielen wird.
Streng genommen verfolgen wir das Ziel, dem Kunden zu helfen, seine Situation auf eine neue – richtigere – Art zu betrachten – erhellen – und parallel dazu aufzuzeigen, welche handfesten Ergebnisse er durch den Einsatz unserer Lösung erzielen wird – bekräftigen.
Wir wollen die richtige Perspektive schaffen und das zukünftige Ergebnis aufzeigen.

6.4.2 Missverständnis-Potenzial: Das Produkt ist nicht das Ziel

Einer der größten Missverständnisse hier liegt darin, dass man annehmen könnte, jetzt sei es endlich Zeit, das eigene Produkt und die Lösung in den Vordergrund zu stellen. Dieses Missverständnis basiert auf der Fehlannahme, dass man sich und seine Produkte gegenüber der Konkurrenz glänzen lassen sollte, sobald Kunden mit der detaillierten Anbieterevaluierung beginnen. Auch wenn wir dem Kunden aufzeigen, wie seine Probleme von unseren Lösungen und Produkten gelöst werden können, geht es hier nicht darum, in den Verkaufs- oder Präsentationsmodus zu wechseln und einen „Sales Pitch“ abzuliefern. Wir lassen uns weiterhin, so wie in den vorigen Phasen, von dem Bestreben leiten, den Kunden zu befähigen, für sich die richtige Entscheidung zu treffen. Denn es geht immer noch um seine Entscheidung und nicht um unsere Produkte. Aber wenn wir ihm aufzeigen, welche Ergebnisse er mit unserer Lösung erzielen kann – am besten natürlich solche, die die Konkurrenz nicht bietet und die für den Kunden auch relevant sind –, wird sich unsere Lösung von sich aus in der Auswahlliste nach vorne katapultieren, ohne dass wir speziell für sie werben müssen.
Dies ist der beste Ansatz, um sich zu differenzieren. Man unterscheidet sich von allen anderen Anbietern dadurch, dass man den Fokus statt auf Lösungen auf die zukünftigen Ergebnisse legt: Was kann man damit erreichen? Am Ende des Tages ist es genau das, was ein Kunde in Wirklichkeit anstrebt. Denn er benötigt Ihre Lösung per se nicht. Er möchte damit etwas erreichen und genau dieses Endergebnis wollen wir aufzeigen. Erinnern wir uns kurz an die Studie von Rain Group, die untersuchte, was die Gewinner von den Zweitplatzierten unterscheidet, siehe Abschn. 4.​4. An dritter Stelle stand: Hat mich davon überzeugt, dass wir mit der Lösung Ergebnisse erzielen werden (Rain Group 2021). Das ist ein guter Beleg dafür, aber wenn man darüber nachdenkt, ist es nur noch logisch:
Die Lösung und das Produkt ist nur ein Weg, ein Mittel zum Zweck, nie das Ziel selbst.
Erinnern wir uns: An oberster Stelle der Gründe, warum sich die Anbieter für jemanden entscheiden, stand: Hat mir neue Ideen und Perspektiven geboten (Rain Group 2021). Und genau das wollen wir in dieser Phase dem Kunden bieten. Denn das nächste große Missverständnis der Verkäufer liegt in der Annahme, der Kunde sei informiert und dass, wenn er schon die unterschiedlichen Lösungen evaluiert habe und nur noch eine, zwei letzte Aufklärungsfragen offen seien, er seinen Recherchejob gut erledigt hat und dass er wisse, was er braucht. Je später im Beschaffungsprozess der Vertrieb involviert wird, desto eher nehmen Verkäufer an, dass der bis an die Zähne mit Informationen bewaffnete Kunde sich über seine Bedürfnisse und die richtigen Lösungsanforderungen im Klaren sei. Der Kunde mag zwar dieser Überzeugung sein, aber er kann durchaus falschliegen. Erinnern wir uns an meinen Ferrari-Bürostuhl.
Nur weil der Kunde viele Informationen besitzt, ist er deswegen nicht unbedingt wissender: Denken wir an unser pseudoinformiertes PHANTOM. Wie wir wissen, besteht die Ironie darin, dass mehr Informationen nicht unbedingt zu mehr „richtigen“ Erkenntnissen führen, sondern sogar das Gegenteil der Fall sein kann. Die Vertriebsmitarbeiter tendieren aber zu der Annahme, dass der Kunde gute Entscheidungen selbst treffen könne, und trauen sich selbst nicht zu, in den Entscheidungsprozess der Kunden einzugreifen, sondern versuchen, bestmöglich auf die Wünsche der Kunden einzugehen.
Ein Wunsch ist nie einem Bedürfnis gleichzusetzen
Ich will einen Stuhl, mein Bedürfnis besteht aber darin, meine Rückenschmerzen loszuwerden. Im zeitgemäßen Vertrieb ist es überaus wichtig, klar zu unterscheiden: Welches Bedürfnis versteckt sich hinter dem geäußerten Wunsch? Oft wissen Verkäufer mehr über die möglichen Bedürfnisse als ihre Kunden, weil sie den Kaufprozess bei jedem neuen Verkauf immer wieder durchlaufen. Interessenten und Käufer erleben diesen einen Kaufprozess vielleicht nur ein- oder zweimal in ihrem Leben. Folglich entsteht bei ihnen oft eine unbewusste Diskrepanz zwischen Wunsch und Bedürfnis, die schlimmstenfalls zu mehr Problemen führt.
Das Bewusstsein über solche Diskrepanzen und die Wichtigkeit dieses Wissens fehlen in den meisten Vertriebsorganisationen. Gute Vertriebsmitarbeiter machen das instinktiv und unbewusst. Den Kunden auf solche Diskrepanzen hinzuweisen, braucht aber Methodik und bewusste Anwendung. Denn mit diesem Wissen bringen wir unsere Kunden zum Nachdenken und bieten ihnen neue Perspektiven an, wodurch es ihnen möglich wird, wichtige Erkenntnisse in Bezug auf ihre Beschaffung zu gewinnen.

6.4.3 Notwendiges Verständnis: Irrationale Entscheidungen

Letztendlich wollen wir den selbstüberzeugten Kunden aufrütteln, ihm im übertragenen Sinne den Kopf waschen, damit er einen Aha-Moment erlebt und erkennt, dass er Sie und Ihre Einsichten benötigt. Deswegen heißt diese Phase „Brainwash“, weil es hier um das Aufwecken geht. Darum, die Aufmerksamkeit des Kunden darauf zu richten, wo die möglichen Gefahren in seiner Entscheidung liegen. Wir wollen ihn vor einer Fehlentscheidung bewahren, die wesentlich häufiger vorkommt, als wir alle annehmen. Denn nicht nur Kunden, sondern wir alle nehmen fälschlicherweise an, dass wir überwiegend richtige Entscheidungen treffen. Zu dieser Überzeugung verleitet uns unsere Psyche. Unser Gehirn spielt uns oft einen Streich. Wir machen ständig Denkfehler und erkennen es gar nicht. Die Rede ist von den sogenannten kognitiven Verzerrungen, die die Verhaltensforschung entdeckt hat und wofür sie im Laufe der Jahre zahlreiche Belege erbracht hat. Dafür wurde sogar ein Nobelpreis verliehen.
Kognitive Denkfehler
Auch wenn wir uns für rationale Wesen halten, sind wir in Wirklichkeit nicht selten Opfer unseres Gehirns, wie die Verhaltensforschung bereits des Öfteren aufgezeigt hat. Im Hintergrund geschehen unbewusste Abläufe, die die Qualität unserer Entscheidungen beeinflussen. Folglich nehmen wir an, rationale Entscheidungen zu treffen, obwohl sie oft irrational sind und von ganz anderen Faktoren beeinflusst werden, als uns bewusst ist.
Wissenschaftler (Amos Tversky, Daniel Kahneman, Robert Cialdini, Peter Wason, Norbert Schwarz, Richard Thaler u. a.) sprechen von sogenannten kognitiven Verzerrungen (cognitive bias), die als Denkfehler im Prozess der Informationsverarbeitung und -interpretation auftreten. Unter den bekanntesten und auch in unserem Zusammenhang relevantesten kognitiven Verzerrungen zählen:
  • Der Anker-Effekt (anchor bias): Entscheidungen werden durch einen bestimmten Bezugspunkt beeinflusst, der als „Anker“ bezeichnet wird. Sobald der Wert des Ankers festgelegt ist – und dieser kann rein zufällig sein – werden die nachfolgenden Einschätzungen der Person davon beeinflusst. Der Anker-Effekt ist gut in Verhandlungssituationen zu beobachten: Der erstgenannte Preis beeinflusst die restlichen Verhandlungen. Dabei muss die Information keinen direkten Bezug zum Thema haben. Eine beliebige – erstgenannte – Zahl kann einen Einfluss auf die darauffolgenden Entscheidungen haben. Der Denkfehler liegt darin, dass wir annehmen, alle Faktoren rational und voneinander unabhängig zu berücksichtigen, dabei sind wir aber von der ersten Information, die wir erhalten, beeinflusst. Vielleicht eine Erklärung dafür, warum die Anbieter, die als Erste auf Anfragen reagieren, auch meistens die Zuschläge erhalten?
  • Der Bestätigungseffekt (confirmation bias): Bei dieser kognitiven Verzerrung werden die Entscheidungen von schon vorhandenen Meinungen und Überzeugungen beeinflusst. Wir glauben zwar, mehrere Alternativen zu berücksichtigen, in Wirklichkeit treffen wir aber zuerst eine Annahme, die auf unseren vorhandenen Meinungen basiert, und interpretieren alle zukünftigen Informationen so, dass sie diese erste Annahme bestmöglich bestätigen. Alles andere, was dagegen spricht, die „kontraproduktiven“ Informationen, die unsere Annahme widerlegen würden, blenden wir aus. Der Denkfehler besteht darin, dass wir annehmen, die Situation objektiv betrachtet zu haben, in Wirklichkeit bestätigen wir bestehende Überzeugungen, anstatt sie im Sinne einer besseren Entscheidung zu hinterfragen. Vielleicht eine gute Erklärung für die Anforderungskataloge, die auf einen bestimmten Anbieter genau zugeschnitten zu sein scheinen?
  • Die Verfügbarkeitsheuristik (availability heuristic): In diesem Fall geht unser Denken die kürzesten Wege und verlässt sich auf die Informationen, die uns am schnellsten in den Sinn kommen, beispielsweise kürzlich gehörte Informationen eines Konkurrenten oder solche, die uns stark beeinflusst haben, wie etwa die schlechte Erfahrung mit einem Produkt oder Lieferanten. Der Denkfehler besteht darin, dass wir annehmen, gute Argumente für unsere Entscheidungen zu haben, stützen uns aber in Wirklichkeit auf Informationen, die am leichtesten aus unserem Gedächtnis abrufbar sind. Vielleicht eine gute Erklärung dafür, warum immer wieder – nur – dieselben Lieferanten in die engere Auswahl gezogen werden?
  • Schnelles-langsames-Denken (fast and slow thinking): Bei dieser kognitiven Verzerrung geht es darum, dass unser Gehirn immer versucht, möglichst wenig Energie bei Entscheidungen zu verwenden. Die meisten unserer täglichen Entscheidungen treffen wir intuitiv mit dem sogenannten System 1 (schnelles Denken). Damit sind wir zwar schnell, können aber oft danebenliegen. Das System 2 ermöglicht langsames und logisches Denken, wodurch wir Entscheidungen bewusst treffen, ist aber aus der Sicht unseres Gehirns mit mehr Anstrengung und Energieaufwand verbunden. Folglich gehen wir unbewusst den leichteren Weg und nutzen das System 1, glauben aber, System 2 anzuwenden. Der Denkfehler liegt darin, dass wir zwar annehmen, eine logische und rationale Entscheidung getroffen zu haben, es war aber pure Intuition. Vielleicht eine gute Erklärung dafür, warum viele Marken an unser intuitives System appellieren?
  • Die Verlustaversion (loss aversion): Dieser kognitive Fehler verleitet uns dazu, im Vergleich zu einem möglichen zusätzlichen Gewinn in der Zukunft, an dem, was wir schon besitzen, stärker festzuhalten. Die Angst, etwas zu verlieren, ist größer als die Aussicht auf einen Gewinn. Folglich tendieren wir dazu, das, was wir schon haben, zu beschützen und zu verteidigen, anstatt uns neuen Themen zu öffnen, deren Ausgang ungewiss ist. Der Denkfehler liegt darin, dass wir zwar annehmen, rational den heutigen Zustand versus den zukünftigen analysiert zu haben, in Wirklichkeit halten wir aber am vorhandenen Zustand fest, obwohl er schlechter ist. Dies geschieht aus der Angst heraus, einen vorhandenen Zustand zu verschlimmern. Vielleicht eine gute Erklärung dafür, warum Unternehmen sich am Ende doch dafür entscheiden, nichts zu tun?
  • Sozialer Beweis (social proof): In diesem Fall neigen wir dazu, ein Verhalten als „richtiger“ anzusehen, wenn mehrere andere dasselbe Verhalten demonstrieren. Kurz gesagt: Menschen suchen nach Bestätigung durch andere – und wenn sie diese erhalten, sind sie eher bereit, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Man vertraut weniger auf die eigene einzelne Meinung, sondern viel mehr auf die Meinung von vielen anderen. Der Denkfehler liegt darin, dass wir glauben, eine unbeeinflusste sachliche Entscheidung auf Basis der eigenen Meinung getroffen zu haben, in Wirklichkeit tun wir das, was die anderen tun. Vielleicht eine gute Erklärung dafür, warum Menschen sich auf Bewertungen und Kommentare anderer mehr als auf das eigene Urteilsvermögen verlassen?
Wie durch die Verhaltensforschung bewiesen, bietet unser Gehirn uns viele Möglichkeiten für Fehlentscheidungen, derer wir uns gar nicht bewusst sind. Dieser Zusammenhänge sollte sich der Vertrieb bewusst sein, natürlich nicht, um Kundenentscheidungen zu eigenen Gunsten zu manipulieren, sondern um zu erkennen, dass das „Kopfwaschen“ bei Kunden notwendig ist. Und vor allem, um das notwendige Wissen dafür aufzubauen. Denn der traditionelle Verkäufer verfügt üblicherweise nicht über den Geschäftssinn, das Branchenwissen oder das notwendige Kundenverständnis, um Kunden auf diese Weise aufzurütteln. Dieses Wissen und die Fähigkeit, Kunden wach zu rütteln, ohne zu provokant oder besserwisserisch zu wirken, muss im Vertrieb erst aufgebaut werden. Der notwendige (Um-)Schulungsbedarf kann erheblich sein. Auch eine enge Zusammenarbeit mit dem Produktmanagement oder der Produktentwicklung ist notwendig, um das erforderliche Wissen in Bezug auf den Produktnutzen und die Probleme, die damit gelöst werden, aufzubauen.
Im Endeffekt bedeutet das, dass die Vertriebsmitarbeiter ganz andere Kompetenzen und Fähigkeiten benötigen als in der Vergangenheit. Umdenken und Umschulung sind nie leicht, jedoch liegt in den heutigen Zeiten darin vermutlich eine Überlebenschance für die Vertriebsmitarbeiter. Wenn sie keinen Mehrwert bieten, sondern weiterhin primär Informationsauskunfts- und Preisverhandlungsrollen einnehmen, werden sie über kurz oder lang auch die letzten 30 Prozent des heute noch bestehenden Zugangs zum Kundenentscheidungsprozess verlieren, siehe Abb. 4.​3 in Kap. 4.
Mit dem ENABLE-Ansatz dagegen hat man an dieser Stelle im Prozess die beste Chance, sich einen Zugang zum Entscheidungsprozess des Kunden zu verschaffen. Denn wenn ein Kunde erkennt, dass er vielleicht einen Fehler begeht, oder dass seine Perspektive und die Betrachtung der Sachlage Fehlannahmen enthalten, wird er freiwillig einen Schritt in seinem Prozess zurückkehren, um seine Annahmen neu zu validieren, und Sie als kritischen und ehrlichen Begleiter höchstwahrscheinlich mitnehmen.

6.4.4 Touchpoints: Einfache, direkte Kontaktmöglichkeiten

Die Touchpoints in dieser Phase ähneln derjenigen aus der Affirm-Phase, außer, dass sie intensiver genutzt werden und des Öfteren eine direkte persönliche Kontaktaufnahme erfolgt, aber auch das ist branchenabhängig. Eine Kontaktaufnahme kann wie gewohnt telefonisch oder per E-Mail erfolgen, aber der bequeme Kunde geht heute den schnellsten Weg – je nachdem, wo der Kunde sich gerade befindet. Beispielsweise ist es für einen Interessenten bequemer, direkt auf der jeweiligen Unterseite der Webseite ein Kontaktformular auszufüllen, als zu Outlook zu wechseln und eine E-Mail zu schreiben oder auch zur „Kontakt-Seite“ zu wechseln, denn auch das erfordert einen zusätzlichen Klick. Die Suche nach einem Kontaktformular irgendwo im Menü oder unter „Kontaktdaten“ ist für unseren eiligen Kunden mühsam, obwohl es einfach erscheint. Wir sollten jeden zusätzlichen Klick auf seine Sinnhaftigkeit hinterfragen. Demzufolge sind Kontaktformulare – mit wenigen Feldern und darunter kaum Pflichtfeldern – nicht nur klassisch auf der Kontakt-Unterseite zu platzieren, sondern strategisch überall dort, wo der Wunsch zu einer Kontaktaufnahme entstehen könnte. Wir wollen es Kunden leicht machen und direkte, sofortige, mühelose Kontaktmöglichkeiten bieten.
Auch wenn es naheliegend sein sollte, dass Kontaktinformationen und -möglichkeiten zu den Pflichten einer Webseite gehören, ist es erstaunlich, wie viele Unternehmen ihren Kunden immer noch unzureichende Kontaktmöglichkeiten anbieten. Der B2B-Web Usability Report hat festgestellt, dass 44 % der B2B-Kunden eine Webseite verlassen, weil sie „keine Kontaktinformationen/Telefonnummer“ finden konnten. Auf die Frage, welche Website-Elemente sie am meisten stören, gaben mehr als die Hälfte (54 %) der Befragten an, dass das Fehlen von Kontaktinformationen die Glaubwürdigkeit eines Anbieters stark beeinträchtige und sie veranlassen würde, diese Website zu verlassen. Auf die Frage, welche Arten von Inhalten auf den meisten Anbieterwebseiten fehlen, gaben 51 % der Befragten wieder an „gründliche Kontaktinformationen (Telefon/E-Mail-Adresse)“ (Huff Industrial Marketing et al. 2015).
Wie kann es sein, dass in heutigen Zeiten Kontaktinformationen auf Webseiten fehlen? Im Konsumentenbereich kann man es eventuell noch nachvollziehen, warum manche Anbieter sorgfältig ihre Telefonnummern und E-Mail-Adressen verstecken und Kunden gezielt in ihre geplante Customer Journey zwingen wollen. Auch wenn man das ebenso auf Sinnhaftigkeit hinterfragen könnte. Der Kunde ist am Ende des Tages nicht blöd und erkennt, dass man sich vor ihm versteckt. Aber im B2B-Bereich? Welches B2B-Unternehmen könnte Interesse daran haben, Kontaktinformationen nicht offenzulegen? Damit die Vertriebsmitarbeiter von potenziellen Kunden etwa nicht gestört werden? Nein, das ist kein Scherz: Kürzlich habe ich bei einem meiner Kunden festgestellt, dass alle ankommenden Kundenanrufe – übrigens auf das Anraten eines Beraters – an den Empfang, statt an den Vertrieb umgeleitet wurden. Mit der Argumentation: Man wolle die Mitarbeiter nicht stören und sie von der Arbeit, auf die sie sich gerade konzentrieren, nicht ablenken. Echt jetzt? Wir bauen Prozesse auf, damit Kunden die Mitarbeiter nicht stören? Dafür darf der Kunde in Warteschlangen hängen und sich mehrmals bei mehreren Mitarbeitern wiederholen, statt dass er direkt zu der richtigen Person geleitet wird?
Ich darf bitte explizit darum ersuchen, dass man alle erdenklichen Möglichkeiten dafür schafft, um den Vertrieb sowie auch andere Mitarbeiter so gut und so oft es geht, bei ihrer – konzentrierten – Arbeit durch Kunden stören zu lassen.
Das gilt übrigens nicht nur für potenzielle Kunden, sondern auch für bestehende. Denn die schlauen Strategien, für diejenigen Anrufer, die kaufen wollen, schnell offene Leitungen bereitzustellen und diejenigen, die ein Problem haben, zum E-Mail-Support zu senden, ist auch keine gute Taktik. Denn warum sollte ein Kunde wieder kaufen, wenn er so behandelt wird?
Wir wollen möglichst viele, möglichst direkte und für den Kunden möglichst einfache Touchpoints bieten, Stichwort Cross-Channel.

6.4.5 Key-Inhalte: Aufrütteln

Das Ziel aller Inhalte in der Brainwash-Phase ist: Kunden die Möglichkeit bieten, für sie wichtige Erkenntnisse in Bezug auf mögliche Fehlannahmen zu gewinnen. Dabei müssen wir uns auf solche Erkenntnisse konzentrieren, zu denen der Kunde während seiner digitalen Recherchen nicht von allein kommen würde. Denn das zu wiederholen, was alle anderen erzählen, oder das, was offensichtlich ist, bringt uns nicht weiter. Um die Botschaften zu identifizieren, die zum größten Aha-Effekt führen, muss viel Vorarbeit geleistet werden. Normalerweise schlummert dieses Wissen in der Vertriebsorganisation: vor allem bei langjährigen Mitarbeitern und auch bei Führungskräften. Das Ziel ist es, dieses Wissen in einleuchtende Botschaften zu fassen. Am besten eignen sich dazu provokante Ansätze, um die Kunden in ihren bestehenden Annahmen – denken Sie an die kognitiven Verzerrungen – zu erschüttern.
Einige Beispiele für mögliche Ansätze:
  • Identifizieren Sie ein kritisches oder existenziell-bedrohliches Problem.
  • Stellen Sie „Was passiert, wenn“-Fragen und ergründen Sie die Auswirkungen einer Fehlentscheidung.
  • Gehen Sie dem Problem auf den Grund und weisen Sie auf möglicherweise übersehene Faktoren hin.
  • Deuten Sie auf die Gefahr hin, die wirklich wichtigen Ziele während des Entscheidungsprozesses aus den Augen zu verlieren.
  • Schaffen Sie neue und ungewohnte Perspektiven für das Problem.
  • Lenken Sie die Aufmerksamkeit auf „Kleinigkeiten“ mit „großem Effekt“.
  • Stellen Sie dar, inwiefern die Zukunft bei einer Fehlentscheidung noch schlimmer sein wird.
  • Schaffen Sie frische Perspektiven für die Zukunft, wenn die Lösung implementiert ist.
Letztendlich geht es darum, ein Problem in der spezifischen Situation des Kunden zu identifizieren, dessen er sich nicht bewusst ist. Und das in zweierlei Hinsicht: in Bezug auf das Problem und den Lösungsbedarf des Kunden und in Bezug auf den Entscheidungsprozess selbst.
Wenn Sie das schaffen, wird der Kunde Ihren Mehrwert in seinem Entscheidungsprozess erkennen und folglich auch den Mehrwert einer Zusammenarbeit mit Ihnen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Kaufabschluss führen wird.
Mit diesem Ansatz wollen wir signalisieren, dass
  • wir die Situation des Kunden und seine Herausforderungen wirklich verstehen,
  • wir bereits Erfahrungen gesammelt haben und im Stande sind, Kunden auf potenzielle Fehltritte hinzuweisen,
  • wir den Kunden helfen können, die richtige Entscheidung zu treffen,
  • wir Kunden dabei unterstützen können, schneller zu einer Entscheidung zu kommen,
  • vor allem aber, wir Kunden wirklich helfen wollen und in ihrem Interesse agieren.
Den meisten Kunden ist es grundsätzlich erst einmal egal, wie viel Sie wissen. Interessant wird Ihr Wissen für Kunden erst dann, wenn es Ihnen gelingt, sie davon zu überzeugen, dass Sie dieses Wissen in ihrem Sinne einsetzen und dass Sie die besondere Situation des Kunden verstehen. Der beste Weg dazu ist es, dem Kunden zu zeigen, dass
  • Sie sein Geschäft und seine geschäftlichen Probleme verstehen,
  • Sie die vollen Auswirkungen im Falle einer Untätigkeit und auch im Falle einer Fehlentscheidung gut einschätzen können,
  • Sie ihm helfen können, eine Lösung zu kreieren, mit der auch handfeste Ergebnisse erzielt werden.
Dadurch werden Kunden Sie nicht nur als einen Anbieter einer Lösung unter vielen anderen betrachten, sondern als jemanden, der sie bei der Entscheidung unterstützt. Folglich werden Kunden Sie mehr und tiefer im ganzen Prozess involvieren und am Ende höchstwahrscheinlich auch bei Ihnen kaufen. Der Beweis: 84 % der Geschäftskunden kaufen eher bei einem Unternehmen, das ein Verständnis für ihre Geschäftsziele demonstriert (Salesforce Research 2020).

