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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

16. Steuerrecht und Versicherungswirtschaft − ein Risiko eigener Art

verfasst von : Jochen Axer

Erschienen in: Risiko im Wandel

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Versicherungswirtschaft und Staat versuchen mit unterschiedlichen Mitteln und Ressourcen, Lebensrisiken abzusichern. Fiskalische Belastungen von Versicherungsunternehmen, Vertrieb und Versicherungsnehmern führen zu einer Einengung der privatwirtschaftlich organisierten Risikovorsorge. Besonderheiten der Versicherungsbranche aufgrund ihres in die Zukunft gerichteten Geschäftsmodells bedürfen einer steuerlichen Begleitung, die sich der gesellschaftlichen Funktion und des Geschäftsmodells der Versicherer bewusst ist.
Die jeweilige Sachbehandlung berührt ein gesellschaftliches Grundverständnis − nämlich entweder den Menschen eine vorausschauende Eigenvorsorge abzuverlangen und diese dann aber auch zu ermöglichen (ohne dass der Staat zusätzliche unverträgliche Lasten aufbürdet) − oder aber den Staat als permanenten „Retter in der Not“ anzusehen (der dann aber zuständig für alles und jedweden ist). Die Versicherungswirtschaft wird sich immer darum bemühen müssen, ihr privatwirtschaftliches Modell als überlegen und „gerechter“, aber gleichzeitig als die staatliche Absicherung entlastend zu verdeutlichen; die Schnittstelle zur Steuerbelastung wird hierbei jederzeit eine wichtige Rolle spielen.