6.4.6 Buying Center: Das Ziel stets im Blick

Zu diesem Zeitpunkt hat die Einkaufsgruppe zwar eine grundsätzliche Entscheidung über die Investition und den potenziellen Lösungsweg getroffen, aber viele weitere Detailabstimmungen sind noch offen. Vor allem bei komplexen Entscheidungen beginnt nun die eigentliche Detailarbeit, wobei auch weitere Abteilungen involviert werden, Informationen und Annahmen zu bestätigen sind und die Umsetzbarkeit der bevorzugten Lösung geprüft wird. Die Gefahr in dieser Phase liegt darin, dass man in der ganzen Detailarbeit die angestrebten Ergebnisse aus den Augen verliert und vor allem Gefahr läuft zu vergessen, wozu das Ganze dienen soll. Das kann auch durch die Tatsache verstärkt werden, dass wichtige Entscheider und Initiatoren des Prozesses in dieser Phase aus dem Prozess aussteigen, um dann am Ende wieder einzusteigen und die finale Entscheidung zu treffen.
In dieser Phase der „Kleinarbeit“ kann die gesamte Sache eine andere Richtung einschlagen – und das sogar unbemerkt. Am Ende kann es durchaus passieren, dass man eine Lösung minutiös kreiert hat, aber nicht mehr weiß, warum. Ich habe es live erlebt, wie weit das gehen kann: Nach vielen Monaten langer und detaillierter Arbeit präsentierte die Entscheidergruppe dem Geschäftsführer des Unternehmens das Projekt zur finalen Genehmigung. Auf seine Frage „Wozu machen wir das?“ konnte keiner auf Anhieb eine Antwort bieten. Daher ist die Aufgabe des Vertriebs hier – sofern er Zugang zum Entscheidungsprozess hat –, die Aufmerksamkeit auf das Projektziel und die gewünschten Ergebnisse zu lenken und sie stets im Auge zu behalten, damit keine Diskrepanz zwischen Wunsch und Bedürfnis entsteht.
Auf diese Weise wird nicht nur der Mehrwert für die Lösung besser herausgearbeitet, sondern auch manche Konflikte oder kontraproduktive Diskussionen über unwichtige Kleinigkeiten werden im Keim erstickt. Das kann bis zu den ewig langen Debatten über einzelne Funktionalitäten führen, die in Wirklichkeit für die Zielerreichung im Projekt unwichtig sind, aber extrem viel Ressourcen erfordern und die Entscheidung verlangsamen. Die Aufgabe des Vertriebs ist es, dies zu erkennen, taktisch darauf einzugehen und die Gruppe unauffällig immer wieder auf Kurs zu bringen.
Dazu gehört auch, sich Zugang zu den richtigen Personen zu verschaffen, die tatsächlich entscheiden, sowie auch darauf zu bestehen, dass die richtigen Personen zum richtigen Zeitpunkt involviert werden. Es kommt vor, dass der vorhandene Kontakt des Vertriebs mit der Steuerung der Einkaufsentscheidung überfordert ist, insbesondere in Konzernkonstellationen oder bei komplexen Entscheidungen. In solchen Fällen darf sich der Vertriebsmitarbeiter nicht auf seinen einzelnen Kontakt verlassen, sondern muss sich selbst den notwendigen Zugang zu den Entscheidern verschaffen oder seinen Kontakt dazu befähigen, die Entscheidungsfindung richtig zu steuern.

6.4.7 Inhaltsformen: Achtung!

Die Formen für die Vermittlung von „Brainwash“-Inhalten ähneln denjenigen aus der Educate-Phase, Abschn. 6.​1.​5. Hier benötigen wir eher kurze Formate mit einem hinterfragenden und aufrüttelnden Charakter, vor allem aber in Verbindung mit der Möglichkeit einer Interaktion, um die Wahrscheinlichkeit einer Kontaktaufnahme zu erhöhen.
Interaktive Inhalte, wie Entscheidungshilfen, die auf kritische Bereiche hinweisen, sind gut dafür geeinigt. Wir wollen aufrütteln, infolgedessen müssen auch die Formen diesen Charakter transportieren. Obwohl Kunden in dieser Phase nach Preisen und detaillierteren Spezifikationen suchen, müssen wir dazwischen Hinweise verteilen, dass sie möglicherweise etwas übersehen. Im Grunde wollen wir diese Fragestellung transportieren: „Sie wollen einen Preis wissen, haben Sie schon bedacht, dass …? Sie interessieren sich für das Produkt X, was wollen Sie damit genau erreichen? Ist Ihnen die Funktion X wichtig, weil … oder weil …?“ Solche und ähnliche Fragestellungen werden den Kunden zum Nachdenken bringen und in Verbindung mit einer Kontaktmöglichkeit höchstwahrscheinlich einen Kontaktwunsch auslösen. Letztendlich wollen wir zur Aufmerksamkeit bei der Entscheidungsfindung aufrufen und das Verständnis dafür schaffen, dass man sich besser Unterstützung holen soll.

6.4.8 Aktivitäten: Annahmen hinterfragen und provozieren

Die Vertriebsaktivitäten in dieser Phase haben einen investigativen Charakter. Man stelle sich vor, der Vertriebsmitarbeiter wäre ein Detektiv auf der Suche nach Fehlannahmen des Kunden und würde ihn respektvoll, aber direkt damit konfrontieren. Dazu muss man auch den Mut haben, vor allem, wenn man mit Entscheidern auf den höheren Unternehmensebenen zu tun hat. Die Ironie besteht aber darin, dass gerade die höchsten Führungsebenen dieses Verhalten zu schätzen wissen. Denn die Manager in einem Unternehmen sind gemeinhin daran interessiert, richtige und sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
Der Vertrieb bringt selten diesen Mut auf. Zur Erinnerung, 79 % der Verkäufer sagen aus „Ich gehe während eines Verkaufsvorgangs sehr flexibel auf Kundenbedürfnisse und -meinungen ein, auch wenn ich nicht unbedingt mit der Richtung einverstanden bin.“ (Harvard Business Review 2017). Was die Verkäufer in Wirklichkeit tun: Sie stellen sicher, dass die Kunden über alle Daten, Fakten und Erfahrungsberichte verfügen, die sie für ihre Entscheidungsfindung benötigen. Sie stellen unterschiedlichste Optionen zur Verfügung, wobei sie das Angebot kontinuierlich an die sich verändernden Kundennachfragen anpassen. Währenddessen versuchen sie so gut es geht, den gewünschten Anforderungen des Kunden nachzukommen. Anstatt die Anforderungen zu hinterfragen – vor allem dann, wenn sie sich ständig ändern –, versucht der Vertrieb, sie möglichst optimal zu erfüllen. Damit ist man allerdings nur einer der Anbieter, unter denen akribisch gewählt wird, und man reduziert sich auf die Ebene des Funktionalitäts- und Preisvergleichs. Genau das wollen wir nicht. Wir wollen nicht einfach mitbieten und hoffen, dass unsere Lösung die beste ist. Wir wollen uns von allen anderen Marktbegleitern unterscheiden.
Die Vertriebsmitarbeiter sollten erkennen, dass herausragende Kundenbetreuung nicht darin besteht, zu allem „Ja und Amen“ zu sagen, denn damit wird man letztendlich wie ein Gebrauchsgegenstand behandelt und im Entscheidungsprozess als nicht relevant angesehen: Man ist lediglich eine Informationsquelle. Wenn die Rede von guten Vertriebsmitarbeitern ist, dann geht es primär um eine brave, zuverlässige, schnelle und zuvorkommende Informationsquelle. Wir wollen aber eine Erkenntnisquelle sein, wir wollen die Denkweisen der Kunden herausfordern und sie befähigen, richtige Entscheidungen zu treffen. Etwas, das selten zu finden ist, aber von Kunden durchaus begrüßt wird.
Was Kunden wirklich wollen – in ihren eigenen Worten (Trustradius 2020):
1.
Personalisierte Anleitung: Kunden wollen, dass Sie Ihre Hausaufgaben machen und sie während des gesamten Prozesses der Produktbewertung und -auswahl personalisiert anleiten und beraten.
„Sie sollen mein Geschäft kennen. Die Grundlagen sind auf unserer Website durch eine einfache Google-Suche verfügbar, sodass es einfach ist, die Branche, unsere Eigentümerinformationen usw. einzusehen.“
 
2.
Unmittelbare Differenzierung: Kunden sind es leid, von jedem Vertreter, mit dem sie zusammentreffen, das gleiche alte Verkaufsgespräch zu führen. Sie wollen wissen, was Ihre Produkte von den anderen unterscheidet – und zwar schnell.
„Ich wünschte, sie würden im ersten Telefongespräch oder ihrer ersten E-Mail erklären, was sie von den anderen unterscheidet.“
 
3.
Ausgewogenes Feedback: Käufer wollen ehrliche, transparente Gespräche mit Anbietern über die Vor- und Nachteile ihres Produkts oder ihrer Dienstleistung. Es ist zwar verlockend, den Käufern eine rosarote Brille aufzusetzen, aber ein ausgewogenes Feedback ist ein viel effektiverer Weg, um ihr Vertrauen zu gewinnen.
„Ich würde mir wünschen, dass sie nicht mehr nur die guten Seiten und Stärken [ihres Produkts] nennen, sondern auch die Einschränkungen und den Rahmen oder den Umfang der Hardware/Software aufzeigen. Diese Art von Informationen erhalten wir ohnehin über Referenzen.“
 
Kunden wollen mit Vertriebsmitarbeitern zu tun haben, die ihre Situation wirklich verstehen und aufrichtig in ihrem Interesse agieren. Sie wollen auch niemanden, der ihnen alle Wünsche erfüllt, sondern hätten gerne jemanden, der ihre Bedürfnisse versteht und hilft, sie zu erfüllen. Der Vertrieb muss lernen, diese Bedürfnisse auf die richtige Art und Weise zu ergründen. Man sollte die investigative Art nicht missverstehen und den Kunden nicht ausfragen und zu viele „unnötige“ Fragen stellen. Auch wenn es darauf hinausläuft, dass man beim Erstkontakt seitens der Kunden höflich sagt: „Bitte geben Sie mir etwas Zeit, um mir selbst einen Überblick auf Ihrer Webseite über Ihr Unternehmen und Ihr Geschäft zu verschaffen. Danach melde ich mich bei Ihnen und wir können konkreter reden.“ Niemand hätte etwas dagegen. Im Gegenteil, der Kunde wäre dankbar dafür, dass Sie seine Zeit wertschätzen.
Heute erwarten Kunden, dass jede Interaktion klar, überzeugend und prägnant ist und ihre Zeitinvestition es wert ist.
Infolgedessen dürfen wir den Kunden nicht nur nicht ausfragen, sondern ihm auch das, was er schon weiß, nicht nochmals erzählen. Informationen, zu denen der Kunde selbst Zugriff bekommt, hat er in der Regel in dieser Phase schon erhalten. Er sucht danach, was er noch nicht weiß, sonst würde er Sie nicht kontaktieren. Der Verkäufer muss schnell erkennen können – ohne den Kunden zu langweilen und auszufragen –, auf welchem Wissensstand und in welchem Entscheidungsschritt er sich befindet, welche Bedürfnisse er hat und ihn von dort aus führen oder aus dem Weg gehen. Denn das Schlimmste, was ein B2B-Vertriebsmitarbeiter an diesem Punkt tun kann, ist, die schon sehr geringe Geduld des PHANTOMs noch weiter zu strapazieren.
Der Verkäufer in der Rolle eines „sprechenden Marketingprospekts“ ist nicht mehr tragbar, wenn die Kunden bereits über diese Informationen verfügen. Vor allem die Digital Natives haben die funktionalen und anbieterbezogenen Aspekte schon lange vor dem ersten Treffen recherchiert. Untersuchungen der Santa Clara University haben beispielsweise ergeben, dass diese Generationen positiv auf diejenigen Verkäufer reagieren, die ein Gefühl des Vertrauens, der Kompatibilität und der Verbundenheit hervorrufen, im Gegensatz zu den Käufern über 50, die sich mehr auf geschäftliche Vorteile und Ergebnisse konzentrieren (HBR 2018).
Zudem sollte man sofort in Erfahrung bringen, mit welcher Rolle im Buying Center man interagiert: denn die besten Einsichten, die einen CFO ansprechen, werden einen CTO nicht nur nicht interessieren, sondern vielleicht sogar ziemlich langweilen. Die Botschaften müssen auch die richtigen Personen erreichen, sonst sind sie wirkungslos.

6.4.9 Engagement: Hybrid-Interaktionen

Auch hier sollten wir den Kunden unterschiedlichste Engagement-Optionen bieten. Im Konsumentenbereich haben die Anbieter das schon längst verstanden, aber im B2B-Bereich sind es immer noch primär E-Mail und Telefon, die zur Auswahl angeboten werden. Dabei rede ich gar nicht von KI-gesteuerten Chatbots. Live-Chats, die von Ihren Mitarbeitern im Hintergrund bedient werden, können schon viele Grenzen zwischen Ihren Mitarbeitern und Ihren Kunden abschaffen. Denn dies ist nun einmal für viele bequemer, als irgendwo anzurufen und zu warten, bis man durchgestellt wird. Haben Sie sich schon mal gefragt, warum Mitarbeiter, die im selben Büro sitzen, sich gegenseitig Chatnachrichten schreiben, statt zum Telefon zu greifen oder zehn Schritte zum Kollegen zu gehen und mit ihm zu reden? Weil es bequemer ist. Natürlich betrifft das nicht jeden von uns, aber für die meisten ist es in Zeiten von Multitasking einfach der bequemere Konversationsweg. Insbesondere in Bezug auf die Fragestellungen mit wenig Komplexität werden solche Konversationsformen bevorzugt. Demzufolge ist es nicht verwunderlich, dass das Medium Live-Chat in seiner Beliebtheit bei Kunden die Nutzung von E-Mail und Telefonat überholt hat (Zendesk 2015):
Channel
Zufriedenheit
Live Chat
92 %
Voice
88 %
Web Form
85 %
E-Mail
85 %
Facebook
84 %
Nicht nur, dass diese Kommunikationskanäle bei Kunden beliebt sind, mit dem Einsatz von Live-Chat im Vertrieb kann man parallel mehrere Kunden bedienen und zugleich die Reaktionsgeschwindigkeit erhöhen. Auch wenn Kunden hier bequeme Kommunikationswege suchen, dürfen wir daraus nicht schließen, dass sie keine menschliche Interaktion wollen. Im Gegenteil, die 2019 CGS Customer Service Chatbots & Channels Survey ergab, dass 71 % der Kunden bei den Anbietern, von denen sie wüssten, dass sie gar keine menschliche Interaktion bieten, wahrscheinlich nicht kaufen würden, wobei 10 % einräumten, dass sie den Unterschied nicht erkennen würden (CSG 2019). Da stellt sich die Frage, ob es dabei mehr ums Prinzip als um die Zufriedenheit mit der Leistung von Maschinen geht. Denn mehrere Studien belegen, vor allem bei den jüngeren Generationen, dass die Nutzung von Chatbots und ihre Akzeptanz zunehmend steigt und dass Menschen sich generell doch immer stärker digitalen Kanälen öffnen, wie beispielsweise Chat und Messenger-Applikationen. Die Möglichkeit, mehrere Dinge bequem über eine Plattform gleichzeitig zu erledigen, siegt auch über manche Prinzipien. Während Menschen gegenüber persönlichen Interaktionen mit Robotern wie etwa am Telefon noch etwas skeptisch sind – 51,9 % können sich vorstellen, mit einem digitalen Partner zu kommunizieren –, haben bei digitaler Kontaktaufnahme 84,7 % kein Problem damit (PIDAS 2017).
Hybride Lösungen – eine Kombination von KI-Bots und Live-Chat – werden heute vermutlich in vielen Fällen der optimale Weg sein, um Kunden die gewünschten Engagement-Optionen durchgehend 24/7 bieten zu können. Und je besser die KI-Algorithmen dazulernen und sich weiterentwickeln, desto mehr werden sie auch ihren Platz im Bereich der Kundeninteraktion festigen.
Denn obwohl Kunden behaupten, sie wollten mit denjenigen Unternehmen nicht interagieren, die nur Roboter beschäftigen, kann man heute ihre Erwartungen in Bezug auf die Kundenerfahrung – Reaktionsgeschwindigkeit, Bequemlichkeit und Personalisierung – ohne den Einsatz von KI-Technologie gar nicht erfüllen. Auch bei Amazon und Netflix sitzen keine Menschen und überlegen sich, welche Produkte oder Filme sie Ihnen heute Abend empfehlen.
Menschen ist oft gar nicht bewusst, wie sehr sie sich in ihrem Alltag auf die Technologien verlassen, die sie für unmoralisch halten und wie sehr sie mit ihrem Verhalten die Anbieter dazu zwingen, sie zu nutzen.
Moderne Kunden erwarten eine einheitliche Erfahrung über die vielfältigen Engagement-Kanäle – Stichwort Omni-Channel. Doch dieser Ansatz ist heute nur durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz leistbar, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.

6.4.10 Technologie-Aspekte: Künstliche Intelligenz

Wenn man heute von Vertriebstechnologien spricht, kommt man am Thema Künstliche Intelligenz nicht mehr vorbei. Denn KI kann aus einer Vielzahl von unstrukturierten, kontextbezogenen und verhaltensbezogenen Daten wertvolle Erkenntnisse für den Vertrieb gewinnen und Unternehmen in die Lage versetzen, ihre Kunden besser als je zuvor zu verstehen. Der heutzutage notwendige Grad an Personalisierung in der Kundenerfahrung lässt sich nur mit KI erzielen, da sie hyperpersonalisierte Interaktionsformen ermöglicht.
KI trägt außerdem dazu bei, Kunden besser zu verstehen. So gibt es beispielsweise Anwendungen, die ein detailliertes Bild des Kundenengagements erstellen, indem sie jede Verkäufer-Käufer-Interaktion visualisieren: Anrufe, E-Mails, Interaktionen über soziale Medien, Meetings etc. Die KI-Technologie ermöglicht es dem Vertriebsmitarbeiter, sich schneller in das Geschäft des Kunden einzuarbeiten und eine passende Lösung für das Geschäftsproblem dieses Kunden zu finden. Sie ersetzt den Mitarbeiter nicht, sondern versetzt ihn in die Lage, seinen Job besser zu erledigen (Rainsberger 2021b).
Insbesondere in der Brainwash-Phase kann diese Technologie dem Vertrieb helfen, ein besseres Verständnis über die wahren Bedürfnisse ihrer Kunden zu erhalten. Wenn dieses Verständnis bereits zum Zeitpunkt der Erstkontaktaufnahme besteht, kann der Vertrieb den Kunden besser abholen. Bei Neuinteressenten kann der Einsatz von Analytics- und Trackingsystemen bis zu einem gewissen Grad Unterstützung bieten, aber bei bestehenden Kunden sollte dieses Wissen bereits vorhanden sein. Kunden wollen bei ihren erneuten Interaktionen im Zusammenhang mit einem neuen Kauf wiedererkannt und bei ihren individuellen Bedürfnissen abgeholt werden.

6.5 Leverage

Die Leverage-Phase steht der Determine-Phase im Entscheidungsprozess des Kunden gegenüber, in welcher die wenigen letzten Lösungsoptionen eingegrenzt und die Lieferanten final evaluiert werden. Die möglicherweise bereits getroffenen Vorentscheidungen müssen nun validiert werden. Und obwohl der Kunde schon ziemlich weit im Prozess ist, steht er nun vor der finalen und schwerwiegenden Entscheidung: Wofür (für wen) wollen wir uns entscheiden?
Typischerweise leisten die Anbieter in dieser Phase auch keine besondere Unterstützung, was die Wahl der Lösung betrifft. Auch wenn viele bis hierher gute Arbeit leisten und Kunden auf ihrem Entscheidungsweg gut unterstützen, lassen sie an dieser Stelle angelangt buchstäblich alle Zügel los und überlassen den Kunden vor der finalen Entscheidung sich selbst. Insbesondere im B2B-Bereich ist dieses Verhalten zu beobachten: Man stellt alle notwendigen Informationen zur Verfügung, kalkuliert das beste Angebot, und dann beginnt man zu warten und zu hoffen.
Aus welchem Grund auch immer verfallen Verkäufer hier in einen Zustand, der einer Ohnmacht ähnelt: Obwohl sie sich bis zu diesem Schritt aktiv eingebracht haben, nehmen sie an, sie könnten nichts mehr tun, außer sich und ihre Produkte ins beste Licht zu rücken und darauf zu hoffen, dass der Kunde sich für sie entscheidet. Vereinzelte Verkäufer sind jedoch auch hier aktiv und versuchen, ihre bestehenden Beziehungen zu ihren eigenen Gunsten zu manipulieren, Konditionen der Konkurrenz in Erfahrung zu bringen, um dagegen zu kontern oder Extras anzubieten, um die Entscheidung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei verstehen sie nicht, dass der Beziehungsbonus nichts nützt, wenn der Kunde von der Lösung nicht überzeugt ist. Sie erkennen nicht, dass man im Wettbewerb mit der Konkurrenz mehr als nur einen besseren Preis ins Spiel bringen muss. Und dass keine weiteren Zugeständnisse oder Zugaben den Kern der Lösung verändern werden. All das kann eine schon grundsätzlich getroffene Entscheidung bekräftigen, es sind aber keine Faktoren, die eine Entscheidung wirklich beeinflussen.
Die schwere Last der Verantwortung
Der Kunde selbst steht aber vor der finalen Entscheidung. Deswegen ist er nicht weniger überfordert. Im Gegenteil, vielleicht mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt in seinem Entscheidungsprozess kann ein Gefühl der Unsicherheit auftreten: Was, wenn man sich falsch entscheidet? Er steht davor, die Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen. Die Angst davor, eine schlechte Wahl zu treffen, steigt proportional mit der Menge von Optionen an, die ihm zur Verfügung standen. Nicht selten kehrt der Kunde einen Schritt zurück, um die Varianten, die er schon einmal aussortiert hatte, nochmals unter die Lupe zu nehmen und zu prüfen, ob nichts übersehen wurde. Denn je größer die Auswirkungen einer Fehlentscheidung auf die Situation des Kunden sein werden, desto größer ist die Verantwortung. Und je größer die Verantwortung, desto zögerlicher wird die Entscheidung getroffen, siehe Abb. 5.​6.
Was die Anbieter übersehen, ist, dass Kunden an die Hand genommen werden möchten und die Entscheidungslast am liebsten abgeben wollen.
Dies ist der Hauptgrund, warum mehr und mehr Personen in eine schwerwiegende Entscheidung involviert werden: Man möchte nicht allein die Verantwortung für eine Fehlentscheidung tragen. Dass dadurch die Situation noch komplizierter wird, ist nur den wenigsten bewusst.
Die Kunden sind auf der aktiven – bewussten oder unbewussten – Suche nach einer Empfehlung und Erleichterung der Entscheidung. Dies kann sich in verschiedenen Verhalten zeigen:
  • Sie beziehen Kollegen oder Gleichgesinnte ein.
  • Sie ziehen jemand Erfahrenen hinzu, beispielsweise Vorgesetzte.
  • Sie lesen die Inhalte von Bewertungen genau.
  • Sie validieren ihre Optionen erneut.
  • Sie ziehen externe Berater hinzu.
Dagegen fehlen in diesem Prozess die Anbieter selbst, und zwar aus zwei Gründen: Einerseits vertrauen die Kunden nicht darauf, dass sie nicht nur ihren Verkauf im Sinn haben, und anderseits geben Anbieter für gewöhnlich auch keine Empfehlungen ab. Was sie machen: Sie versuchen, die eigene Lösung und sich selbst anzupreisen, geben aber keine Handlungsempfehlung für die spezifische Situation des Kunden ab und erklären auch nicht, warum ihre Lösung aus ihrer Sicht die richtige ist.
Selten wird ein Verkäufer, wenn er schließlich an den Verhandlungstisch gebeten wird, gegenüber dem Kunden eine klare Empfehlung aussprechen und sie auch mit den Ergebnissen, die dadurch erreicht werden, verbinden. Genauso schwer tun sich auch Anbieter im Konsumentenbereich, die selbst mit allen möglichen Daten und Technologien, die ihnen zur Verfügung stehen, immer noch Schwierigkeiten haben, personalisierte Empfehlungen zu unterbreiten, die sich nur auf wenige Optionen reduzieren.
Aber genau darin liegt die Aufgabe des zeitgemäßen Vertriebs: aufgrund seiner Erfahrungen und der über die Jahre aufgebauten Kompetenz – die natürlich umfassender ist, als die des Kunden – die vielfältigen Optionen auf die spezifische Situation des Kunden einzugrenzen und eine klare Empfehlung auszusprechen. Warum verkaufen sich die Bestseller am besten? Vielleicht deswegen, weil sie eine indirekte Empfehlung in sich tragen?
Der Kunde will und braucht eine Anleitung, die wir ihm in dieser Phase auch bieten wollen.

6.5.1 Ziel: Entscheidungslast minimieren

Das Ziel in dieser Phase ist nun, die Entscheidungslast von den Schultern des Kunden zu nehmen, ihm eine klare Empfehlung zu geben und sie auch argumentativ zu untermauern. Wir wollen eine kraftvolle Verordnung aussprechen. So, wie ein Arzt ein Rezept aufschreibt. Ob der Kunde das Rezept einlöst, ist ihm überlassen, aber wir empfehlen einen klaren Weg zur Besserung der Situation.
Zudem wollen wir darauf hinweisen, was passiert, wenn nichts passiert. Wir dürfen nicht annehmen, dass der Kunde zwangsläufig auch den letzten Schritt gehen wird, nur weil er den Weg bis hierher gegangen ist. Wenn der Kunde an dieser Stelle im Prozess anlangt und immer mehr, zwar hochwertige, aber oft widersprüchliche Informationen seitens der unterschiedlichen Anbieter erhält, führt das, wie wir wissen, nicht unbedingt zu mehr Klarheit. Vielmehr führt die Menge an Informationen, mit der der Kunde von den Anbietern überhäuft wird, oft zu größerer Unsicherheit. Laut Gartner geben „89 % der B2B-Kunden an, qualitativ hochwertige Informationen während des Kaufprozesses zu erhalten. Wenn sie jedoch Schwierigkeiten haben, aus all diesen hochwertigen Informationen einen Sinn zu ziehen, ist die Wahrscheinlichkeit erheblich größer, dass sie sich für eine kleinere oder weniger einflussnehmende Lösung entscheiden als ursprünglich geplant.“ (Gartner 2019). Folglich ist die Aufgabe des Vertriebs hier, nicht nur eine Empfehlung auszusprechen, sondern auch – nochmals – die Auswirkungen des Nicht-Handelns aufzuzeigen, sodass die Kunden sich daran erinnern, wie unwohl sie sich mit dem Status quo fühlen. Andernfalls gibt es keinen oder keinen ausreichenden Grund, etwas daran zu ändern. Zudem müssen auch die potenziellen Auswirkungen einer Fehlentscheidung klar dargestellt werden. In vielen Ausschreibungen findet sich sogar der Hinweis darauf, dass der Anbieter verpflichtet sei, auf Fehler in den Anforderungen oder Unstimmigkeiten hinzuweisen: Der beste Beweis dafür, dass Kunden Fehler vermeiden wollen und erwarten, seitens der Anbieter auf Fehlannahmen hingewiesen zu werden.
Empfehlen Sie. Und erklären Sie auch, warum. Dadurch befähigen Sie Ihre Kunden, leichter bessere Entscheidungen zu treffen.

6.5.2 Missverständnis-Potenzial: Nicht manipulieren, sondern befähigen

Das erste Missverständnis kann allein in der Bezeichnung dieser Phase liegen. „Leverage“, Hebelkraft, könnte als Beeinflussung der Entscheidung zu eigenen Gunsten verstanden werden. Dabei geht es hier darum, den Entscheidungsprozess in Schwung zu bringen und den Entscheidern zum Durchbruch zu verhelfen. In keinster Weise geht es um die Absicht oder die Verwendung von Techniken der Manipulation. Wir wollen dem Kunden eine aus unserer Sicht für ihn optimale Empfehlung unterbreiten. Sie muss ausschließlich in seinem Sinne sein, denn jeder Versuch, eine Empfehlung zu eigenen Gunsten zu manipulieren, wird vermutlich entdeckt und den gegenteiligen Effekt haben.
Mit dem „Leverage“-Ansatz wollen wir die Kunden, die zunehmend gestresst, überwältigt und in ihren Entscheidungen mehr gelähmt als ermächtigt sind, dazu befähigen, sich von der Last der Entscheidung nicht verunsichern zu lassen, sondern letztendlich eine Entscheidung mit gutem Gewissen zu treffen. Das erreichen wir durch aussagekräftige Empfehlungen und nicht mit noch mehr Informationen. Worin sich das zweite Missverständnis zeigt. Denn Kunden benötigen keine Informationen an sich, sondern sie nutzen sie, um damit die Qualität ihrer Entscheidung zu verbessern. Fälschlicherweise nimmt man an, dass Kunden durch die größere Menge an Informationen immer imstande sind, sich eine „korrekte“ Meinung selbstständig zu bilden. Dass dies oft das Gegenteil bedeutet, haben wir in diesem Buch bereits mehrfach gesehen. Was der Vertrieb hier nicht machen darf, ist, den Kunden noch mehr zu verunsichern, als er es ohnehin schon ist. Noch mehr Informationen würden nur einen weiteren Beitrag zur Flut an widersprüchlichen Botschaften von Beratern, Anbietern, Anwendern, Medien und Individuen in den sozialen Medien bedeuten und den Kunden womöglich endgültig betäuben.
Je klarer, prägnanter und kürzer der Weg zur Besserung dargestellt und mit Nutzen und zukünftigen Ergebnissen verbunden wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Kunde sich dafür entscheidet.
Dies ist die neue Art der Kundenführung, die der Vertrieb übernehmen muss. Denn Kunden brauchen und wollen Führung, auch wenn sie es nie laut zugeben würden. Sie sind sich dessen nicht einmal bewusst, wie wir wissen. Aber tief in ihrem Inneren wollen sie, dass wir sie für dumm halten und sie anleiten.
Entscheidung ist nicht gleich Entscheidung
Ein weiteres Missverständnis kann darin liegen, dass der Vertrieb den Akt der Entscheidung mit dem Akt der Validierung der Entscheidung verwechselt. Durch die kognitiven Denkfehler oft unbemerkt beeinflusst, suchen Kunden nur noch nach weiteren Bestätigungen für ihre schon im Unbewussten getroffenen Entscheidungen. Hier ist es Aufgabe des Vertriebs zu erkennen, ob dies der Fall ist und gegebenenfalls den Mut aufzubringen, die Kunden in ihren Annahmen herauszufordern, wie in Abschn. 6.​4 dargestellt.
Es wäre auch ein Trugschluss, anzunehmen, dass Kunden sich nicht bei der Konkurrenz umsehen. Diese Fehlannahme entsteht insbesondere dann, wenn der Vertriebsmitarbeiter den gesamten Entscheidungsprozess selbst angestoßen hat – also den Kunden akquiriert hat. Ein Kunde wird jedoch nicht zwangsläufig bei Ihnen kaufen, nur weil Sie ihn auf ein kritisches Problem hingewiesen haben. Dieses Problem kann er möglicherweise auch mithilfe eines konkurrierenden Anbieters lösen. Oft wiegen sich die Verkäufer hier in vermeintlicher Sicherheit, auch und insbesondere in Verkaufssituationen mit Kunden, zu denen bereits langjährige Beziehungen bestehen.
Denken Sie daran: Solange Sie nur ein Produkt anbieten, aber nicht einleuchtend erklären, warum ausgerechnet dieses Produkt die optimale Entscheidung ist, sind Sie einfach nur eine von vielen anderen Optionen, die der Kunde erwägt. Neben der Problemerkennung müssen Sie auch die spezifische Lösung ausdrücklich empfehlen und erklären, warum Sie diese Empfehlung abgeben und sie mit zukünftigen Ergebnissen untermauern.
Eine Fehlannahme kann auch sein, dass die Entscheidung für den Kunden leichter sei, wenn man ihm nur wenige – zumeist zwei, drei – Optionen anbietet. Die Auflistung von möglichen Optionen sollte von einer ausdrücklichen Empfehlung begleitet sein, welche für die spezifische Situation des Kunden in Ihren Augen richtig ist. Denn ohne eine Richtungsweisung verlieren die Optionen an Kraft und sind nur weitere Alternativen auf der Liste des Kunden, unter denen er sich entscheiden muss.

6.5.3 Notwendiges Verständnis: Mehr ist nicht mehr

Unternehmen müssen einerseits verstehen, dass sie in ihrem Bestreben, mehr Informationen und mehr unterschiedliche Optionen zu bieten, nicht unbedingt dazu beitragen, dass Kunden mehr kaufen. Das Stichwort hier heißt „Paradox of choice“, das in Kap. 5 beschrieben wurde. „Mehr“ ist verwirrend, infolgedessen sollten die Anbieter ihre Optionen gezielt und spezifisch eingrenzen. Dem steht aber oft die Angst entgegen, zu wenig zu bieten oder Produkte auszulassen.
Warum sollten Sie die Optionen eingrenzen?
In der Annahme, dass mehr Angebot zu mehr Verkäufen führt, versuchen Unternehmen, ihr Portfolio zu erweitern. Wie wir allerdings gesehen haben, ist häufig das Gegenteil die Folge. Je mehr Fokus, desto schneller kann sich der Kunde zurechtfinden und Klarheit für sich schaffen. Mit Fokussierung ist allerdings nicht gemeint, dass man das eigene Portfolio reduzieren sollte – was zwar oft sinnvoll wäre –, sondern es in seiner Darstellung und im Prozess des Angebots an den Kundenbedürfnissen stark eingrenzen sollte. Es geht nicht um die Reduktion Ihres Portfolios an sich, sondern um seine durchachte Anpassung an die jeweiligen Zielgruppen.
Wie lassen sich Optionen eingrenzen?
Eingrenzung ist möglich, indem man das Portfolio bzw. die Optionen in personalisierten und speziell an die Bedürfnisse der Kunden ausgerichteten Empfehlungen zusammenfasst. Die typisch übervollen Webseiten und Produktkataloge sind in dieser Hinsicht nicht besonders kundenorientiert. Die riesige Auswahl und die endlosen Ebenen darin klingen großartig, bis man sie selbst durchschreiten muss. Kommt Ihnen irgendein gutes Beispiel in den Sinn?
Diese Herausforderung ist keine leichte, aber wenn Sie sie gemeistert haben, können Sie sicher sein, dass Ihre Verkäufe im Endeffekt steigen werden. Denken Sie nur an die EEE-Welt und ihre Anforderungen: Einfachheit, Eiltempo und Enthusiasmus. Ein überquellender Produktkatalog mag vielleicht durch die riesige Auswahl dem Enthusiasmus-Anspruch gerecht werden, resultiert aber schnell in einer Überforderung und spiegelt den Anspruch der Einfachheit und des Eiltempos gar nicht wider.
Unsere PHANTOM-Kunden glauben zwar, viel zu wissen und Entscheidungen eigenständig treffen zu können, sind aber in Wirklichkeit pseudoinformiert und überwältigt. Mit einer einfachen und auf ihre spezifischen Bedürfnisse abgestimmte Empfehlung wird man sie mehr als begeistern. Und ich bin überzeugt, in Folge auch als Kunden gewinnen.

6.5.4 Touchpoints: Personalisiert und interaktiv

Egal, welche Touchpoints Sie in dieser Phase aussuchen, sie müssen eins sein: personalisiert und interaktiv. Wir sind hier am Ende des Prozesses, wo der Kunde schon die meisten Informationen, die er benötigt, eingeholt hat und in Interaktion getreten ist. Demzufolge gewinnen an dieser Stelle persönliche Kanäle an Relevanz, was auch die PIDAS Studie sehr gut darstellt. Wenn es um die Beratung geht, ziehen die meisten Kunden persönliche Kanäle vor, siehe Abb. 6.11 (PIDAS 2017).
Auch wenn einige Konsumentenbereiche ganz ohne den Menschen auskommen werden, werden wir in beratungsintensiven Bereichen den Menschen immer noch benötigen – für die theoretisch verbleibenden 30 % des Entscheidungsprozesses. Dazu müssen die jeweiligen Mitarbeiter im Stande sein zu erkennen, was der Kunde bei seiner Interaktion benötigt und wo genau er sich in seinem Entscheidungsprozess befindet. Will er nur Information? Will er Beratung? Will er Unterstützung beim Kauf? Das Verständnis darüber, was der Kunde will, führt, wie wir schon wissen, nicht zwangsläufig dazu, dass wir ihm das Gewünschte einfach nur bereitstellen. Von dort aus, wo der Kunde sich befindet, übernehmen wir die Führung und leiten ihn an.

6.5.5 Key-Inhalte: Kontextbezogene Empfehlungen

Über alle Kanäle hinweg wollen wir vermitteln, dass wir die Kunden verstehen, dass wir wirklich zuhören und dass sie uns tatsächlich wichtig sind. Auch und insbesondere im B2B-Bereich. Denn auch wenn sie im Namen ihres Unternehmens einkaufen, sind es immer noch Menschen, die Kaufentscheidungen treffen. Das bedeutet, dass Gefühle und Emotionen bei ihren Entscheidungen immer eine Rolle spielen werden. Laut einer Studie von CEB in Zusammenarbeit mit Google ist bei B2B-Entscheidern die Kaufwahrscheinlichkeit doppelt so hoch, wenn sie einen persönlichen Wert erkennen. Dies, weil sie sonst kaum einen geschäftlichen Unterschied zwischen den Anbietern wahrnehmen. Und wenn sie einen persönlichen Wert erkennen, sind sie sogar achtmal mehr bereit, einen Aufpreis zu zahlen (Think with Google 2013).
Heutzutage müssen sich Unternehmen in der Menge von gleichwertigen Optionen differenzieren. Denn es reicht nicht, nur einen greifbaren materiellen Nutzen zu bieten. Wir müssen vermehrt auch auf den immateriellen und schwer greifbaren Mehrwert achten. Der immaterielle Hauptmehrwert, wonach moderne Kunden suchen, liegt darin, Unterstützung bei ihrer Entscheidungsfindung zu erhalten.
Es ist wie beim Backen eines Kuchens: Es reicht nicht, nur die bestmöglichen Zutaten zum bestmöglichen Preis anzubieten, wir müssen auch ein herausragendes und inspirierendes Rezept mitliefern. Eine klare Empfehlung aussprechen und zeigen, um wie viel schöner das Leben des Kunden dadurch wird. Und ihn natürlich auch daran erinnern, wofür er es überhaupt benötigt.
Konsumenten ist es wichtig, wie sie aussehen, wie sie wahrgenommen werden, wie sie sich selbst sehen und wie sie sich fühlen – insbesondere in einer vom Individualismus geprägten Welt. Um sie zu gewinnen, müssen wir ihre menschlichen Bedürfnisse ansprechen und klar definieren, wie sie von dem, was wir tun, profitieren können. Zu viele Marken verbringen zu viel Zeit damit, über sich selbst zu sprechen, und darzustellen, wie wunderbar die Eigenschaften ihrer Produkte sind. Was dabei verloren geht, ist die Verbindung, die die Marke mit dem Kunden hat. Der Nutzen oder das emotionale Bedürfnis, das durch ihr Angebot befriedigt wird, ist nicht ersichtlich. Dieselbe Verbindung müssen wir auch im B2B-Bereich schaffen, denn auch hier handelt es sich um Menschen, die etwas erreichen wollen, für sich und für ihre Unternehmen.
Ohne diese Verbindung enden wir in einer mechanischen Transaktion, in einer einfachen Käufer-Verkäufer-Beziehung, die das Potenzial schmälert, lebenslange Markenbefürworter zu gewinnen – Fans. Und auch hier möchte ich auf eine Diskrepanz aufmerksam machen: Die PIDAS Benchmark-Studie zur Analyse des Kundenservice im digitalen Alter hat ergeben, dass die meisten Unternehmen annehmen, dass über 50 % ihrer Kunden Fans seien. Tatsächlich geben aber nur 20 % der Kunden an, Fan eines Unternehmens zu sein (PIDAS 2017). Vielleicht kaufen Kunden bei Ihnen nur noch deswegen, weil sie keine bessere Alternative gefunden haben und nicht, weil sie von Ihrem Unternehmen überzeugt sind? Könnte das zutreffen? Es braucht wohl keiner weiteren Erklärung, was passiert, wenn Kunden zunehmend mehr Alternativen offenstehen.
Kunden wollen ihre Entscheidungen nicht bereuen
Genau da wollen wir ansetzen: Nicht nur eine oder mehrere Alternativen aufzeigen, sondern eine klare und spezifische Empfehlung mit einem persönlichen Mehrwert bieten. Der Vertrieb scheut sich, Kunden Anweisungen zu geben, aber genau dadurch wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kunden den Kauf bereuen oder sich negativ über den Anbieter äußern, deutlich geringer und die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Kaufs größer als bei herkömmlichen Verkaufsinteraktionen: Ein proaktiver, präskriptiver Ansatz erhöht die Kaufbereitschaft um 86 % und reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Kaufenttäuschung um 37 % (Harvard Business Review 2017). Die Studie verdeutlicht, dass diejenigen Anbieter, die einen „präskriptiven“ Ansatz verfolgen, Kunden besser überzeugen können.
Wir wollen jedoch nicht einfach besserwisserisch Empfehlungen unterbreiten, sondern die Inhalte darauf reduzieren, dass sie die Sinnhaftigkeit der empfohlenen Lösung in der individuellen Kundensituation herausstreichen. Das erreichen wir, indem wir:
  • eine klare Handlungsempfehlung aussprechen,
  • sie mit einer spezifischen Begründung untermauern,
  • die Ergebnisse, die Kunden erzielen werden, in den Fokus stellen,
  • die Auswirkungen des Nicht-Handelns betonen,
  • ein prägnantes Angebot präsentieren,
  • den Umsetzungsprozess beschreiben,
  • die eigene Fähigkeit und die Kompetenz der Umsetzung darstellen,
  • die komplexen Entscheidungsaspekte erklären,
  • und auf die potenziellen Auswirkungen einer Fehlentscheidung hinweisen.
Darin liegt zusammengefasst der Kern aller Inhalte, die in dieser Phase Verwendung finden sollen. Wenn es um die Darstellung der Fähigkeiten und der Kompetenz der Umsetzung geht, dürfen wir natürlich nicht in den Selbstdarstellungsmodus verfallen. Hier wollen wir vielmehr die Ergebnisse herausstreichen, die andere Kunden mit ähnlichen Lösungen schon erreichen konnten.
Andere für sich werben lassen
Es ist viel besser, sich von anderen in das beste Licht stellen zu lassen, als sich selbst zu loben. Laut einer Studie von Hubspot ist bei Kaufentscheidungen die Mund-zu-Mund-Propaganda (Referenzen von Freunden, sozialen Medien) mit 55 % am überzeugendsten, gefolgt von Kundenreferenzen mit 46 % und Presseartikeln mit 38 % (Hubspot 2020).
Kunden wollen Vertrauensbeweise, dass Sie das, was Sie versprechen, auch erfüllen werden. Es ist wohl selbsterklärend, dass die Zeiten des Vertriebs, der viel verspricht und vieles davon nach dem Vertragsabschluss nicht mehr einhalten kann, vorbei sind. Denn wer glaubt, in heutigen Zeiten einen Kunden mit einer Vertragsunterschrift oder einem leeren Versprechen halten zu können, ist vermutlich noch in den Jahren vor der Globalisierung hängen geblieben. Ihr Vertrag – ob auf Papier oder virtuell – wird schneller zerrissen, als man hinschauen kann, falls Sie Ihrem Versprechen nicht nachkommen können.
Das Vertrauen Ihrer Kunden beginnt selten mit dem ersten Versprechen, das Sie machen, endet aber immer mit dem ersten Versprechen, das Sie brechen.
Die Kunden haben mehr Zugang zu mehr Anbietern als je zuvor. Somit wird es umso wichtiger, ihr Vertrauen zu gewinnen und zu stärken, anstatt es aufs Spiel zu setzen. Nicht nur durch leere Versprechen, auch durch schlechte Erfahrungen, die andere Kunden mit Ihnen oder Ihrem Unternehmen machen mussten, verliert man das Vertrauen seiner Kunden. Und wie wir wissen, es mangelt dem modernen Kunden heute nicht an Möglichkeiten, sich ein Bild davon zu verschaffen.

6.5.6 Buying Center: Dringlichkeit bei den Entscheidern herstellen

Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte man alle relevanten Entscheider im Buying Center identifiziert haben. Man möchte nicht glauben, wie selten es tatsächlich der Fall ist, dass die Verkäufer alle involvierten Personen identifizieren und wissen, wer tatsächlich entscheidet. Oft verbringen sie gerne Zeit mit denjenigen, die bereit sind, sich Zeit für sie zu nehmen. Dass dies häufig nicht die Entscheider sind, ist wohl keine Überraschung. Welcher Entscheider hat heute zu viel Zeit?
Zudem wissen wir: Je größer die Einkaufsparty, desto wichtiger werden kundenbezogene Strategien und die Fähigkeit, die individuellen Absichten der Involvierten zu erkennen und ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir mit iii-Menschen zu tun haben, die informiert, independent und individualistisch sind, also selten dazu bereit, auf eigene Interessen und Bedürfnisse zu verzichten. Die Interessen anderer – auch innerhalb der eigenen Organisation – interessieren sie nicht immer. Abgesehen davon möchte in Zeiten der Demokratie auch jeder involviert sein und an einer wichtigen Entscheidung teilhaben.
Hier sollte der Vertrieb versuchen, die Kontrolle zu übernehmen, anstatt zu warten oder zu fragen, was als Nächstes passiert. Man sollte aktiv darauf hinweisen, welche Schritte noch zu tun und welche Rollen noch zu informieren sind. Indem man dafür sorgt – etwa mit relevanten Inhalten – dass die Bedürfnisse aller Stakeholder gestillt sind, steuert man aktiv den Entscheidungsprozess und vereinfacht und verkürzt ihn. Was im Endeffekt wieder ein immaterieller Mehrwert ist, den man dem Kunden bietet.
Zudem kann es notwendig sein, den Beteiligten zu zeigen, wie sie einen überzeugenden Business Case bilden und wie sie diesen intern vertreten. Wenn Sie die beschriebenen Key-Inhalte zur Verfügung stellen, haben sie eigentlich die meisten Aufgaben des Buying Center erledigt und die beste Basis für eine Entscheidung geschaffen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch leicht ausfallen wird, vermutlich zu Ihren Gunsten.
Dafür kann es in komplexen Entscheidungen notwendig sein, gezielte Strategien und Taktik-Maps zu erarbeiten. Denn jede involvierte Person hat womöglich andere Prioritäten. Ihr Verkauf steht bei Ihnen an oberster Stelle, aber nicht beim Kunden. Ihr Angebot kann eine unter hundert anderen Entscheidungen sein, die getroffen werden müssen, und viele davon können durchaus dringender sein. Umso wichtiger ist es hier, sich auf die Key-Inhalte zu fokussieren, und zwar auf die Bedürfnisse, die auf die jeweiligen Entscheider zugeschnitten sind. Auf diese Weise wird einerseits Dringlichkeit hergestellt und andererseits eine Arbeitserleichterung geboten, indem man die notwendigen Entscheidungsgrundlagen fix und fertig bereitstellt.
Eine überzeugende neue Idee kann die Prioritäten verschieben und eine Handlung dringlich machen.
Dringlichkeit stellt man nicht mit zeitlich begrenzten Angeboten her, so, wie der Vertrieb es für gewöhnlich versucht, sondern mit dem Herausstreichen der Wichtigkeit einer schnellen Entscheidung bei allen Entscheidern.

6.5.7 Inhaltsformen: Optionen mit Empfehlung

Die Inhaltsformen in der Leverage-Phase sind vielfältig, je nachdem, um welches Geschäft es sich handelt. Beginnend von „einfachen“ klassischen Angeboten, Präsentationen, Produktdetails, Produktdemos, Customer Cases, Bewertungen bis hin zu komplexen ROI-Berechnungen, Produkt- und Angebot-Konfiguratoren und AR oder sogar VR-Lösungssimulationen. Ziel ist es, die Lösung so greifbar und nachvollziehbar wie möglich zu machen und ihren Mehrwert in Relation zur Investition darzustellen. Zudem, wie bereits dargestellt, müssen die bereitgestellten Optionen möglichst personalisiert und auf die individuelle Situation des Kunden zugeschnitten sein.
Die Inhalte sollten so aufbereitet werden, dass sie für den Kunden einen Sinn in seinem Kontext ergeben. Dabei sollten Optionen zur Auswahl möglichst eingegrenzt werden, mit einer darunter herausgestrichenen Empfehlung. Optionen eingrenzen bedeutet nicht, sie auf eine einzige zu reduzieren.
Empfehlung impliziert nicht eine einzige Option
Wenige Optionen mit einer personalisierten Empfehlung werden oft die beste Auswahl bieten. Erinnern wir uns an die Darstellung aus Kap. 5 in Abb. 5.​1. Keine Wahl ist ebenso kontraproduktiv wie zu viel Auswahl. Unterschiedliche Studien stellen fest, dass die Ausarbeitung von zwei bis vier Optionen ein guter Weg in vielen Situationen ist. Damit kann man starten, muss aber im eigenen Bereich testen und immer wieder probieren – auch in der Darstellung –, was besser funktioniert.
Das, was in einer menschlichen Interaktion leicht machbar ist, muss in digitaler Form erst durchdacht konzipiert werden. Insbesondere dann, wenn man über keine Daten über den Webseitenbesucher verfügt, kann sich die Gestaltung einer personalisierten Erfahrung als herausfordernd erweisen. Dennoch ist es kein Ding der Unmöglichkeit. Sie könnten
  • einen interaktiven Workflow gestalten, um den Besucher mit Fragen bzw. Auswahloptionen zu den für ihn wichtigen Inhalten zu leiten,
  • einen KI-gesteuerten virtuellen Assistenten bereitstellen, der den Besucher auf die für ihn relevanten Seiten führt,
  • die Seite nach Kundenbedürfnissen, Anwendungen und angestrebten Ergebnissen strukturieren,
  • die Anzahl der angebotenen Optionen pro Seite limitieren,
  • unterschiedliche Optionsempfehlungen für die typischen Kundensituationen darstellen,
  • mit KI-Algorithmen die Inhalte anhand des Kundenverhaltens und des inhaltlichen Kontexts anpassen,
  • offene Fragen stellen, um zum Nachdenken anzuregen.
Wenn Sie ROI-Berechnungen bereitstellen, dann beachten Sie, dass
  • einfach zu bedienende Anwendungen zu mehr Engagement führen,
  • die Berechnung stark individualisierbar sein sollte,
  • die Eingaben für jeden Stakeholder speziell anpassbar sind.
Auch wenn es keine leichte Aufgabe ist, wir müssen uns ihr stellen. Zu viel Auswahl beeinflusst die Conversionrate Ihrer Webseite negativ. Die Kunden werden durch die unübersichtliche Darstellung verwirrt und durch den reinen Produktfokus den Nutzen nicht sofort erkennen und womöglich gleich wieder verschwinden. Die Inhalte sollten möglichst in den Kontext des Kunden gesetzt werden und einen „erhellenden“ Sinn für ihn ergeben. Der Kunde muss sich in den Inhalten wiederfinden.
Wir wollen dem Kunden das geben, wonach er sucht, und in der Form, in der er es sucht. Denn auch hier haben wir eine Diskrepanz zwischen den Informationsformen, die Kunden wünschen, und denen, die Unternehmen zur Verfügung stellen, siehe Abb. 6.12.
Sowohl Verkäufer als auch Käufer nutzen Demos und Anbieter-Webseiten. Aber darüber hinaus gibt es eine große Diskrepanz zwischen den Ressourcen, auf die sich die Kunden verlassen, und denen, die die Anbieter bereitstellen. Zu den nächstwichtigen Informationsquellen für Kunden zählen Bewertungen, Vertriebsmitarbeiter und kostenlose Testversionen/Zugänge. Im Vergleich dazu konzentrieren sich die Anbieter mehr auf Marketingmaterial, Fallstudien und Testimonials (Trustradius 2020). Kurz gesagt, Kunden wollen das Produkt selbst ausprobieren, erfahren, was die anderen dazu sagen und auch mit Vertriebsmitarbeitern reden können. Dagegen konzentrieren sich die Anbieter primär auf traditionelle Marketingmethoden.

6.5.8 Aktivitäten: Customer Key Info Map

Die Vertriebsaktivitäten fokussieren sich in dieser Phase auf die Maximierung des Kundenmehrwerts. Dazu gehört, neben der Generierung und Vermittlung der zuvor beschriebenen Key Inhalte und der Steuerung der Aktivitäten im Buying Center, auch die Orchestrierung aller notwendigen internen Ressourcen: Grenzen zwischen den Abteilungen überwinden, Produkte und Lösungen an die individuellen Bedürfnisse der Kunden anpassen (customizing, bundling, rekonfigurieren), notwendige externe Partnerschaften aufbauen und Abstimmung mit etwaigen seitens des Kunden involvierten Dritten.
Um wirklich relevante Key-Inhalte erstellen zu können, wird insbesondere in strategischen Projekten eine individuelle Karte von Key-Inhalten generiert, die sich aus einer gründlichen Analyse der Kundensituation ableitet, siehe Abb. 6.13.
Ziel ist es, auf drei Ebenen für den Kunden relevante Inhalte zu kreieren:
  • Zukunftssicherheit des Unternehmens im Marktkontext: von den Marktaussichten zu Zukunftsszenarien des Kunden hinleiten.
  • Eliminierung des Problems: vom Problem zu der Erkenntnis über die Dringlichkeit der Lösung bringen.
  • Ergebnisorientiertes Lösungskonzept: von der empfohlenen Lösung zu den zukünftigen Ergebnissen führen.
Dies ist eine oft schwierige Aufgabe, denn sie setzt ein tiefes Verständnis der Kundensituation voraus, stellt sich allerdings als der größte Erfolgsfaktor heraus. Denn so eine Karte bringt alles hervor, was für den Kunden bei seiner Entscheidung wichtig ist, und bietet dem Anbieter die Möglichkeit, besser auf die Kundenbedürfnisse einzugehen.
Wenn die Karte erstellt ist und die Inhalte festgelegt sind, dürfen wir den Kunden natürlich nicht mit allen Informationen überfallen, sondern wir überlegen, wem wann und in welcher Form diese zu übermitteln sind. Ein proaktiver Anruf oder eine kurze E-Mail, eine LinkedIn-Nachricht oder ein Link, an die richtigen Personen gerichtet, sind bewährte Methoden, um mit Kunden neue wichtige Erkenntnisse zu teilen. Insbesondere hier kann der Einsatz eines Account Based Marketings sinnvoll sein, denn damit kann man gezielt die jeweiligen Personen mit den für sie relevanten Inhalten adressieren.
Zielgruppenfokus
Während der Vertrieb die Karte von Key-Inhalten für einzelne strategisch wichtige Accounts erstellt, sollte das Marketing dasselbe für unterschiedliche Zielgruppen tun und sich darauf konzentrieren, anhand dieser Landkarte die richtigen Inhalte für die richtigen Entscheider innerhalb der richtigen Zielgruppen möglichst personalisiert und kontextbezogen verfügbar zu machen. Dabei sollte die Komplexität der Information nicht überfordern, auch dann nicht, wenn man Empfehlungen ausspricht.
Die Idee ist es, Kunden zu ermöglichen, ihre eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.
Wir zwingen unsere Meinung niemanden auf, wir empfehlen Vorgehensweisen. Auch wenn ein Kunde sich immer selbst davon überzeugen muss, dass die Ihrerseits ausgesprochene Empfehlung für ihn richtig ist, seien Sie sicher, dass das verunsicherte PHANTOM mehr als froh sein wird, eine Orientierungshilfe zu erhalten, und höchstwahrscheinlich darauf zugreifen wird, wie anhand all der zitierten Studien ersichtlich ist.
Eines ist noch zu beachten: Unter Berücksichtigung des Trends zum Individualismus (siehe Abschn. 2.​3) müssen wir auch Kunden die Möglichkeit bitten, ihre Produkte und Lösungen selbst zu gestalten. Unternehmen müssen Modelle entwickeln, um eine Individualisierung im hohen Grad zu ermöglichen, sowohl im B2C als auch im B2B. Denn der Customizing-Trend nimmt zu, also müssen hier Möglichkeiten und Prozesse geschaffen werden, um Kunden selbst Lösungen konfigurieren zu lassen oder mit ihnen gemeinsam spezifische Lösungen zu entwickeln, Stichwort: Co-Creation.

6.5.9 Engagement: Personalisiert und kontextbezogen

In der Leverage-Phase angekommen, hat sich das PHANTOM für gewöhnlich schon zu erkennen gegeben. Und sobald es das getan hat, erwartet es auch, in jeder zukünftigen Interaktion wiedererkannt zu werden: ob vom Vertriebsmitarbeiter am Telefon, im Live-Chat oder vom KI-Assistenten. Es hat keine Lust auf Wiederholungen und Standard-Interaktionen, weder als Konsument noch als Geschäftskunde. In der Umfrage „2020 State of Conversational Marketing“ wurden Teilnehmer gebeten, über die B2B-Produkte und -Dienstleistungen nachzudenken, die sie täglich nutzen, sowie über die Frustrationen, die sie typischerweise mit diesen Lösungen erleben. Die Ergebnisse veranschaulichen folgende Problembereiche (Drift 2020):
  • 53 % der Befragten sind frustriert, weil sie zu viele irrelevante Anzeigen und E-Mails von B2B-Unternehmen erhalten.
  • 36 % haben das Gefühl, keine Antworten auf einfache Fragen erhalten zu können.
  • 35 % sagen, dass der Service unpersönlich sei.
Nicht nur über nicht-personalisiertes Engagement sind Kunden frustriert, sondern auch über schlecht personalisiertes, wenn sie etwa Sonderangebote für Artikel bekommen, die sie schon gekauft haben oder von Re-Targeting-Anzeigen auch Monate nach dem Kauf verfolgt werden. Auch dann, wenn sie mit „verkehrt“ personalisierten Inhalten anhand ihres Verhaltens adressiert werden, die aber lediglich auf einem kürzlich getätigten Kauf und nicht auf Bedürfnis beruhen. Beispielsweise, wenn man mit Anzeigen zu Baby-Artikeln verfolgt wird, weil man ein Babygeschenk für die Freundin gekauft hat.
Schlechte Personalisierung ist genauso frustrierend wie gar keine
Wir müssen uns anstrengen und „richtige“ personalisierte Erfahrungen bieten, um die Frustration unserer Kunden zu minimieren, anstatt sie zu steigern. Dazu ist eine durchdachte Personalisierungsstrategie notwendig, die mehrere Elemente beinhaltet:
  • Koordination aller Channels in Echtzeit zwecks Wiederkennung des Kunden.
  • Informationstransfer zwischen den einzelnen Channels in Echtzeit, damit der Kunde sich nicht wiederholen muss. Auch während einer einzelnen Interaktion, wie etwa jedem Callcenter-Agent, zu dem man durchgestellt wird, dasselbe erklären zu müssen.
  • Zielgruppenspezifische Sprachwahl: beginnend bei der Ansprache in Du- und Sie-Form und bis zu fachspezifischen Ausdrucksformen.
  • Personalisierte Engagement-Modelle aufgrund von Interaktionsvorlieben (Channels) des Kunden.
  • Antizipative Botschaften aufgrund der Kaufhistorie und des Verhaltens des Kunden.
  • Inhalte im Kontext des Kunden, aufgrund seiner Recherchen und individuellen Interaktionen mit dem Unternehmen.
  • Individuelle und personalisierte Empfehlungen aufgrund des Kundenprofils.
  • Customizing- und Konfigurationsoptionen, damit Kunden sowohl ihre Produkte als auch ihre Kundenerfahrung selbst personalisieren können.
  • Interaktive Beratungskonzepte, wie etwa KI-gestützte virtuelle Assistenten, die Kunden bei ihrem Kauf beraten und passende Artikel aussuchen.
  • Personalisierte Optionen, die ebenfalls von KI-Assistenten bereitgestellt werden. Beispielsweise könnten sie die große Produktauswahl auf wenige, für den Kunden relevante Optionen reduzieren, anhand seiner Kriterien wie etwa Kleidergröße und Farbpräferenzen.
  • Personalisierte Empfehlungen und Erinnerungen an Routinekäufe.
  • Suchhilfe: Beispielsweise anhand eines hochgeladenen Fotos die gewünschten Artikel identifizieren und passende Outfits zusammenstellen.
Möglichkeiten der Personalisierung gibt es genug, wichtig ist es, sie auf die Ebene Ihrer Zielgruppe zu bringen und auch funktionsfähig zu gestalten.

6.5.10 Technologie-Aspekte: Daten

Daten sind das A und O, was die Schaffung von personalisierten Kundenerfahrungen betrifft. Vertriebsorganisationen müssen lernen, Daten zu produzieren, zu erheben, zu analysieren und sie zu nutzen und auf die Ebene des jeweiligen Kunden zu bringen. Nicht nur in der Zukunft, heute schon darf es keinen Vertrieb ohne intelligente Nutzung von Daten mehr geben. Dazu stehen unterschiedliche Datenquellen zur Verfügung: interner und externer Natur, siehe Abb. 6.14.
Um diese Unmengen an Daten aus unterschiedlichen Quellen zu konsolidieren, zu verarbeiten und Erkenntnisse daraus zu ziehen, wird man Technologien wie Big Data, Analytics und Künstliche Intelligenz (insbesondere Machine Learning) benötigen. Denn diese Technologien ermöglichen Personalisierung in großem Maßstab, womit ein tieferes Verständnis des Kundenverhaltens möglich ist und infolgedessen auch eine bessere „echte“ Personalisierung. Ziel ist es, all die Daten dazu zu nutzen, um ein individuelles Kundenprofil zu erstellen, das die Schlüsselkomponente eines Personalisierungsansatzes bildet. Auf dieser Basis werden Inhalte und Engagement-Modelle speziell an die Bedürfnisse der Kunden angepasst.
Die Implementierung von leistungsstarken Analysetools, in Verbindung mit KI-gestützten CRM-Systemen oder ähnlichen Customer-Data-Plattformen wird unumgänglich sein, falls man sich mit der Personalisierung ernsthaft beschäftigen möchte, egal ob im B2C- oder B2B-Segment. Die KI-gestützten Analysetools bieten tiefe Einblicke in das, was Kunden brauchen, und CRM-Systeme stellen diese Erkenntnisse dem Vertrieb und dem Marketing zur Verfügung, womit sie ihre Ansätze optimieren können. Nicht zuletzt kann auch die Produktentwicklung davon profitieren, sodass Sie Ihre Produkte und Dienstleistungen besser an den Kundenerwartungen ausrichten können.
Bei allen Personalisierungsinitiativen dürfen wir Eines nicht vergessen: Unheimlich dürfen sie nicht wirken. Der Kunde sollte sich nicht „stalked“ oder beobachtet fühlen. Dies betrifft insbesondere die Push-Ansätze, bei deren Einsatz Vorsicht geboten ist, denn sie könnten kontraproduktiv sein und im schlimmsten Fall dazu führen, dass Kunden gar nicht mehr kaufen.
Personalisierung soll behilflich und nützlich sein, nicht gruselig oder manipulativ.
Die modernen Kunden sind zunehmend skeptisch, was die Nutzung ihrer Daten betrifft. Sie geben sie zwar freiwillig im Tausch für einen Mehrwert – wie eben eine personalisierte Erfahrung –, aber sie erwarten einen verantwortlichen Umgang damit und volle Transparenz. Folglich reden wir von Personalisierung innerhalb des erlaubten und auch als angemessen erachteten Rahmens. Dieser Rahmen beinhaltet selbstverständlich die Sicherheit von Daten sowie auch den respektvollen Umgang damit. Wenn Personalisierung richtig konzipiert und ausgeführt wird, kann sie ein mächtiges Werkzeug für die Kundengewinnung und -bindung sein.

6.6 Easy-Buy

Die Recherche und die Evaluierung sind abgeschlossen, eine Entscheidung ist getroffen, und jetzt braucht der Kunde nur noch einen klaren Weg zum Kauf. In dieser Phase geht es darum, den effektiven Kaufvorgang möglich einfach zu gestalten. Wir erinnern uns: Es ist noch nichts gewonnen. Der Kunde kann sich während des Kaufprozesses noch umentscheiden, siehe Abschn. 5.​6. Infolgedessen muss das Kauferlebnis nahtlos, mühelos und schnell sein, damit der Kunde nicht die Lust verliert, seine Entscheidung umzusetzen. Insbesondere im Online-Shopping hat sich ein einfacher Kaufvorgang zu einem Kaufkriterium entwickelt. Oft entscheiden der zur Verfügung gestellte Channel, die User Experience im Shop und die Einfachheit des Check-out-Prozesses darüber, ob letztendlich gekauft wird.
Wem dienen alle diese Prozesse?
Auch im B2B-Bereich ist noch nichts gewonnen, denn unabhängig von der Art des Unternehmens – ob es sich um ein Massenprodukt, individuell konfigurierte Produkte oder eine hochspezifische Dienstleistung mit Mehrwert handelt – ist es von entscheidender Bedeutung, Interaktionen, Prozesse und Systeme aus der Sicht des Kunden so einfach wie möglich zu gestalten. „Easy to do business with“, heißt es in der Business-Sprache und impliziert die Vereinfachung der Geschäftsbeziehung. Dabei geht es nicht um einfache Produkte, sondern um die Art und Weise, wie Geschäfte gemacht werden. Mit einigen Unternehmen ist es sehr schwierig, Geschäfte zum Abschluss zu bringen und schnell umzusetzen, weil die Abläufe und Strukturen kompliziert sind. Je größer das Unternehmen, desto komplizierter scheinen die Prozesse zu sein. Dabei sollten grade die großen Unternehmen die notwendigen Ressourcen besitzen, um Prozesse kundenorientiert und einfach zu gestalten.
Oft wird in dieser Phase die große Konzern-Maschinerie erst zum Laufen gebracht, und Anwälte, Controlling- und Finanzabteilungen oder Einkauf und Produktmanagement werden involviert. Manchmal erscheint alles so mühsam, dass man das Gefühl bekommt, das Unternehmen sträube sich dagegen, eine Geschäftsbeziehung mit einem Kunden einzugehen, wenn seine Anforderungen nicht hundertprozentig zum Standard bzw. Prozess des Anbieters passen. Es ist verständlich, dass ein Unternehmen sich absichern und die Risiken eingrenzen möchte, aber wenn man damit unüberwindbare Grenzen für Kunden setzt, ist es doch kontraproduktiv.
Anstatt Barrieren zu errichten, sollten wir bewusst Hindernisse abschaffen. Manche Prozesse haben durchaus ihren Sinn, sie dürfen nur nicht ad absurdum geführt werden. Manch andere aber scheinen es genau darauf abgesehen zu haben, es dem Kunden möglichst schwer zu machen, sein Geld hier auszugeben. Langwierige Registrierungsprozesse, komplizierte Kundenanlageprozesse oder Liquiditätsprüfungen, genauso wie unerklärliche Authentifizierungsprozesse (siehe Abschnitt „Engagement“) sind radikal zu hinterfragen. In der Einfachheit der EEE-Welt müssen wir das tun. Agilität und Flexibilität stehen nicht umsonst weit oben auf der Liste der modernen Buzzwords.
Jeder Prozess und jeder Schritt darin müssen einer gründlichen Prüfung unterzogen werden. Wem dienen sie: dem Kunden oder dem Unternehmen?
Viele Prozesse dienen leider weder dem Kunden noch dem Unternehmen selbst. Vieles wird weitergeführt, weil man es schon immer so gemacht hat. Und vieles wird nur aus dem Grund weitergeführt, weil gewisse Abteilungen und Personen es so für richtig halten oder eine Existenzberechtigung brauchen. Ziel kann es aber nicht sein, einen hohen Beschäftigungsgrad im eigenen Unternehmen aufrechtzuerhalten, sondern es muss darum gehen, es dem Kunden leicht zu machen, mit dem Unternehmen ins Geschäft zu kommen.
„Ease Of Doing Business“ (Erleichterung der Geschäftstätigkeit) ist ein Index, der von der Weltbank veröffentlicht wird. Es handelt sich um eine aggregierte Zahl, die verschiedene Parameter enthält, die die Erleichterung der Geschäftstätigkeit in einem Land definieren. Ich wünschte mir so einen ähnlichen Index für Unternehmen, damit Kunden vorab wissen, worauf sie sich einlassen. Was glauben Sie, wie schnell es gelingen würde, die Prozesse zu vereinfachen? Dies ist übrigens kein Phänomen, das rein auf die Unternehmensgröße zu beziehen ist, sondern hat mehr mit der Kultur und der Einstellung im Unternehmen zu tun. Es gibt auch kleinere Unternehmen, mit denen es genauso schwer ist, Geschäfte zu machen, und es gibt umgekehrt auch erstaunlich flexible und agile Konzernstrukturen.

6.6.1 Ziel: Easy to do business with

Das Ziel in der Easy-Buy-Phase ist es, wie schon der Name sagt, den Kaufvorgang möglichst einfach, schnell und barrierefrei zu gestalten. Wenn ein Kunde sich schon entschieden hat, bei uns zu kaufen, wollen wir ihn mit komplizierten Prozessen nicht wieder vertreiben.
Jedes Produkt oder jede Dienstleistung birgt in ihrem Kern den Anspruch, das Leben des Kunden auf irgendeine Art und Weise leichter oder besser zu gestalten. Demselben Anspruch sollten auch die Vertriebsprozesse folgen. Im B2C-Segment kaufen Kunden schon längst dort, wo es bequemer ist, und nicht unbedingt dort, wo etwas günstiger ist. Und wie kompliziert der B2B-Einkauf geworden ist, haben wir bereits gesehen.
Das Ziel ist es, derjenige Geschäftspartner zu sein, mit dem es am einfachsten ist, Geschäfte zu machen. Alle Geschäftstätigkeiten sollten mühelos sein, wozu ein einfaches, reibungsloses und vorausschauendes Kundenerlebnis geschaffen werden sollte.
Vor allem B2B-Kunden wünschen sich zunehmend ein unkompliziertes und fehlerfreies Einkaufserlebnis. Darauf zu hoffen, dass die anderen Anbieter noch schlechter sind, ist keine zielführende Strategie. Ermöglichen Sie es Ihren Kunden, ihre Aufgaben leicht zu erledigen. Beseitigen Sie jegliche Reibung und alle potenziellen Gründe, sich für andere Anbieter zu entscheiden – vor, während und nach dem Kauf.

6.6.2 Missverständnis-Potenzial: Technologie ohne Business-Perspektive

Das erste Missverständnis hier entsteht durch die Betrachtung der Prozesse aus der eigenen Unternehmensperspektive, anstatt aus der Kundenperspektive. Prozesse werden unternehmenszentriert und nicht kundenzentriert aufgebaut. Wem dienen die langwierigen Kundenanlageprozesse mit fünfseitigen Formularen und viel Kleingeschriebenen? Ihnen oder dem Kunden? Prozesse werden von Menschen im Unternehmen entwickelt, die keinen Bezug zu Kunden haben, wie etwa IT-Mitarbeiter oder Systemadministration. Folglich sind die Prozesse selten kundenorientiert. Wichtig ist aber, dass jeder Prozess, der auch den noch so geringsten Einfluss auf die Kundenerfahrung hat, von denjenigen Entscheidern zu evaluieren ist, die ein Kundenverständnis besitzen. Jede noch so kleine – scheinbar notwendige – Barriere ist gnadenlos zu hinterfragen – bis zu jedem einzelnen Kästchen, das angekreuzt werden muss.
Oft sind Unternehmen auch Opfer ihrer eigenen Systeme. Im besten Fall wird versucht, hierfür Argumente zu liefern, im schlechteren Fall erhält man als potenzieller Kunde die Erklärung: „Bei uns ist es nun mal so.“ Warum sollte ein Kunde weiterhin mit uns Geschäfte machen wollen, wenn es kompliziert und zeitaufwändig ist? Es spielt keine Rolle, wer wessen Opfer ist. Ein schwerfälliges System ist für Kunden ein einziges großes Ärgernis, und es interessiert niemanden, warum es so ist oder dazu gekommen ist. Bevor man nicht nur im übertragenen Sinne Opfer eines Systems wird, sollte man sich damit beschäftigen, die negativen Auswirkungen des Systems zumindest gegenüber den Kunden zu eliminieren.
Technologie allein kann nichts bewirken
Technologie ist ein guter Anfang, denn sie bietet heute zahlreiche Möglichkeiten, um komplexe Prozesse zu vereinfachen. Aber hier lauert das nächste Missverständnis. Denn die Einführung von Technologie wird keine Erleichterung per se einbringen. Sie kann sogar das Gegenteil bewirken und Prozesse noch komplizierter gestalten, als sie schon sind. Die Einführung von Technologie ohne Berücksichtigung der Business-Perspektive ist nicht nur sinnlos, sondern kann sogar gefährlich werden. In der Realität aber wird in den meisten Unternehmen die Einführung von neuer Technologie den IT-Abteilungen überlassen, die selten Business-Kompetenz aufweisen. Ist es wirklich überraschend, dass die meisten Projekte zur digitalen Transformation am Ende als gescheitert angesehen werden? Eigentlich nicht, wenn man im Detail analysiert, wie sie umgesetzt wurden.
Eine Initiative zur Technologie-Einführung, ohne die Business-Perspektive im Auge zu behalten, ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt.
Die Ergebnisse der McKinsey 2018 Global Survey zur Digitalen Transformation verdeutlichen dies: Nur 16 % der Befragten geben an, dass die digitale Transformation in ihrem Unternehmen die Leistung erfolgreich verbessert und sie auch in die Lage versetzt habe, die Veränderungen langfristig aufrechtzuerhalten. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass 84 % der Initiativen die Unternehmensleistung nicht verbessert haben. Zudem sagten 7 % aus, dass sich die Leistung zwar verbessert habe, diese Verbesserungen aber nicht nachhaltig waren (McKinsey 2018). Der Bericht fasst einige Gemeinsamkeiten zusammen, warum die Projekte scheitern: Zum einen neigen Unternehmen dazu, bei solchen Veränderungen den Blick nach innen zu richten. Des Weiteren tendieren Initiativen der digitalen Transformation dazu, einen breiten Fokus zu haben. Und nicht zuletzt konzentriert man sich in solchen Projekten auf die Einführung von Technologien per se.
Technologie allein macht es sogar schlechter, statt besser
Bei der digitalen Transformation geht es nie um Technologie-Einführung an sich. Nicht nur, aber insbesondere bei den vertriebsspezifischen Projekten, ist sie nur ein Mittel zum Zweck (siehe Rainsberger 2021a). Technologie soll dabei unterstützen, Kundenerfahrungen leichter zu gestalten, in der Realität wird die Kundenerfahrung dadurch jedoch noch komplizierter gestaltet, weil eben die Kundenperspektive fehlt.
Nur weil Sie ein Online-System eingerichtet haben, um mit den Anforderungen der Zeit mitzugehen, heißt das noch lange nicht, dass Sie es Ihren Kunden leichter machen. Das beste Beispiel dafür bieten uns die unzähligen B2B-Webshops, die eingeführt wurden, die aber niemand nutzt. Kennen Sie so einen Fall? Der primäre Grund für das Scheitern dieser Shops liegt darin, dass die Kundenperspektive eines B2B-Einkäufers nicht berücksichtigt wurde. Im Gegensatz zu einem Konsumenten geht es einem B2B-Kunden nicht ums Shoppen und Stöbern, sondern darum, eine Aufgabe zu erledigen, und dies möglichst effizient. Wenn der Einkäufer aber zuerst eine Einkaufsbestellung im eigenen ERP-System erfassen, sich anschließend in Ihrem Webshop anmelden und dieselben Daten nochmals eingeben bzw. ihre Artikelnummern etc. suchen muss, kann dies eine zusätzliche Komplexität in seinem Job bedeuten. Im Vergleich zu einer zuvor „simplen“ Weiterleitung der Bestellung per E-Mail an Ihre Vertriebsabteilung hat der Kunde nichts gewonnen, sondern viel verloren.
Das Ziel eines E-Shops ist es nicht, die Arbeit in Ihrer Vertriebsabteilung zu reduzieren, sondern den Kaufvorgang des Kunden zu erleichtern.
Am besten beides: Ziel ist es, reibungslose Kauferfahrungen und zugleich bessere und skalierbare Abläufe in der eigenen Organisation zu schaffen. Im obengenannten Beispiel wäre zum Beispiel eine EDI-Anbindung die womöglich bessere Möglichkeit für alle Beteiligten.
Easy-Buy im B2C kann Complicated-Buy im B2B bedeuten
Wenngleich modernde Geschäftskunden sich ähnlich wie Verbraucher verhalten und bequem einkaufen wollen – wann sie wollen, wo sie wollen und wie sie wollen –, muss der Begriff „bequem“ in Rahmen einer Kauftätigkeit im geschäftlichen Umfeld noch definiert werden. Im B2B-Segment ergibt sich ein großes Fehlerpotenzial, weil die Prozesse der Kaufentscheidung mit der Kauftätigkeit verwechselt werden. B2B-Kunden haben zwar dieselben Erwartungen in Bezug auf den Rechercheprozess und die Interaktionen mit dem Unternehmen, aber im Kaufprozess selbst kann „User Experience“ eine andere Bedeutung haben. Daher ist es unumgänglich, das Verhalten der Kunden im jeweiligen Geschäftsfeld und in Bezug auf das jeweilige Produkt gründlich zu analysieren und diese Perspektive bei jeder technologiebezogenen Initiative im Auge zu behalten.

6.6.3 Notwendiges Verständnis: Digital-virtuell-menschlich

Bleiben wir noch kurz beim Thema Online-Shop: Ein E-Commerce-System im B2B-Bereich wird sich in der Regel von einem E-Commerce-System im B2C-Segment gründlich unterscheiden. Denn die Anforderungen unterscheiden sich ebenfalls: Während in einem B2C-Shop alles für alle gleich ist, ob Sortiment, Preise, Konditionen oder Zahlungsmodalitäten, ist im B2B oft alles individuell, siehe Abb. 6.15.
Ein B2B-E-Commerce-System muss all diese individuellen Anforderungen abbilden können. Es gibt in der Tat Systeme, die von Kunden rein zum Abgleich des Lagerbestands verwendet werden, weil individuelle Preise, die sämtliche Konditionen berücksichtigen, nicht abbildbar sind. Dafür muss der Kunde immer noch den Vertrieb anrufen. Während Kunden noch vor wenigen Jahren bereit gewesen wären, dies zu dulden, ist es heute mit der Geduld vorbei. B2B-Einkäufer haben einfach keine Zeit mehr. Komplexe, mehrstufige Prozesse machen ihnen die Arbeit schwerer und rauben ihnen wichtige Zeit.
Wenn B2B-Kunden heute den Vertrieb anrufen, um einen Preis zu erfahren, tun sie dies nicht, weil sie so gerne mit Ihrem Vertriebsmitarbeiter reden oder weil sie gerne feilschen. Sie tun es nur, weil sie keine Wahl haben – noch.
Manchmal wollen Einkäufer einfach nicht mit einem Verkäufer sprechen: Sie wollen einfach nur Ihren Shop besuchen, die benötigten Artikel auswählen und diese kaufen –. insbesondere bei Wiederholungs- und Routineeinkäufen. In anderen Fällen wollen sie unbedingt mit Ihrem Vertriebsmitarbeiter reden. Es kommt also beides vor. Im B2B-Bereich ist häufig eine Mischung aus Mensch und Maschine notwendig, um auf die Erwartungen des Kunden eingehen zu können. Das bedeutet demzufolge nicht, dass mit der Einführung eines B2B-E-Commerce Systems keine Verkäufer mehr im B2B notwendig sein werden. Je nach Art des Produkts und Komplexität der Beschaffung wird der eine oder der andere Weg von Kunden bevorzugt. Je komplexer das Produkt und je strategischer die Investition, desto länger auch der Vertriebsprozess und umso höher der Beratungsbedarf: Hier werden wir immer noch Menschen im Einsatz haben. Aber je geringer der Erklärungsbedarf des Produkts und je leichter die Inbetriebnahme, desto digitaler werden die Beschaffungswege werden, siehe Abb. 6.16.
Es ist davon auszugehen, dass früher oder später überall dort, wo die Komplexität niedrig ist, digitale Prozesse bevorzugt werden. In der „Mitte“ der Matrix wird man auch mit virtuellem Vertrieb (per Online-Meetings) gut auskommen, und im strategischen und beratungsintensiven Vertrieb werden wir weiterhin menschliche Kompetenz benötigen. Dabei dürfen wir auch hier den Beratungsprozess mit dem Kaufprozess nicht verwechseln. Denn auch ein Entscheidungsprozess, in dem Menschen involviert sind, kann mit einem komplett digitalen Kaufakt abgeschlossen werden.
Der Trend ist eindeutig
Mehr und mehr B2B-Unternehmen planen, ihre Einkäufe online zu tätigen. Die B2B Buyer Survey von Digital Commerce 360 aus 2019 macht klar, dass B2B-Einkäufer jetzt schon viel online einkaufen und erwarten, dass sie dies in Zukunft noch verstärkt tun werden. Ein Drittel der befragten Einkäufer gab an, dass sie zumindest einen Teil ihrer geschäftlichen Einkäufe online tätigen, und sieben von zehn gaben an, dass sie im kommenden Jahr voraussichtlich mehr online kaufen werden. Dabei planen sie auch, eine größere Vielfalt an Produkten online zu beschaffen: 65 % gaben an, dass sie im kommenden Jahr in mehr Kategorien online einkaufen werden (Digital Commerce 360 2019b).
Wenn Anbieter diesen Trend nicht erkennen, laufen sie Gefahr, von Marktplätzen überholt zu werden: Amazon Business wächst rasant – auch dank Pandemie – und soll Schätzungen zufolge sein Geschäftsvolumen im B2B-E-Commerce bis 2025 verdreifachen.
Für Anbieter ist es erfolgskritisch zu verstehen, wann B2B-Kunden online einkaufen wollen und wann nicht.
Infolgedessen sollten die Prozesse auf der Kundenseite danach ausgerichtet und die Einkaufserfahrung der B2B-Kunden bequemer und effizienter gestaltet werden. An technologischen Möglichkeiten soll es nicht mangeln. Heutzutage gibt es genügend Anbieter, die gute Lösungen in diesem Bereich anbieten, wie Salesforce Commerce, SAP-Hybris, IBM Commerce, Magento u. a. Heute kann man getrost auf fertige Lösungen zugreifen, anstatt eigene Systeme zu bauen. Auch hier könnte die IT-Abteilung anderer Meinung sein, aber aus der Kundenperspektive ist dieser Weg womöglich besser.
B2B-Anbieter müssen es ihren Kunden so einfach wie möglich machen, bei ihnen zu kaufen, Selbstbedienungsoptionen bieten und die Erfahrung personalisieren. Ansonsten werden sie, so wie auch viele B2C-Anbieter vor ihnen, ihren Platz räumen und den Marktgiganten überlassen müssen. Außerdem zeigen Umfragen, dass sich eine kundenfokussierte und gut umgesetzte E-Commerce-Strategie direkt in den Geschäftsergebnissen niederschlägt.

6.6.4 Touchpoints: Mobile-, Voice-, Social-, Multi-Channel-Commerce

Nicht nur für Recherchezwecke müssen viele unterschiedliche Touchpoints angeboten werden, sondern auch im Prozess des effektiven Kaufs. Denn, wie wir wissen, shoppen Konsumenten gerne in ihrer Badewanne, und B2B-Kunden sind oft unterwegs und können es sich nicht mehr leisten, mit den Bestellungen zu warten, bis sie an ihrem Schreibtisch sitzen. Heute schon sollen die Umsätze im Mobile Commerce gut die Hälfte des gesamten E-Commerce-Umsatzes ausmachen. M-Commerce wird zu Mainstream. Zudem kommen neue Trends im E-Commerce hinzu:
  • Voice-Commerce: 11 % der traditionell konservativen deutschen Konsumenten nutzen Alexa & Co zumindest einmal wöchentlich, um einzukaufen. Bei den unter 35-Jährigen sind es 19 % und damit deutlich mehr als der europäische Durchschnitt von 8 % (PWC 2019).
  • Chatbots im E-Commerce: Seit Jahren versuchen Chatbots, sich im E-Commerce zu positionieren. Nun, mit der rasanten Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz und des Maschinellen Lernens, erleben sie einen Durchbruch: Der Chatbot-Markt wachst weltweit exponentiell, mit einem Hauptanteil im E-Commerce.
  • Social-Commerce: Immer mehr drängen die sozialen Netzwerke in den E-Commerce-Bereich und entwickeln sich zu Shopping-Plattformen. Eine Vielzahl an Shopping-Möglichkeiten wird inzwischen angeboten: Shoppable Images, Shoppable Galleries, Shoppable Videos, Shoppable Ads, Shoppable Posts etc. Facebook, Instagram und Pinterest bieten jetzt schon Shopping-Funktionalitäten an, und YouTube ist zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung eine Kooperation mit Shopify eingegangen und plant, die in Videos vorkommenden Produkte und Artikel über einen Link zum Sofortkaufen anzubieten. Für die sozialen Plattformen ist Social Media Shopping das größte Thema für die kommenden Jahre und soll nach dem B2C- auch in den B2B-Bereich eindringen.
All das auf mehreren Bildschirmen
Der Google-Bericht „The New Multi-screen World: Understanding Cross-Plattform Consumer Behavior“ zeigte auf, dass 90 % der Menschen zwischen verschiedenen Geräten – Smartphones, PCs oder Tablets – wechseln, um eine einzige Aufgabe online zu erledigen (Google 2012). Kunden lassen sich nicht mehr auf ein einziges Gerät oder einen einzelnen Channel reduzieren. Sie nehmen das Gerät oder den Kanal, der gerade am bequemsten ist, und nicht selten ist es eine Kombination von mehreren.
Infolge all dieser Entwicklungen müssen Unternehmen lernen, ein zeitgemäßes Multi-Channel-Commerce-Modell aufzubauen, das weit darüber hinausgeht, einfach mehrere Online- und Offline-Verkaufskanäle anzubieten. Ziel ist es, die verschiedenen Channels an die Bedürfnisse der eigenen Zielgruppe und die Spezifika des Geschäfts anzupassen, die in einem engen Zusammenspiel eine nahtlose Kundenerfahrung über alle Kanäle hinweg, die der Kunde zu nutzen gedenkt, schaffen. Zudem ist jegliche Reibung oder Unstimmigkeit zwischen den Kanälen zu vermeiden.
Auch die Marktplätze sind als Touchpoint zu evaluieren, denn ihre Relevanz ist im E-Commerce nicht mehr zu leugnen. Über die Hälfte aller Online-Umsätze weltweit entfällt inzwischen auf die großen Marktplätze wie Alibaba und Amazon. Es ist nicht zu erwarten, dass dieser Trend eine Umkehr erlebt, im Gegenteil: Ursprünglich als Online-Shop gestartet, entwickeln sich diese Plattformen zu digitalen Ökosystemen, die immer weniger Umsatz über ihre eigenen Online-Shops generieren, dafür immer mehr als Marktplatz agieren. Man kann sie als Gefahr ansehen, aber auch als Chance, einen Platz in diesen Ökosystemen einzunehmen und Zugang zu Kunden zu gewinnen.

6.6.5 Key-Inhalte: Value Chain im Fokus

Die Inhalte der Kaufphase beziehen sich überwiegend auf die korrekte Preisdarstellung, den Lagerbestand, die Versand- und Zahlungsinformationen und sonstige relevante Bestelldetails. Die Informationen sollten sich natürlich in Echtzeit aktualisieren. Die Zeiten, in denen man im B2B-Bereich auf den nächsten Morgen warten musste, um den korrekten Lagerbestand abzufragen, sind vorbei. Kunden erwarten Transparenz hinsichtlich Lagerbestand und Preis: KI-unterstützte dynamische Preismodelle, die sich an die Bedürfnisse der jeweiligen Kunden anpassen, sind ein guter Weg, um einerseits auf die spezielle Situation des Kunden einzugehen und andererseits auch die eigene Profitabilität zu verbessern. Denn die Preisdarstellung und -kalkulation basiert nicht nur auf der klassischen Berechnung von Kosten plus Aufschlag, sondern berücksichtigt eine Vielzahl an Faktoren, wie Zeitpunkt und Ort der Preisabfrage, verwendetes Gerät, Häufigkeit der Abfrage, Wettbewerbsangebot und sogar das Wetter.
Den bestehenden Kunden sollte jede Wiederholung von bereits erledigten Schritten, wie die Eingabe der Rechnungs- oder Lieferadresse oder der Zahlungsdaten, erspart werden. Personalisierte Oberflächen und Inhalte sowie auch Predictive Ordering runden eine hervorragende User Experience ab. Generell sollten man beim Aufbau einer E-Commerce-Lösung die gesamte Wertschöpfungskette im Blick haben, statt nur die einzelne Transaktion oder den Online-Verkauf an sich, siehe Abb. 6.17.
Mehr als Verkaufskanal
Ein E-Commerce-System sollte nicht nur als ein reines Verkaufsinstrument betrachtet werden, sondern auch als eine Kundenbindungsmaßnahme. Je mehr man den Kundennutzen und die Qualität der Kundenerfahrung in den Vordergrund stellt, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines Wiederkaufs und einer langfristigen Kundenbindung. Amazon Prime ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Kunden an sich bindet, wofür Kunden auch bereit sind, extra zu zahlen.
Evaluieren Sie neben den „einfachen“ Produktshops auch neue Formen von E-Commerce. Beispielsweise erfreuen sich Abo-Modelle im E-Commerce hoher Beliebtheit, bekannt von Outfittery oder Birchbox, wo Kunden eine Box mit einem auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Inhalt und attraktiven Überraschungen erhalten. Nachbestell-Modelle für Verbrauchsartikel und automatisierte Lieferungen erleichtern nicht nur Ihren Kunden die Abwicklung ihrer Routineeinkäufe, sondern bieten Ihnen die Vorteile von Recurring-Revenue-Geschäftsmodellen.
Unterschiedliche Lieferoptionen – von Standard bis zu Next-Day – und Zahlungsmodalitäten – von Sofort-Überweisung bis zu PayPal – sind längst selbstverständlich, obwohl ich mich immer wieder mit der Situation konfrontiert sehe, dass manche wichtigen Optionen gänzlich fehlen. Auf die Frage. warum, kommen Antworten wie „in unserem Baukastensystem gab es diese Option nicht“ oder „die Gebühren waren zu hoch“.
Die Tracking-Optionen für erfolgte Lieferungen nicht zu vergessen, insbesondere bei B2B-Produkten. Denn ein Konsument – auch wenn es sich anders anfühlen mag – wird vermutlich keine schlaflosen Nächte verbringen, wenn er nicht weiß, wann seine Bestellung ankommt. Dagegen kann ein B2B-Kunde schon ins Schwitzen kommen, wenn das Erfüllen seines Versprechens an seinen Kunden von Ihrer Lieferung abhängt. Wenn man weiß, was geschieht und wann die Lieferung erfolgen wird, kann man sich darauf einstellen. Den Kunden proaktiv darüber zu informieren, wann seine Ware ankommt oder dass die Lieferung sich womöglich verspätet, ist viel zielführender, als ihn ganz in Unwissenheit zu lassen. Denn darauf kann er sich einstellen und entsprechend reagieren.

6.6.6 Buying Center: Zugang zum Projektumsetzungsteam

Das Buying Center hat zu diesem Zeitpunkt seine Aufgaben weitestgehend abgeschlossen und den Auftrag dem Einkauf übergeben, um den Kauf zu tätigen. Demzufolge findet hier wenig Interaktion statt, außer bei komplexeren Projekten, wo es um die Umsetzung der Lösung geht.
Während der Einkauf sich um die formelle Beschaffung kümmert, formiert sich ein neues Umsetzungsprojekt-Team, das nicht selten zum Teil aus denselben Personen besteht. Hinzu kommen allerdings neue Personen, die in der Entscheidung selbst nicht involviert waren, aber zur Umsetzung beitragen sollen. Der Vertrieb sollte sich aktiv darum kümmern, die neuen Personen an Bord zu holen und sie vor allem in Bezug auf die Zielsetzung des Projekts zu informieren. Nicht selten geht dieser wichtige Teil in einem Unternehmen unter: Mitarbeiter werden mit der Umsetzung beauftragt, ihnen wird aber nicht erklärt, was mit dem Projekt und der Neubeschaffung bezweckt wird. Im eigenen Interesse sollte der Vertrieb dies nachholen, und allen an der Umsetzung des Projekts Beteiligten helfen zu verstehen, wofür man das Ganze macht. Damit werden die Chancen für eine erfolgreiche Umsetzung wesentlich erhöht. Denn die Vertriebsarbeit endet nicht mit dem Händeschütteln, der Vertragsunterzeichnung und der Übergabe an das Projektumsetzungsteam – ob in der eigenen Organisation oder auf der Kundenseite. Nur erfolgreiche Projekte, bei denen die gesetzten Ziele auch erreicht wurden, können als Referenzprojekte dienen und werden weiteres Geschäft generieren: bei diesem Kunden sowie auch bei vielen anderen. Folglich darf sich der Vertrieb nach dem Vertragsabschluss nicht sofort zurückziehen, sondern muss das Projekt beobachten und aktiv begleiten, wenn nicht sogar steuern.

6.6.7 Inhaltsformen: Schnelle, einfache Kaufoptionen

Die Inhaltsformen reduzieren sich entweder auf E-Commerce-Lösungen oder übliche Bestellprozesse, wie Verträge, Vereinbarungen oder Bestellungen, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen wird. Dafür möchte ich detaillierter auf E-Commerce-Systeme eingehen und deren zu erfüllende Anforderungen in Bezug auf die neuen Verhaltensweisen der Kunden darstellen.
Häufig sind Onlineshops oder Webseiten als statische und erdrückende Warenkataloge aufgebaut. Moderne und hoch entwickelte technologische Systeme lösen das Problem auch nicht, wenn der Kundennutzen bei der Umsetzung nicht im Vordergrund steht. Kunden erleben nichts anderes als Frustration und Enttäuschung in solchen Systemen und verlieren zunehmend die Lust, sich damit auseinanderzusetzen.
In der 2019 Digital Commerce 360 B2B Buyer‘s Expectations Survey nennten B2B-Kunden ihre drei Hauptgründe für Frustrationen (Digital Commerce 2019a):
  • Nicht verfügbare oder schwer zu findende Produkte auf einer B2B-E-Commerce-Website: 63 %
  • Unzureichende oder ungenaue Informationen über Produkte: 55 %
  • Zu lange Dauer des Einkaufsprozesses: 36 %
Die Faktoren, die ihnen am wichtigsten waren, wurden ebenfalls genannt (Digital Commerce 2019a):
  • Die Möglichkeit, online zu bezahlen: 63,9 %
  • Unterschiedliche Zahlungsoptionen (Bestellung, Leasing, PayPal, Kreditlinie): 55,6 %
  • Die Möglichkeit, über ein Online-Verkaufsportal zu bestellen: 48,6 %
  • Großmengenpreise (Mengenrabatt): 44,4 %
  • Integration mit ERP, CRM und der Lieferkette des Lieferanten: 36,1 %
  • Zugängliche und gespeicherte Profildaten: 22,1 %
  • IoT-basierte Systeme für die Produktbestellung: 21,1 %
  • EDI-Anbindung: 20,1 %
  • Sprachgesteuerte Bestellung: 11,1 %
Die Ergebnisse dieser Studie stellen deutlich dar, worum es B2B-Kunden im E-Commerce geht: Online-Zahlungsmöglichkeiten finden sich ganz oben auf der Liste wieder, dicht gefolgt von den unterschiedlichen Zahlungsoptionen.
B2B-Kunden wollen bequeme und schnelle Online-Bestell- und Zahlungsabwicklungsprozesse in Selbstbedienungsform, die bestmöglich automatisiert und mit den eigenen Prozessen verzahnt sind.
Und das natürlich personalisiert, was im B2B-Bereich korrekte Preisdarstellung und Rabattierung, Re-Order-Möglichkeiten, Produktempfehlungen, Bundle-Optionen, Nachfolgemodelle, Zubehör, mehrere Lieferadressen und Zahlungskonditionen bedeutet. Die 24/7-Verfügbarkeit des Systems wird selbstverständlich vorausgesetzt.
Der Konsumentenbereich im Mittelstand ist nicht viel besser
Auch im B2C-Segment sind die Prozesse verbesserungsbedürftig, obwohl hier das Bewusstsein über die Notwendigkeit des Online-Vertriebs stärker ausgeprägt ist. Produkte und Dienstleistungen werden auf Webseiten präsentiert und bepreist, der Kaufprozess selbst erfolgt aber oft noch manuell. Die Produkte sind zwar aufgelistet, aber um zu bestellen, muss man oft immer noch anrufen oder Bestellformulare ausfüllen und diese per E-Mail senden. Das ist alles andere als kundenorientierter Online-Vertrieb. Denn Kunden wollen eine nahtlose Erfahrung, was bedeutet, dass man die Produkte schnell und unkompliziert kaufen kann. Der Prozess sollte möglichst automatisiert ablaufen und keine Barrieren oder Hürden enthalten. Hierfür werden heute zahlreiche fix-fertige technologische Lösungen angeboten. Mit einem guten System lassen sich alle Aufgaben in einem erledigen: Webseite, Online-Shop, Buchungen, Zahlungsabwicklung, Rechnungsstellung, Kundenmanagement, E-Mail-Marketing und Social-Media-Aktivitäten. Und alles in wenigen Tagen, sogar Stunden, aufgesetzt und einsatzbereit. Es gibt heute wirklich keinen Grund mehr, solche manuellen Prozesse aufrechtzuerhalten. Denn sie verursachen nicht nur Aufwand auf der Anbieterseite, sondern verschlechtern auch die Kundenerfahrung massiv.
Abgesehen davon ist, wie bereits erwähnt, eine E-Commerce-Lösung mehr als ein Online-Shop, womit sich Kunden an das Unternehmen langfristig binden lassen. Deshalb muss die Lösung als eine weitere Möglichkeit betrachtet werden, um Kundenbedürfnisse zu erfüllen. Je nach Geschäftsart sollten Optionen zur Verbesserung der Kundenerfahrung evaluiert werden: persönliche Produktempfehlungen, Ergänzungsprodukte, Simulationen, Visualisierung, virtuelle Berater, Customizing Optionen, interaktive Elemente, Produktvergleiche, Avatare, Chatbots etc.

6.6.8 Aktivitäten: Vertrauensaufbau

Der Hauptfokus in der Easy-Buy-Phase liegt logischerweise auf der Optimierung der User Experience. Das Ziel ist es, eine wirklich einfache Kauferfahrung zu ermöglichen. Auch wenn Unternehmen glauben, eine tolle User Experience zu bieten, stellt sich die Realität meist anders dar. Bei der Analyse des Entscheidungsprozesses des Kunden haben wir gesehen, dass die Quote der verlassenen Einkaufskörbe in den Online-Shops relativ hoch ist. Laut Baymard Institute liegt der aus mehreren Studien abgeleitete Durchschnitt bei 69,8 % (Baymard 2021). Die Gründe dafür sind vielfältig, aber auch eindeutig: Kunden verlassen die Shops während des Check-out-Prozesses, weil
  • Extrakosten auftauchen (Lieferung, Steuer, Gebühren): 49 %
  • der Anbieter die Erstellung eines Kundenkontos verlangt: 24 %
  • die Lieferzeit zu lang ist: 19 %
  • der Check-out-Prozess zu lang und zu kompliziert ist: 18 %
  • Kunden kein Vertrauen haben, ihre Kreditkartendaten offenzulegen: 17 %
  • Kunden die gesamten Auftragskosten nicht vorab ermitteln konnten: 17 %
  • die Webseite Fehler hatte oder hängen geblieben ist: 12 %
    (Baymard 2021)
Die Ergebnisse dieser Studie bringen es auf den Punkt: Das PHANTOM lässt sich nicht wirklich manipulieren oder überlisten und hat keine Lust darauf, sich mit langwierigen und intransparenten Prozessen herumzuschlagen. Dieser Freigeist ist nicht mehr darauf angewiesen und geht einfach andere Wege.
Die Einzigen, die darunter leiden, sind die Anbieter selbst. Egal, ob die „Verheimlichung“ der Extra-Kosten bewusst oder unbewusst geschieht, sie ist in jedem Fall irreführend, denn Kunden sind am Ende nicht dumm und lernen aus ihren Fehlern. Mit jeder zusätzlichen negativen Erfahrung wird man schlauer und sich beim nächsten Mal nicht mehr irreführen lassen. Und sicherlich auch nicht mehr zurückkommen: nicht wegen Ihrer Produkte, sondern wegen der Erfahrung, die sie mit Ihnen machen. Heutzutage kann man sogar mit den besten Produkten Kunden reihenweise verlieren. Allein die schlechte Darstellung am Smartphone reicht dafür aus: Eine Google-Studie stellte fest: Wenn Menschen eine negative mobile Erfahrung (Smartphone Experience) machen, wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Zukunft bei diesem Anbieter kaufen, um 62 % geringer (Think with Google 2018).
Also ist im Kaufprozess die Optimierung der User Experience das Wichtigste, denn bis der letzte Knopf gedrückt ist, ist es noch nichts gewonnen. Und Knöpfe gibt es viel zu viele, samt auszufüllenden Feldern: im Schnitt 14,88 (Baymard 2021). Dass ein Kunde wenig Lust darauf hat, 15 Felder auszufüllen, ist wohl nicht besonders überraschend. Hand aufs Herz: Hätten Sie Lust darauf? Google ist auch hier den Anbietern zuvorgekommen und füllt mit gespeicherten Browserdaten Formulare automatisch aus.
Benötigen wir tatsächlich Google, um die Erfahrung unserer eigenen Kunden zu verbessern? Ich bin überzeugt, dass Sie das selber schaffen, wenn Sie sich in Ihre Kunden hineinversetzen.
Kunden wollen – nicht nur, aber vor allem am Ende des Entscheidungsprozesses – eine intuitive, schnelle, einfache und transparente Erfahrung. Wenn sie sich schon dazu entscheiden, bei Ihnen zu kaufen, müssen Sie sich als würdig erweisen. Dazu gehört eine angenehme und barrierefreie Kauferfahrung.
Dazu müssen die Anzahl der Felder auf das Nötigste reduziert werden sowie auch die Schritte, um eine Aufgabe im Shop zu erledigen, beispielsweise eine Produktsuche und ein Kaufabschluss. Und das alles natürlich im responsiven mobilen Design.
Kauferfahrungen anhaltend optimieren
Es genügt jedoch nicht, eine hervorragende Kauferfahrung einmal aufzubauen. Um die User Experience laufend zu verbessern ist es erforderlich, Prozesse einzuführen, die eine ständige Anpassung und Optimierung ermöglichen. Customer Experience entwickelt sich zu einem Wettbewerbsvorteil und Differenzierungsmerkmal, deshalb sollte sie zu einem eigenen KPI deklariert werden, der kontinuierlich überwacht werden soll. Dazu bietet die Technologie viele Optionen, zudem eignen sich proaktive Kundenbefragungen gut dafür. Fragen Sie Ihre Kunden direkt, wonach sie suchen und was sie wollen, nehmen Sie ihr Feedback ernst und versuchen Sie, sich danach zu richten. Damit lässt sich langfristig Vertrauen aufbauen, das insbesondere unter digitalen Bedingungen zu einem kritischen Erfolgsfaktor wird.
Schauen wir noch einmal auf die zuvor genannte Studie von Baymard: 17 % der Kunden haben den Kaufprozess abgebrochen, weil sie kein Vertrauen gegenüber dem Anbieter entwickelten (Baymard 2021). Folglich ist Vertrauensaufbau einer der wichtigsten Aktivitäten im E-Commerce. Auf die Bedeutung des Vertrauens im B2B sind wir schon eingegangen. Im Konsumentenbereich, bei Transaktionsverkäufen, basiert Vertrauen auf der Fähigkeit des Produkts, zu funktionieren, und der Fähigkeit des Anbieters, zu liefern. Wenn der Kunde Ihnen das nicht glaubt, kauft er nicht – obwohl Sie das beste und günstigste Produkt sofort verfügbar haben.
Vertrauensaufbau ist komplex
Vertrauensaufbau ist ein komplexer Prozess, der psychologische, soziale, organisatorische und technologische Faktoren umfasst. Jeder noch so kleine Faktor kann das Vertrauen positiv oder negativ beeinflussen. Beispielsweise wird ein Kunde sich möglicherweise gegen einen Kauf entscheiden, obwohl der Anbieter sogar unter Berücksichtigung der zusätzlichen, während des Check-out-Prozesses aufgetauchten Kosten, immer noch die günstigste Option ist. Er bricht den Vorgang trotzdem ab, weil er sein Vertrauen in den Anbieter verloren hat und kein Risiko mehr eingehen möchte, um vielleicht noch weitere negative Überraschungen zu erleben.
Anbieter dürfen einerseits den Vertrauensvorschuss ihrer potenziellen Kunden nicht aufs Spiel setzen und müssen zugleich Vertrauensbeweise bieten, um die Beziehungsbasis zu stärken. Dazu gehören beispielsweise Sicherheitszertifikate, Siegel von anerkannten Prüfstellen, Kundenbewertungen, Referenzaussagen und sonstige Social Proofs, Nennungen in der Presse, Öffentlichkeitsarbeit, Präsenz in den sozialen Medien, korrekte und transparente Informationen zum Unternehmen und seinen Richtlinien, Impressum-Daten, Kontaktinformationen und -möglichkeiten und nicht zuletzt ein stimmiges und professionelles Auftreten auf allen digitalen Kanälen.
Bei all dem ist es jedoch wichtig zu verstehen, dass der Aufbau von Vertrauen ein langfristiges Ziel sein sollte, um Kunden an das Unternehmen zu binden. Es sollte ständig und bei allen Aktivitäten im digitalen Raum im Auge behalten werden, denn bei der kleinsten Andeutung von Fehlverhalten oder Unglaubwürdigkeit kann die Arbeit von mehreren Jahren in wenigen Minuten zerstört werden. Abgesehen davon müssen wir das Vertrauen unserer flüchtigen und opportunistischen PHANTOM-Kunden immer wieder aufs Neue gewinnen. Dazu gehört auch der respektvolle Umgang mit Kunden und ihren Daten nach dem erfolgten Kauf.
Wir dürfen den im Rahmen einer ersten Transaktion gewährten Vertrauensvorschuss des Kunden nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen, wie etwa mit aggressiven und unqualifizierten Marketing- und Kundenbindungsmaßnahmen. Insbesondere Marketingtaktiken wie Re-Targeting, die auf die offensichtliche Nutzung der Kundendaten hinweisen, werden von Kunden häufig als lästig und störend empfunden, insbesondere dann, wenn sie schlecht durchgeführt werden (SmarterHQ 2020):
  • Zu oft und wiederholt adressiert: 66,2 %
  • Zu lange adressiert: 44,3 %
  • Es fühlt sich an, als ob sie mir wieder was verkaufen wollen: 41,4 %
  • Ich habe die Sachen schon gekauft: 38,6 %
  • Ich war auf der Suche nach einem Geschenk: 36,8 %
Wir wollen die dünne und zerbrechliche Vertrauensbeziehung stärken, statt zu versuchen, die Verkäufe daraus zu maximieren. Im Gegensatz zu einem verkaufs- und umsatzorientierten Ansatz fördert ein kunden- und beziehungsorientierter Ansatz die Kundentreue und -zufriedenheit, was zu einer geringeren Abwanderungsrate, mehr Weiterempfehlungen und im Endeffekt zu mehr Umsatz führt. Der Umsatz sollte nie direkt gefördert werden, sondern als Ergebnis aus einer hervorragenden Kundenbeziehung entstehen.

6.6.9 Engagement: Customer Experience im Fokus

Am Ende seiner Entscheidungsreise angelangt, kann ein Kunde durchaus eine Entscheidungsmüdigkeit erleben, in den Fachkreisen als Decision Fatigue bezeichnet. Diese tritt nach einer langen Entscheidungsfindung und unzähligen Entscheidungsschritten ein. Sie wird auch als eine der Ursachen für irrationale Kompromisse bei der Entscheidungsfindung verstanden und auch für schlechte Entscheidungen verantwortlich gemacht. Decision Fatigue kann aber auch dazu führen, dass Menschen Entscheidungen gänzlich vermeiden, ein Phänomen, das als Decision Avoidance (Entscheidungsvermeidung) bezeichnet wird.
Sicherheit darf keine Barriere sein
Deshalb sollten wir durch unsere Prozesse den Kunden nicht zu noch mehr Entscheidungen zwingen, sondern möglichst einfache Wege zum Kaufabschluss bereiten. Ebenso kann jeder zusätzliche Schritt auf dem Weg zum ersehnten Ende der Kaufentscheidung zu dieser Müdigkeit beitragen. Dazu gehören vor allem lange Formulare und Authentifizierungsmaßnahmen, die oft keinen Sinn haben, aber eine Barriere in der Kundenerfahrung darstellen.
Ziel ist es, alle Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen und Risiken zu minimieren, zugleich aber die User Experience nicht negativ zu beeinträchtigen.
Nahtlose und adaptive Authentifizierungsprozesse sind notwendig. Die Sicherheitsrisiken sollten immer den möglichen Verlusten in der Customer Experience gegenübergestellt und gründlich evaluiert werden. Erstaunlich ist jedoch, wie oft die Umsetzung von Security-Anforderungen falsch verstanden wird, beispielsweise die 2-Faktor Authentifizierung, und dadurch zu noch mehr Frustration auf der User-Seite führt. Technologie muss, wie in Kap. 1 dargestellt, einfach und unkompliziert in der Anwendung sein. Natürlich gibt es Betrugsrisiken, die man vermeiden möchte, aber bitte doch nicht auf die Kosten der Kunden.
Auch wenn IT-Experten viele Warnungen zu Sicherheit im Netz aussprechen und die durchgängige Einführung von Authentifizierungsmaßnahmen ausdrücklich empfehlen, sind sie jedoch in Relation zum möglichen Risiko zu setzen und auf ihre Relevanz in den jeweiligen Anwendungen zu hinterfragen. Wenn es um einen Zugang zum Kundenportal, um eine Anmeldung im Online-Shop, RMA-Portal oder Kundenkonto geht, sind Sicherheitschecks noch nachvollziehbar, obwohl manche Prozesse sich in ihrer Komplexität überschlagen. Aber bei einfachen Abfragen, wie etwa beim Tracking einer Lieferung oder beim Absenden einer Kontaktanfrage sind sie auf ihre Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Beispielsweise hatte ich vor Kurzem den Status einer Lieferung bei einer Spedition abfragen wollen und musste dafür eine Captcha-Verifizierung vornehmen. Wozu bitte ist eine Verifizierung in diesem Schritt notwendig? Auch nach längerem Überlegen konnte ich keine sinnhafte Antwort darauf finden, außer dass IT-Experten dies für notwendig erachten. Mühsam war es aber dennoch, bei jeder Abfrage die verschwommenen Buchstaben zu erkennen und einzugeben. Ein anderes Beispiel einer Airline: Die Captcha-Abfrage kommt erst nach der Eingabe aller Daten für eine Flugsuche und dann schickt sie den User wieder zum Anfang, wo er erneut alles eingeben muss.
Kennen Sie den Fall, wenn man bei einem Anbieter im Kundendienst anruft und zuerst die eigene Kundennummer oder Auftragsnummer im Telefonmenü angeben muss, um dann von drei verschiedenen Personen nach derselben Nummer gefragt zu werden? Welchen Sinn hat das – außer dass die Kunden gequält werden? Solche Fälle sind ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Prioritäten des Unternehmens aus dem Ruder gelaufen sind: Man möchte sich doch nicht von den eigenen Kunden schützen, oder?
Abgesehen davon, dass jede dieser Barrieren mühsam und frustrierend ist, verlangsamt sie auch den gesamten Prozess. Kunden schätzen Unternehmen, die sich um ihre wertvolle Zeit bemühen und möglichst schnelle Erfahrungen bieten. Dazu gehören nicht nur die Prozesse im Online-Shop selbst, sondern alle Engagement-Arten, die angeboten werden. Insbesondere im Geschäftsumfeld wollen Kunden, dass Angelegenheiten schnell gelöst werden.
Unternehmen müssen ihre Silos abschaffen und den Transfer von Daten von einer Abteilung an die andere in Echtzeit sicherstellen, sodass der Kunde das Gefühl hat, mit einem Unternehmen als Ganzes zu interagieren, nicht mit zig unabhängigen und sich sogar widersprechenden Abteilungen.
Auch diesem Ziel kann Technologie dienen, denn sie kann den Informationsfluss sowie auch die etwaigen administrativen Aufgaben übernehmen. Hierdurch werden Vertriebsmitarbeiter entlastet und können sich darauf konzentrieren, ihre Kunden bei ihren Entscheidungen zu unterstützen und schneller und qualitativer auf ihre Interaktionen zu reagieren.

6.6.10 Technologie-Aspekte: Individuelle Kauferfahrungen

In der letzten Phase des Weges der Kundenentscheidung, wenn es letztendlich um den eigentlichen Kauf geht, gibt es zahlreiche technologische Möglichkeiten, die nützlich sein könnten. In gewisser Hinsicht kommen wir ohne Technologie gar nicht mehr aus: egal, ob es sich dabei um ein ERP-System handelt, um die Verkaufstransaktionen abzuwickeln, oder integrierte Bestellerfassungssysteme oder E-Commerce Lösungen. Zudem gibt es spannende Möglichkeiten, um die Kundenerfahrung nicht nur zu optimieren, sondern innovativ zu gestalten. Beispielsweise mit Augmented Reality und Virtual Reality, zwei Technologien, deren Bedeutung im E-Commerce rasant zunimmt.
  • AR- und VR-Technologien lassen keine Wünsche offen, wenn es darum geht, Kunden mit Ihrem Produkt in die zukünftige Realität zu versetzen. Dadurch kann man die Artikel vor dem Kauf anprobieren oder sie in die spezifische Situation des Kunden integrieren, beispielsweise die Couch im eigenen Wohnzimmer platzieren. Diese virtuellen Anwendungen machen es den Kunden wesentlich leichter, fundierte Kaufentscheidungen zu treffen, während die Marken die Erwartungen der Kunden besser steuern können und zugleich ihre Kosten im Bereich der Rückerstattung reduzieren. Diese Anwendungen werden schon länger im Konsumentenbereich eingesetzt, vor allem bei sperrigen Artikeln, wie im Möbelhandel. Sie finden jetzt aber zunehmend Anwendung im Beauty- oder Bekleidungsbereich, und nicht zuletzt auch im B2B-Segment. AR wird zunehmend auch auf dem Smartphone eingesetzt, sodass die mobile Erfahrung der Kunden verbessert wird. Letztendlich ist das Ziel, Kunden im Online-Handel ähnliche Erlebnisse zu bieten wie im stationären Handel, nur auf eine bequemere Art und Weise – überall, jederzeit und auf ihre individuellen Bedürfnisse angepasst: in ihrem persönlichen Kontext.
  • Big Data und Künstliche Intelligenz sind die nächsten Technologien, die im Dienst der Ultra-Personalisierung der Kundenerfahrungen große Hilfe leisten. Die Personalisierung von Inhalten ist eine der besten Möglichkeiten, die Konversionsraten im E-Commerce zu erhöhen. Tatsächlich berichten Anbieter von Umsatzsteigerungen von rund 20 %, wenn sie Personalisierung in ihren E-Commerce-Systemen nutzen. Auch wenn Personalisierung nichts Neues ist, hat die Covid-19-Krise Veränderungen im Einkaufsverhalten ausgelöst, die darauf hindeuten, dass die Verbraucher mehr und mehr explizit nach personalisierten Erlebnissen suchen. Wunschlisten, Produktsammlungen, Geschenkwünsche, Kaufempfehlungen, Erinnerungen und ähnliche Optionen bieten umfassende Möglichkeiten der Personalisierung. Dafür benötigen die Anbieter die Technologien von Big Data und KI, die im B2C-Bereich schon großartige Customer Experience bieten können. Im B2B-Segment stoßen die meisten Systeme noch an ihre Grenzen, was durch die spezifische B2B-Komplexität in Bezug auf die Produkte, die Buying Center und die Diversität der Zielgruppen bedingt ist. Jedoch ist zu erwarten, dass die Anbieter schnell aufholen. Denn auch B2B-Kunden fordern zunehmend personalisierte B2B-Kauferfahrungen, deren Gestaltung heute schon mit dem Einsatz von fortschrittlichen KI-Lösungen (ML und DL) möglich ist.
  • KI-Analytics und Machine Learning entwickeln sich mit rasanter Geschwindigkeit weiter und ermöglichen es, nicht nur höchstpersonalisierte Kundenerfahrungen zu gestalten, sondern sie sogar vorherzusagen. Mit Predictive Analytics können anhand von unzähligen Faktoren die potenziellen Wünsche vorhergesagt werden, wie beispielsweise die früher gekauften, angeschauten oder ausgewählten Artikel durch denselben User oder durch ähnliche Kunden, den konkreten Kontext sowie auch das Suchverhalten. Dies geschieht auf eine intelligente und unaufdringliche Art und Weise, sodass sich Kunden nicht belästigt, sondern unterstützt fühlen. Zudem können Unternehmen mit Dynamischen Personas und Predictive Analytics tiefe Einblicke in ihre Zielgruppen gewinnen und ihre individuellen Kundenbedürfnisse noch besser verstehen. Womit sie „richtigere“ Lösungen in Echtzeit anzubieten im Stande sind, wofür Kunden auch bereit sind, zu zahlen. Nicht selten sogar mehr. Dies gilt ebenso für den B2B-Bereich, da immer mehr Informationen in digitaler und vernetzter Form zur Verfügung stehen, womit Algorithmen besser im Stande sind, Kundenbedürfnisse innerhalb des ganzen Buying Centers zu erkennen und zu antizipieren.
  • Kundenportale und Selbstbedienungslösungen sind weitere Anwendungen, um die Kundenerfahrung während des Kaufs und unmittelbar danach zu verbessern. Durch die ständige Verfügbarkeit des Internets mit allem, was dazu gehört, sind Kunden verwöhnt und erwarten die Möglichkeit, sich 24/7 selbst zu bedienen. Insbesondere im B2B-Bereich müssen wir versuchen, auf den B2C-Level zu kommen, was die Verfügbarkeit, die Einfachheit und die Schnelligkeit der Erfahrung betrifft. Das bedeutet, dass die Online-Kundenplattform rund um die Uhr verfügbar sein soll, mit sofortigem Zugang zu allen benötigten Informationen, wie Produktinformationen, Bestandsverfügbarkeit und Lieferdetails oder Rechnungen, am besten mit direkten Interaktionsmöglichkeiten. Laut einer Studie von Sana Commerce würden 30 % der B2B-Käufer es vorziehen, mindestens 90 % ihrer Produkte online zu kaufen (Sana Commerce 2021). Tendenz steigend. Unternehmen müssen mehr tun, wenn sie die wachsende Nachfrage nach B2B-E-Commerce bei ihren Kunden befriedigen wollen.
Individuelle Kauferfahrungen mit Technologie gestalten
Bereits ein partieller Einsatz von Technologie führt zu inkrementellen Verbesserungen, dennoch wird man damit auf die wachsenden Anforderungen der Kunden wahrscheinlich nicht zufriedenstellend reagieren können. Deshalb sollten nicht nur vereinzelt Technologien eingeführt werden, sondern die Verbesserung der gesamten Kauferfahrung gilt es im Blick zu haben und permanent anzustreben. Testen Sie Innovationen mit verschiedenen Kundengruppen, involvieren Sie auch Kunden in die Gestaltung ihrer Prozesse. Noch besser: Schaffen Sie Erfahrungen, die die Kunden selbst personalisieren können. Denn auch dafür erhalten wir mehr und mehr Hinweise: Kunden schätzen die Anbieter, die es ihnen ermöglichen, ihre eigene individuelle Kundenreise zu kontrollieren und anzupassen. Mit der weiteren Zunahme an Bedürfnissen des individualistischen Menschen ist fest zu rechnen.

6.7 The Big Picture – Aus der Vogelperspektive

Niemand wird bestreiten, dass Kunden ihr Verhalten verändert haben, nun muss der Vertrieb folgen, sei es im B2C oder im B2B. Obwohl es immer noch Kunden gibt, die traditionelle Wege gehen, gehört diese Gruppe eher zu einer aussterbenden Spezies, insbesondere durch den naturgemäßen Zuwachs der neuen Kundenschicht der Digital Natives. Im B2C-Segment ist diese Gewissheit zwar stärker ausgeprägt, aber auch dort gibt es eine Reihe von Anbietern, die den Bedarf einer Veränderung erkennen, diesen aber nicht in einen Zusammenhang mit den sonstigen Entwicklungen unserer Welt stellen. Der überwiegende Teil im B2B-Segment ist gerade dabei, dieses Bewusstsein zu entwickeln. Doch obwohl hier der Veränderungsbedarf erkannt wird, fehlt noch das Wissen, wie man sich anpassen sollte und welche Ansätze die richtigen sind. Es wird herumprobiert, es werden Tools getestet, hier und da wird in den sozialen Medien etwas gepostet oder sporadisch Blog-Artikel geschrieben, Google Ads geschaltet oder SEO optimiert. Neben der fehlenden Einsicht, dass dies nur Mittel zur Umsetzung einer durchdachten Marketing- und Vertriebsstrategie sind, liegt die Hauptproblematik darin, dass man traditionelle Marketing- und Vertriebsansätze einfach auf neuen (digitalen) Kanälen weiterverfolgt.
Der Status quo in B2B: Neue Märkte, neue Kunden, neue Produkte, aber alte Marketingmaterialien und Vertriebsmethoden.
Wir machen dasselbe, wie immer schon, nur eben auf neuen Plattformen und mit neuen Tools. Aber darauf hat das PHANTOM keine Lust: Es will keine Werbung mehr sehen, keine nichtssagenden Botschaften erhalten, nicht vor geschlossenen Unternehmenstüren stehen, Barrieren und Hürden in seiner Kauferfahrung auf sich nehmen, sich keinem strengen und starren Vertriebsprozessen beugen und mit Verkäufern der „alten Schule“ interagieren.
Was moderne Kunden wirklich wollen, wurde in diesem Buch – hoffentlich einleuchtend – dargestellt, und mit Daten aus zahlreichen Studien untermauert. Das allein reicht jedoch nicht. Jeder Anbieter muss eine tiefgehende Analyse seiner eigenen Zielkunden, ihrer Bedürfnisse, ihrer Situation, ihres Verhaltens und ihrer Erwartungen durchführen, um zu verstehen, wie sie Entscheidungen treffen: Das ist der Sinn des DECIDE-Prozesses. Auf dieser Basis wird der Vertriebs- und Marketingprozess aufgebaut, wozu der ENABLE-Prozess dient. Damit können die Anbieter die Bedürfnisse und die Erwartungen ihrer Kunden genau adressieren, wodurch ihre Umsätze zwangsläufig steigen und sie ihre Marktposition ausbauen. Welche bessere Alternative könnte es geben, als dass Vertrieb und Marketing das Verhalten ihrer Kunden spiegeln und vorausschauend auf deren Bedürfnisse und Erwartungen eingehen?
Das ist keineswegs eine leichte Aufgabe, im Gegenteil. Denn zuallererst erfordert sie ein grundlegendes Umdenken im Vertrieb:
Vom Anspruch, Produkte zu verkaufen, zum Anspruch, Kunden in ihren Entscheidungen zu befähigen.
Bewusstes Umdenken ist harte Arbeit und erfordert Veränderung. Und ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Der Vertrieb ist besonders veränderungsresistent. Genau hier liegt die erste und vielleicht zugleich größte Herausforderung. In Kombination mit dem Aufbau des notwendigen Verständnisses und der Entwicklung von neuen Fähigkeiten und Kompetenzen, kann diese Aufgabe sogar zu einer Goliath-Herausforderung werden. Aber führt ein Weg daran vorbei? Wenn man die EEE-Welt, den iii-Menschen und das PHANTOM aus der Vogelperspektive betrachtet, wohl nicht. Denn unter diesen neuen Bedingungen ist es offensichtlich, dass der Vertrieb mehr tun muss, als nur die Fähigkeiten und die Preise der eigenen Produkte zu kommunizieren. So, wie auch das Marketing mehr tun muss, als einfach nur Werbung für Produkte und die Marke zu schalten. Die Unternehmen müssen ihre Vertriebs- und Marketingprozesse wesentlich strategischer gestalten, um den Weg zum modernden Kunden zu ebnen und Reibungsverluste auf dessen Entscheidungsweg zu vermeiden. Dazu müssen wir das Enable-Prinzip aus mehreren Perspektiven betrachten.
Enable – Befähigen in vielerlei Hinsicht
Es reicht nicht nur, Kunden dazu zu befähigen, Produkte zu kaufen. Wir müssen sie auch dazu befähigen, richtige Entscheidungen zu treffen. Dazu müssen das Marketing und der Vertrieb selbst ebenfalls befähigt werden, diese modernen Ansätze zu konzipieren, umzusetzen und anhaltend zu optimieren.
Enable Decision – Enable Buying – Enable Sales and Marketing
Die Kombination aus diesen drei Ebenen der Befähigung wird ausschlaggebend für einen anhaltenden Vertriebserfolg sein.
Der ENABLE-Ansatz ist ein sehr wirksamer Ansatz, erfordert aber eine ausgeklügelte Kombination aus Marketing und Vertrieb, aus Technologie und Mensch, aus Branchenkenntnis und Kundenverständnis, Datennutzung und Technologieeinsatz. Jeder Schritt und jede Ebene im ENABLE-Prozess muss durchdacht und strategisch aus der Big-Picture-Perspektive konzipiert werden, um dann fortlaufend verbessert zu werden.
In Abb. 6.18 sind die jeweils zehn Ebenen in den sechs Stufen des ENABLE-Prozesses zusammengefasst. Anhand dieser Gesamtdarstellung kann man gut erkennen, worauf in den sechs Säulen des Prozesses auf der jeweiligen Ebene zu achten ist: Es sind die Kernbotschaften aus den detaillierten Beschreibungen der vorigen Abschnitte.
Das bedeutet eine Menge Arbeit. Aber lassen Sie sich nicht von der Komplexität abschrecken und gehen sie lieber kleine Schritte in die richtige Richtung als gar keine. Die Notwendigkeit dafür sollte, an dieser Stelle im Buch angelangt, nicht mehr angezweifelt werden. Ich persönlich sehe keine Alternativen, außer, dass man an den alten Mustern festhält oder unüberlegt Geld für neue Tools oder Online-Marketingmaßnahmen ausgibt, die zwar neue Wege gehen, aber die Vermarktungsmodelle der 1990er- bis 2000er-Jahre widerspiegeln. Womit die getätigten Investitionen – Geld und Ressourcen – nicht die erhofften Erfolge einbringen werden.
Der ENABLE-Vertriebsansatz ist ein langfristiger Ansatz: Es ist ein Marathon und kein Sprint, darauf sollte man sich von Anfang an einstellen, um nicht mittendrin enttäuscht zu werden. Man kann den ENABLE-Ansatz auch nicht einfach in einem Unternehmen einführen und erwarten, dass er sofort funktioniert. Er benötigt seine Zeit. Zudem werden intensive Trainings und Workshops entscheidend sein, um das notwendige Bewusstsein und das „richtige“ Wissen in der Organisation zu schaffen. Vertriebsmitarbeiter müssen diesen Ansatz lernen, üben und verinnerlichen. Dazu müssen sie auch neue Fähigkeiten und Kompetenzen entwickeln, was selten ohne ein gezieltes Coaching-Programm funktioniert. Es wird eine Kombination von Coaching und Training notwendig sein. Zudem müssen auch die richtigen Mitarbeiter eingestellt werden: Hardseller, Jäger und Überredungskünstler braucht eine zeitgemäße Vertriebsorganisation nicht mehr.

6.7.1 Neue Vertriebs- und Marketingrollen

Der ENABLE-Ansatz erfordert eine Veränderung in der Beziehung zwischen Vertrieb und Marketing: Anstatt miteinander zu konkurrieren, müssen sie eng zusammenarbeiten. Die Tätigkeiten zwischen Marketing und Vertrieb lassen sich nur noch schwer trennen und sollten ineinandergreifen, statt einander anzuschließen. Der klassische Prozess, in dem Marketing Leads „anlockt“ und der Vertrieb daraus Kunden „produziert“, hat ausgedient. Um moderne Kunden adressieren zu können, ist eine Verhaltensänderung sowohl bei den Verkäufern als auch bei den Marketingmitarbeitern notwendig.
Die Vertriebsmitarbeiter müssen nicht mehr akquirieren und konvertieren können, und Marketing muss nicht mehr Web-Development oder Grafikdesign können. Viele der klassischen Tätigkeiten im Marketing kann heute die Technologie viel besser, wie zum Beispiel KI-gesteuertes Webseiten-Design oder Video-Creation. Beide Bereiche müssen vor allem die Kundenbedürfnisse verstehen und für sie relevante Inhalte und Botschaften kommunizieren können sowie auch Kunden in ihrem Entscheidungsprozess begleiten und sie zur richtigen Entscheidung anleiten. Es ist nicht einfach, einen ENABLE-Prozess richtig aufzubauen. Aber wenn Sie es schaffen, ist er eines der besten Werkzeuge, die eine Vertriebsorganisation haben kann. Denn damit lässt sich nicht nur wirksamer, sondern auch schneller verkaufen:
  • Es werden enge und spezifische Zielgruppen adressiert, womit die Kaufwahrscheinlichkeit steigt.
  • Mit dem Fokus auf das Erzielen von Ergebnissen wird die Lösung / das Produkt viel attraktiver.
  • Mit der Bereitstellung von relevanten 5E-Inhalten wird die Kompetenz des Anbieters stark erhöht.
  • Durch das gezielte Anleiten des Kunden in seiner Entscheidung kann er schneller entscheiden und Sie können dadurch schneller verkaufen.
Ein einziger auf dem ENABLE-Prinzip basierender Verkaufserfolg kann Sie und Ihr Unternehmen für viele Jahre zum Platzhirschen bei Ihrem Kunden machen und Ihr Geschäft direkt und indirekt über viele weitere Jahre positiv beeinflussen.

6.7.2 Fokus auf Kaufprozess statt Verkaufsprozess

Wenn Sie Kunden helfen, richtig zu entscheiden, werden sie in den meisten Fällen auch bei Ihnen kaufen und Sie in jedem Fall weiterempfehlen und weitere Geschäfte mit Ihnen machen. Wenn Sie kurzfristig denken und nur verkaufsorientiert agieren, wird der Kunde keinen Grund darin sehen, Sie in seinen Entscheidungsprozess zu involvieren. Er wird seine Entscheidung eigenständig treffen und womöglich woanders kaufen. Obwohl es bei beiden Ansätzen um die Konzeption von Kundenlösungen geht, unterscheiden sich der ENABLE-Ansatz und der lösungsorientierte Vertrieb grundlegend voneinander, siehe Abb. 6.19.
Im klassischen Lösungsvertrieb wird zwar eine Lösung speziell für den Kunden erarbeitet, aber der Fokus liegt auf dem Verkauf. Es wird ein Problem gesucht, für welches eine Lösung angeboten wird, über deren Investitionsmehrwert der Kunde letztendlich entscheidet. Im ENABLE-Prozess dagegen wird der Kunde auf dem Weg zu seiner Entscheidung angeleitet und vor allem dabei unterstützt, die angestrebten Ergebnisse zu erreichen. Er wird aktiv auf Bedrohungen und ihre Auswirkungen hingewiesen, zugleich wird ihm der richtige Entscheidungsweg aufgezeigt. Dabei wird er auf potenzielle Fehler aufmerksam gemacht, und vor allem erhält er Unterstützung, um die richtige Perspektive einzunehmen. Am Ende wird ihm eine Option, die die gewünschten Ergebnisse erzielen kann, ausdrücklich empfohlen. Die Entscheidung wird im Grunde gemeinsam getroffen. Auch wenn Kunden der Meinung sind, selbst zu wissen, was sie benötigen und richtige Entscheidungen eigenständig treffen zu können, weiß es ein Anbieter, der Hunderte und Tausende von ähnlichen Entscheidungen begleitet hat, doch besser als ein Kunde, der nur ein oder zum ersten Mal den Prozess durchgeht oder ihn nur in seinem engen Geschäftskonzept kennt. Die Herausforderung im Vertrieb besteht darin, dieses Wissen auch dafür zu nutzen, um dem Kunden zu helfen, seine Ziele zu erreichen.
Je komplexer der Prozess der Entscheidung, desto wichtiger der ENABLE-Ansatz
Es überrascht nicht, dass die Effizienz und die Geschwindigkeit in Beschaffungsprozessen bei Unternehmen höchste Priorität haben, denn in einer sich immer schneller drehenden Welt kann man sich keine trägen und langsamen Entscheidungsprozesse mehr leisten. Ironischerweise werden die Prozesse aber durch die neue Eigenständigkeit der Kunden und die damit verbundene, höhere Komplexität zwangsläufig langsamer. Der ENABLE-Ansatz unterstützt Unternehmen bei der Bewältigung dieser Komplexität und verkürzt ihre Beschaffungsprozesse, weil er die Entscheidung gezielt unterstützt und fördert. Anstatt einfach Angebote abzugeben, zeigt der Verrieb dem Kunden, was er in Bezug auf diese Entscheidung tun sollte, wie er vorgehen kann und vor allem, warum er das tun sollte. Kunden werden diese Unterstützung begrüßen, dennoch ist mit diesem Ansatz keine hundertprozentige Garantie für einen Kaufabschluss gegeben. Jedoch wird sich die gesamte Vertriebsleistung dadurch langfristig zweifelsohne verbessern.
Mit dem ENABLE-Ansatz werden die Absichten der Kunden hinter einer Kaufabsicht eruiert, wodurch man darauf auch viel besser eingehen kann.
Der ENABLE-Ansatz hilft uns zu erkennen, was Kunden machen, und vor allem warum sie das machen.
Diese Erkenntnis stellt den ersten wichtigen Baustein dar. Das allein reicht aber nicht. Im Zeitalter des rasanten digitalen Wandels müssen wir auch die Erwartungen von Kunden in Bezug auf ihre Kauferfahrungen verstehen und fähig sein, darauf zu reagieren. Wir müssen Kunden sinnvolle Interaktionen und innovative Erlebnisse bieten und ihr Leben insgesamt leichter gestalten, indem wir ihre Erfahrung mit uns – dem Anbieter – erleichtern.
Bei jeder einzelnen Geschäftsentscheidung sollten wir ihre möglichen Auswirkungen in Bezug auf die Kundenerfahrung berücksichtigen. Denn darauf kommt es an: Wie die zitierten Studien gut dargestellt haben, entwickelt sich die Qualität der Kauferfahrung zu einem wichtigen Entscheidungskriterium.

6.7.3 Herausragende Kundenerfahrung verstehen

Eine tolle Kundenerfahrung bedeutet für jeden Kunden etwas anderes: beginnend mit der Qualität der Interaktion, den angebotenen Produkten und Leistungen, unterschiedlichen Kaufoptionen, den verfügbaren Channels, der Lieferfähigkeit, bis hin zu der Vielfalt von Zahlungsmodalitäten und den Rückgabeoptionen. Jeder hat unterschiedliche Präferenzen: Bequem kann für jeden von uns eine andere Bedeutung haben.
Ist eine Beratung beim Händler um die Ecke bequem? Ein Telefonat mit einem Callcenter-Agent? Oder ein Austausch via Facebook-Chat? Die Anbieter müssen sich auf ihre Kunden konzentrieren und herausfinden, welche Art der Bequemlichkeit ihre Kunden speziell bevorzugen, und dann ihre Prozesse während der gesamten Kundenerfahrung danach ausrichten. Kundenerfahrung ist nicht gleich Kauferfahrung: Sie beginnt mit dem ersten Blick auf Ihren Google My Business Eintrag und endet womöglich in Ihrem stationären Handel oder in Ihrer App.
Was auch immer bequem und herausragend für Ihre Kunden bedeutet, stellen Sie sicher, dass die Gestaltung einer einfachen und begeisternden Kundenerfahrung zur Priorität in Ihren Marketing- und Vertriebsreihen wird, mit dem obersten Ziel: personalisierte und individuelle Kundenerfahrungen zu schaffen. Dazu gehören natürlich auch die Berücksichtigung der Interessen im Buying Center und die entsprechende Personalisierung von Inhalten.
Die Inhalte sollten die individuellen Kaufbedürfnisse widerspiegeln, sie direkt ansprechen und zugleich an den richtigen Stellen und in den richtigen Medien bereitgestellt werden, damit sie online leicht gefunden und verdaut werden können – barrierefrei. Denn durch die Beseitigung von Informationsbarrieren können die Kunden in Ruhe und nach Belieben selbst recherchieren. Die Freiheit, dies zu tun, resultiert in der Bereitschaft, demjenigen Unternehmen zu vertrauen, das ihnen die Informationen uneigennützig zur Verfügung stellt.
Während die Idee, wichtige Informationen frei verfügbar zu machen, für einige Vertriebsorganisationen relativ neu ist, tun andere dies schon seit Jahren. Das Prinzip der Geheimhaltung, nach dem kritische Informationen und Preise nicht offengelegt werden, hat ebenfalls ausgedient. Hochqualifizierte Interessenten fühlen sich abgeschreckt, wenn sie in ihrem Zugang zu wichtigen Informationen einschränkt werden, und sie entwickeln Zuneigung zu denjenigen Anbietern, die ihnen die gewünschten Informationen bieten, ohne etwas im Gegenzug zu verlangen: wann und wo sie es wünschen.

6.7.4 Fokus auf Mehrwert statt Information

Dank Content Marketings gibt es heute eine Menge qualitativ hochwertiger Informationen im Internet, was letztendlich auch dazu führt, dass Kunden nur noch selten einen Verkäufer kontaktieren, bevor sie sich eine eigene Meinung über die Alternativen gebildet haben. Und je mehr Anbieter zu der Erkenntnis gelangen, dass man mit wertvollen Inhalten Kunden anzieht, statt die Konkurrenz zu stärken, wird die Menge an Informationen im Internet nur noch zunehmen. Der Trend ist eindeutig, was unweigerlich zu noch mehr Informationslärm im digitalen Raum führt. Das hat zur Folge, dass Kunden sich während ihrer Recherchen noch stärker auf den Nutzen fokussieren. Allein aus diesem Grund sollten wir uns rein auf relevante Nutzeninhalte fokussieren.
Ziel ist es, durch Inhalte Mehrwert zu generieren und zu transportieren.
Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass es wichtig ist, Kunden nicht mit Informationen zu überhäufen. Dies ist der Schlüssel im ENABLE-Prozess. Mit dem Fokus auf Mehrwert und Nutzen wollen wir alle aus Kundensicht irrelevanten Informationen eliminieren. Das ist keine leichte Aufgabe für einen Anbieter, denn aus der eigenen Sicht ist Vieles wichtig. Aber was interessiert Ihren Kunden wirklich? Allzu oft müssen sich Kunden in einem Labyrinth von Informationen zurechtfinden und verzweifeln daran. Ersparen Sie es Ihren Kunden, sie werden Ihnen dafür dankbar sein. Denn trotz Digitalisierung hat sich an den Grundbedürfnissen in den Kaufentscheidungen nicht viel verändert.
Die Grundbedürfnisse sind dieselben
Kunden haben zwar mehr Informationen, sie gehen andere Wege, sie treffen Entscheidungen auf der Basis neuer Faktoren, aber am Ende des Tages geht es immer noch wie früher darum, richtige Kaufentscheidungen zu treffen. Das Verhalten im Rahmen des Entscheidungsprozesses hat sich verändert, aber im Kern einer Entscheidung selbst hat sich nichts verändert: Kunden haben immer noch ein Problem, das gelöst werden will und wofür sie auf der Suche nach Lösungen sind, die sie bewerten und deren Mehrwert in Relation zur Investition stellen.
Im eigentlichen Entscheidungsprozess hat sich dagegen vieles verändert: Kunden kommen auf anderen Wegen darauf, dass sie ein Problem haben; die Art der Probleme hat sich verändert; ihre Bedrohungen sind anderer Natur; sie erfahren aus anderen Quellen, welche Lösungen es gibt; die Art der Lösungen hat sich verändert; sie informieren sich anders dazu; sie haben andere Kriterien, um Entscheidungen zu treffen; ihre internen Prozesse haben sich verändert; ihre Lieferantenpräferenzen sind neu; sie involvieren andere Beteiligte in ihre Entscheidungen; sie haben weniger Zeit; sie stehen unter größerem Druck; sie müssen schneller und besser entscheiden … Trotz all dieser Veränderungen geht es immer noch um ein Problem, für das eine Lösung erforderlich ist, und es wird immer noch versucht, Ergebnisse mit der Investition zu erzielen und das Risiko zu minimieren. Heutzutage benötigen sie jedoch eine andere Art der Unterstützung aus Vertriebskreisen. Die Kunden-Welt hat sich verändert und ist zu komplex geworden, als dass herkömmliche Vertriebsbemühungen sie noch weiterbringen könnten.
Anbieter müssen Mehrwert entlang des modernen Entscheidungsprozesses ihrer Kunden schaffen.
Dazu sind traditionelle Ansätze einfach nicht mehr in der Lage. Wir benötigen eine intelligente Mischung aus Technologie und menschlicher Kompetenz, die voraussetzt, dass wir genau wissen, was der Mensch besser und was die Technologie besser kann. Dazu muss aber zuerst verstanden werden, was wirksamer Einsatz von Technologie bedeutet.

6.7.5 Die Technologie-Intelligenz

Technologie ist nicht dazu da, um den Menschen zu ersetzen, sondern um unser Leben als Menschen zu verbessern. Sie ist nicht da, um Prozesse zu automatisieren und die Effizienz in den Sales-Prozessen zu steigern, sondern um dem Vertrieb zu ermöglichen, Kundenbedürfnisse schneller zu erfüllen. Sie ist auch nicht da, um Menschen im Vertrieb zu kontrollieren, sondern um sie bei der Ausführung ihres Jobs zu befähigen. Das größte Missverständnis in Bezug auf Technologie liegt darin, dass sie falsch eingesetzt wird. Wenn wir Technologie einführen, um einfach nur die eigenen Prozesse effizienter zu gestalten, oder um der Technologie willen, laufen wir Gefahr, dabei die Kundenerfahrung zu verschlechtern.
Technologie hat nicht den Zweck, Menschen in Kundeninteraktionen zu ersetzen, sondern Kunden das, was sie benötigen, schneller, bequemer und einfacher verfügbar zu machen.
Wenngleich neue Technologien helfen, Vertriebsprozesse zu optimieren, dürfen Unternehmen sich nicht blind auf die Optimierung und die Effizienzsteigerung fokussieren. Denn man kann hocheffizient komplett an den Kundenanforderungen vorbei agieren und sich „zu Tode digitalisieren“. Genauso wenig sollte man auf die Vormachtstellung von persönlichen Beziehungen bestehen. Die Technologie kann die menschliche Interaktion niemals vollständig ersetzen. Dennoch hat sie einen erheblichen Einfluss darauf, wie wir miteinander und mit der Welt um uns herum umgehen, und sie kann die Qualität der Kundenerfahrung maßgeblich beeinflussen: in positiver und in negativer Hinsicht. Die Intelligenz liegt darin, zu unterscheiden, wann was Priorität hat.
Mit Technologie sollte man die Kundenerfahrung verbessern, nicht verschlechtern.
In der Realität geschieht oft das Gegenteil: Viele Kunden werden durch automatisierte technologische Interaktionen abgeschreckt oder enttäuscht, wie beispielsweis durch automatisierte Telefonanlagen oder schlecht programmierte Chatbots und unübersichtliche Webshops. Wenn die Technologie nicht richtig funktioniert, ist es mehr als frustrierend, mit ihr zu interagieren, weil sie ihr eigenes Problem nicht von allein lösen kann: Man dreht sich in Kreis. Richtig eingesetzt, ermöglichen viele technologische Entwicklungen die Gestaltung eines angenehmen Kundenerlebnisses, und sie helfen zugleich Unternehmen, die Bedürfnisse ihrer Kunden besser zu verstehen und zu erfüllen. Denn der technologische Einsatz verschafft uns Einblicke in das Verhalten und die Bedürfnisse unserer Kunden in einer bislang nicht möglichen Tiefe. Unternehmen sollten – endlich – lernen, diesen wahren Mehrwert der Technologie zu nutzen, anstatt sie nur mit dem Ziel der Automatisierung und der Produktivitätssteigerung zu implementieren.

6.7.6 Customer first, not technology first

Die Kundenerfahrung (Customer Experience) wird häufig eins zu eins mit dem Einsatz von Technologie in Verbindung gebracht. Allein durch den UX (User Experience) Begriff selbst, der heute in aller Munde ist, entsteht dieses weitere Missverständnis. Eine Kundenerfahrung impliziert die Gesamtheit aller Interaktionen mit dem Unternehmen, nicht nur diejenigen digitaler Natur, wie oft fälschlicherweise angenommen wird.
Egal, wie hoch entwickelt die Technologie ist: Wenn sie in ihrem Kern missverstanden wird, kann sie auch nicht ihr Potenzial im Unternehmen entfalten. Das beste Beispiel dafür bieten die CRM-Systeme, die durch ihre Geschichte aus den 1990er- und 2000er-Jahren dazu verdammt sind, missverstanden zu werden. Ein CRM-System ist keine Kontaktdatenbank. Auch kein Berichterstattungstool. Auch kein Kontrollinstrument und es dient nicht dazu, alle Vertriebsaktivitäten zu erfassen und zu kontrollieren. Wenn man den Vertriebsmitarbeitern misstraut, hat man ein anders Problem, das auch kein CRM-System lösen wird. Es dient auch nicht dazu, sich von der Abhängigkeit der Vertriebsmitarbeiter zu lösen. Der Zweck eines CRM-Systems ist es, den einzelnen Vertriebsmitarbeiter und die gesamte Organisation in ihren Vertriebsaktivitäten zu unterstützen.
Ein CRM-System sollte einen Vertriebsmitarbeiter besser machen, nicht schlechter.
Und das könnte es sehr gut, wenn es von den Beteiligten richtig verstanden und eingesetzt würde: von den Unternehmen und den Vertriebsmitarbeitern. Dazu fehlt leider breitflächig das Bewusstsein, und die Einführung eines CRM-Systems wird sogar aktiv boykottiert. Nicht selten habe ich von Vertriebsleitern oder Geschäftsführern – nicht von den Vertriebsmitarbeitern – diese Aussage gehört: „Ich habe bis jetzt die Einführung eines CRM erfolgreich verhindert!“ Stattdessen wird der Vertrieb mit unzähligen Excellisten beschäftigt. Wer, wenn nicht die Führungsebene, sollte den Mehrwert eines Systems erkennen, das den Vertrieb bei der Ausführung seines Jobs unterstützt?
Jeder Technologie-Einsatz im Vertrieb sollte dazu dienen, Kundenbedürfnisse besser zu erfüllen und bessere Kundenerfahrungen zu gestalten. Im ENABLE-Prozess gibt es dazu vielfältige Möglichkeiten, wie wir gesehen haben. Hinzu kommen auch die zahlreichen technologischen Möglichkeiten im Bereich der Vertriebssteuerung: Heute lässt Technologie keine Wünsche eines Vertriebsleiters offen. Im Gegenteil, mit KI-gesteuerten Systemen ist eine noch nie dagewesene Granularität in der Vertriebsleistungsanalyse und -planung möglich, die es möglich macht, fundierte Entscheidungen zu treffen. Aber auch hier muss ein Umdenken geschehen, denn auch viele traditionelle Ansätze der Vertriebsführung verfehlen ihren Zweck unter digitalen Bedingungen.

6.7.7 Vertriebssteuerung statt Vertriebskontrolle

Die oft gelebte Praxis, Vertriebsmitarbeiter zu kontrollieren und anhand der Anzahl der Kundenbesuche oder -telefonate zu bemessen, war noch nie zielführend, sie hat jedoch heute keinerlei Existenzberechtigung mehr. Vertriebsmitarbeiter sollten auf der Basis von erzielten Ergebnissen statt ausgeführten Tätigkeiten bemessen werden.
Ebenso hat der traditionelle Ansatz ausgedient, die Abschlusswahrscheinlichkeit einer Opportunity anhand ihrer Vertriebsprozessphase zu bestimmen. Oder der Ansatz, die Generierung von möglichst vielen Leads zu fördern, damit am Ende des Funnels möglichst viel übrig bleibt. Diese Ansätze funktionieren nur noch bedingt, demzufolge müssen die Vertriebssteuerungsansätze neu gedacht werden. Vertriebsführungskräfte sollten
  • Vertriebsmitarbeiter befähigen, in ihren Jobs zu performen, statt Druck auszuüben;
  • den Fokus auf Ergebnisse legen, statt Tätigkeiten zu kontrollieren;
  • die Qualität von Opportunities und Leads in den Vordergrund stelle, statt ihre Menge zu bewerten;
  • Mitarbeitern helfen, ihre Kunden zu verstehen und ihre Bedürfnisse zu erkennen, statt klassische Seminare und Trainings für die Aneignung von Verkaufsmethoden zu organisieren;
  • fortlaufend Workshops für die Geschäftsentwicklung organisieren, statt den Vertrieb für zwei Tage jährlich auf Schulungen zu schicken;
  • die Qualität der Anleitung des Kunden durch seinen Entscheidungsprozess bewerten, statt die Anzahl der abgeschlossenen Deals zu bemessen;
  • den Vertriebsmitarbeitern Werkzeuge bereitstellen, damit sie die neue nichtlineare Entscheidungsreise der Kunden steuern können, statt Kontrollinstrumente einzuführen;
  • die Erfüllung von Kundenbedürfnissen fördern, statt Umsatz zu pushen;
  • langfristige Metriken und vertrauensbildende Entlohnungsmodelle entwickeln, statt kurzfristige Umsatzziele zu vergeben und mit monatlichen oder quartalsweisen Provisionen die Vertriebsleistung zu fördern.
Nicht nur die Vertriebs- und Marketingmitarbeiter müssen umdenken. Vor allem müssen die Führungsebenen sich vom kurzfristigen Denken und von der Förderung von kurzfristigen Ergebnissen lösen.
Der ENABLE-Ansatz befähigt Kunden, bessere Entscheidungen zu treffen und dadurch langfristig bessere Ergebnisse zu erzielen, wodurch Kunden an das Unternehmen langfristig gebunden werden. Dies erfolgt durch die hohe Qualität der Entscheidung, die gewährleistet wird. Dafür muss in allererster Linie der Vertrieb selbst befähigt und an dieser Qualität bemessen werden.

6.7.8 Kundenbindung neu gedacht

Mit dem ENABLE-Ansatz wird die hochersehnte langfristige Bindung der Kunden an das Unternehmen möglich. Denn es geht im Vertrieb nie um einzelne Verkäufe, sondern um den Aufbau von starken und vertrauensvollen Beziehungen mit Kunden, die ihnen ein Leben lang treu bleiben werden. Das werden sie nur dann, wenn sie bei und mit Ihnen die richtige Entscheidung getroffen haben, die sie nie bereuen werden. Sie bleiben Ihnen für immer treu und werden sogar als Markenbotschafter dienen, indem sie positives Feedback online oder durch Mundpropaganda weitergeben. Das ist wahre Kundenbindung, die durch die traditionellen Kundenbindungsprogramme und Loyalty-Bonus-Modelle nicht zu erreichen ist. Solche Ansätze haben zwar ihre Berechtigung, aber in einem anderen Kontext.
Eine langfristige Beziehung und Vertrauen lassen sich nicht so einfach mit einem Punkteprogramm aufbauen oder in einem einzigen Ereignis erreichen. Das ist ein langer Prozess, der auf mehreren Faktoren beruht, in dessen Kern die aufrichtige Bemühung steht, dem Kunden eine bestmögliche Entscheidung zu ermöglichen. Wenn Sie Ihren Kunden zeigen, dass Sie sich für sie interessieren oder dass Sie ihnen wirklich zuhören und sie verstehen, werden Sie mit hoher Sicherheit sinnvolle, dauerhafte Beziehungen aufbauen und neue Fans für Ihr Unternehmen gewinnen, die immer wieder bei Ihnen kaufen und Sie gerne Kollegen, Freunden und sogar Unbekannten weiterempfehlen.
Wie Kunden denken
Das ENABLE-Prinzip gestaltet sich anfangs zwar schwierig in der Umsetzung, zahlt sich aber auf lange Sicht um das Vielfache aus. Denn es verfolgt einen langfristigen Ansatz, anstatt mit kurzfristigen Verkaufsförderungsmaßnahmen schnelle Erfolge zu fördern. Wenn man im Sinne des Kunden und aus seiner Perspektive agiert, wird man in jedem Fall ein stabiles und dauerhaftes Geschäft aufbauen. Was könnte sonst das Ziel eines Unternehmens sein?
Der ENABLE-Prozess ermöglicht es dem Vertrieb, sich wahrlich in Kunden hineinzuversetzen und ihre Denkweisen und Bestrebungen zu verstehen. Damit wird nicht nur Umsatz gefördert, sondern es wird auch möglich, frühzeitig Veränderungen bei Kunden und im Markt zu erkennen, sich danach auszurichten und auch die eigenen Geschäftsmodelle und das Angebot daran anzupassen. Sehr oft habe ich erlebt, dass als Ergebnis eines Workshops, in dem man sich tiefgehend mit der Kundenperspektive beschäftigt hat, neue Geschäftsmodelle entstanden sind. Die Kundenperspektive ist die einzige Perspektive, die einen lang anhaltenden Unternehmenserfolg sichert. Das Einnehmen der Kundenperspektive erreicht man nicht mit einem einzigen Workshop, weil ein Umdenken auf mehreren Ebenen erforderlich ist. Wenn man den Mehrwert dieses Ansatzes erkennt und ihn verfolgen möchte, müssen die Prozesse entsprechend aufgebaut und das Bewusstsein dafür gefördert werden. Anfangs erzwungen und später systematisch, sollte man immer wieder in die Schuhe des Kunden schlüpfen, bis es irgendwann zur Selbstverständlichkeit wird.
Die Vertriebsorganisation und die Vertriebstätigkeiten ändern sich dadurch. Es passiert viel mehr im Hintergrund als an der Front. Wir ignorieren die Kunden, aber schaffen alle Voraussetzungen dafür, dass sie zu uns finden und sich bei uns wohlfühlen. Die Vertriebsteams verbringen mehr Zeit damit, ihre Kunden durch eine verstärkte Bedarfsanalyse zu verstehen, die Beteiligen im Entscheidungsprozess zu identifizieren und ihre Interessen zu ergründen. Der ENABLE-Ansatz erfordert einen enormen Vorbereitungsaufwand, um die Situation des jeweiligen Kunden wirklich zu verstehen und zu ergründen, was er wirklich erreichen möchte. Die Gesprächsstruktur mit Kunden ist eine andere, die Angebote und die Präsentationen benötigen viel mehr Zeit, um genau auf die Anforderungen der Kunden zugeschnitten zu werden. Dafür ist man aber im direkten Kontakt viel wirksamer, worüber der Kunde mehr als erfreut ist. Denn er hat, wie wir wissen, keine Lust darauf, seine wertvolle Zeit Verkäufern zu schenken, damit sie ihn während der direkten Interaktion qualifizieren, um es nicht „ausfragen“ zu nennen.
Im Konsumentengeschäft geschieht jetzt schon viel mehr im Hintergrund als bei der direkten Interaktion mit dem Kunden, dasselbe wird per kurz oder lang im B2B-Vertrieb passieren. So, wie heute im B2C-Segment die Käufer-Verkäufer-Beziehung schon überwiegend vom Kunden gesteuert wird, passt sich der B2B-Bereich ebenfalls daran an, wodurch der Vertrieb zunehmend die Kontrolle über die Kundenbeziehung verliert.

Fazit: Ein Vertrieb der nicht verkauft – Utopie oder Zukunft?

Das Ziel im Vertrieb der Zukunft – und auch heute schon – liegt darin, nicht zu versuchen, die Kontrolle über die Kundenbeziehung zu erhalten, sondern eine herausragende Kundenbeziehung zu ermöglichen. Die Intention des Vertriebs soll darin liegen, nicht zu verkaufen, sondern Kunden in ihren Entscheidungen zu befähigen. Damit binden sich Kunden freiwillig an Unternehmen, ohne dass wir sie fangen und fesseln müssen, was heute ohnehin nicht funktioniert. Das Ergebnis daraus: Mehr Verkäufe. Ohne Zwang und Druck.
ENABLE-Vertrieb ist kein Wunschdenken, sondern die ersehnte Lösung für viele Probleme im Vertrieb. Es ist keine Utopie, sondern der Weg zum Vertriebserfolg unter digitalen Bedingungen.

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Zurück zum Zitat Rainsberger L (2021a) Digitale Transformation im Vertrieb. Springer Gabler, WiesbadenCrossRef Rainsberger L (2021a) Digitale Transformation im Vertrieb. Springer Gabler, WiesbadenCrossRef
Zurück zum Zitat Rainsberger L (2021b) KI – Die neue Intelligenz im Vertrieb. Springer Gabler, WiesbadenCrossRef Rainsberger L (2021b) KI – Die neue Intelligenz im Vertrieb. Springer Gabler, WiesbadenCrossRef
Metadaten
Titel
Der ENABLE-Vertriebsprozess
verfasst von
Livia Rainsberger
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-36358-1_6