16.1 Gesellschaftliche Relevanz der Steuererhebung und der Versicherungswirtschaft

Lehrstühle und Fachbereiche für Steuerrecht und betriebliche Steuerlehre gibt es an etlichen Universitäten und Hochschulen in Deutschland. Die wissenschaftliche Befassung mit steuerlichen Themen gilt als in Deutschland besonders ausgeprägt. Es existiert eine umfangreiche literarische Diskussion, ein Wille zur Plausibilisierung und Überprüfung der Konsistenz und Folgerichtigkeit eines als gerecht und zwar möglichst einzelfallgerecht gedachten Steuersystems. Unbeschadet der zugewiesenen Regelungskompetenz und auch einer möglichen Kreativität des Gesetzgebers bei der Einführung und Erhebung von Steuern sind diesem deutliche Grenzen gesetzt durch verfassungsrechtliche Vorgaben. So gilt ganz selbstverständlich das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 mit der Aussage, dass Gleiches nicht ungleich, Ungleiches nicht gleich zu behandeln sei. Spielräume des Gesetzgebers zu vertikaler und horizontaler Steuergerechtigkeit sind damit definiert und begrenzt. Das Übermaßverbot steuerlichen Zugriffs im Kontext des Art. 14 GG, die Beachtung des Benachteiligungsverbots von Ehe und Familie des Art. 6 GG, das Gebot der Folgerichtigkeit im Sinne eines konsistenten Systems und nicht zuletzt Art. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 GG mit der zwingenden Vorgabe, jeden Eingriff in Freiheitsrechte des Steuerpflichtigen deutlich beschreiben und formulieren zu müssen, um eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zu ermöglichen und gleichzeitig die Intensität des Eingriffs für die Steuerpflichtigen verständlich und überprüfbar zu machen, sind Grundpfeiler steuerrechtlicher Anforderung und Diskussion. Sie sind auch, jenseits aller umfangreicher Erörterung im Einzelfall, dem Grunde nach unbestritten.
Angesichts der umfangreichen wissenschaftlichen Befassung ist es eher erstaunlich, dass für eine der wichtigsten Industrien in Deutschland die Behandlung der steuerlichen Regeln für Versicherungsunternehmen, deren Vertriebsorganisationen und die Versicherungsnehmer wenig ausgeprägt erscheint. Aufgabe innerhalb des Instituts für Versicherungswesen der TH Köln muss damit sein, im Rahmen der allgemeinen steuerlichen Systematik die Besonderheiten für die Versicherungswirtschaft herauszustellen und jenseits der positiven Kenntnis der Rechtsnormen eine kritische Grundhaltung zu vermitteln, ob die Vorgaben des Gesetzgebers hinreichend Obacht auf das Geschäftsmodell der Versicherer legen. Ziel dieses Kapitels ist, mit einigen Beispielen die Relevanz dieser Betrachtung zu belegen, geht es doch um einen angemessenen Interessenausgleich zwischen privaten Versicherungsunternehmen, der großen Gruppe schutzsuchender Versicherungsnehmer und dem fiskalisch interessierten Staat. Durch die spezifische Aufgabenerfüllung der Versicherer, Risiko zu übernehmen, und dies für eine enorme Anzahl von Versicherungsnehmern, schultert die Versicherungswirtschaft zu einem beachtlichen Teil Aufgaben, die ohne die private Absicherung unweigerlich in die Verantwortlichkeit des Staates fallen würden. Insoweit muss der Staat schon aus Eigeninteresse die diesbezügliche Privatautonomie hinreichend stärken und jedenfalls nicht über Gebühr belasten. Regelmäßig wird die individuelle Absicherung durch den Ausgleich von Prämie und Schadenausgleich in einer bewusst Schutz suchenden und insoweit interessengleichen Gruppe immer für den Staat vorteilhafter sein als die Sozialisierung der Kosten verwirklichter Risiken durch von allen Bürgern vereinnahmte Steuern – und am Ende ist die politisch gefällte Entscheidung damit auch eine Frage tatsächlicher und empfundener Gerechtigkeit. Symptomatisch ist die politische Dilemma-Situation aufgrund der Überschwemmungssituation 2021: Ist es richtig, dass der Staat einen großen Teil (generell 80 Prozent) der Schäden der nicht versicherten Bürger übernimmt? Oder umgekehrt: Ist es gerechtfertigt, dass bei Pandemie-bedingten Betriebsschließungen sich die Erstattung der Versicherer um staatliche Stützungsleistungen reduziert?
Steuererhebung und die ihr zugrunde liegenden gesetzlichen Normen bilden die wesentliche Grundlage der Finanzierung des Staatshaushalts. Das Steuerrecht zeichnet sich zudem dadurch aus, dass es besonders rasch Änderungen unterworfen ist. Die Politik und damit der Gesetzgeber müssen zum einen sicherstellen, dass der Staat seinen übertragenen Aufgaben etwa zur Daseinsvorsorge und Sicherheit hinreichend nachkommen kann, zum zweiten ein Steuersystem verwirklichen, dass in sich folgerichtig ist, schließlich eine Besteuerung durchsetzen, die nicht nur auf dem Papier steht, sondern auch durch einen erfolgreichen Vollzug umgesetzt wird. Gleichzeitig muss der Eingriff des Steuerrechts in das Freiheitsrecht der Steuerpflichtigen dadurch, dass ihnen finanzielle Mittel entzogen werden, auf einer den Eingriff hinreichend klar beschreibenden Grundlage umgesetzt werden, hierbei systematisch einerseits eine Gleichbehandlung aller gleich leistungsfähigen Steuerpflichtigen sicherstellen und – jedenfalls nach dem Verständnis des Steuerrechts der Bundesrepublik Deutschland – für einen sozialen Umverteilungsprozess sorgen, in dem die relative Steuerlast einkommensstarker Personengruppen höher festgelegt wird als diejenige einkommensschwächerer Personen.

16.2 Steuerzugriff und dessen Berechtigung − Beispiele

Versicherungsunternehmen haben in ganz unterschiedlicher Weise mit steuerlichen Themen Berührung, was nachfolgend an einigen Beispielen verdeutlicht werden soll.

16.2.1 Unternehmensteuern

Ein Schwerpunkt ist selbstverständlich die Unternehmensbesteuerung. Ähnlich wie andere Industrien wird der Steuerzugriff auf der Ebene der Versicherungsunternehmen durch die Körperschaft- und Gewerbesteuer verwirklicht. Insbesondere gibt es nicht etwa ein gesondert formuliertes „eigenes“ Steuerrecht für Versicherungsunternehmen. Diese Feststellung beinhaltet auch die Aussage, dass dem Gesetzgeber die Besonderheiten der Geschäftsmodelle von Versicherungsunternehmen nicht immer bewusst sind. Die fehlende Zusammenfassung der für Versicherungsunternehmen maßgeblichen Normen mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass ein solches Herauslösen einer bestimmten Branche Begehrlichkeiten oder gar Notwendigkeiten für andere Wirtschaftssegmente auslösen würde. Auch ist die konsequente Einbindung in das Normendickicht des Steuerrechts mit rund 100 Gesetzen, ca. 1000 Durchführungsverordnungen und ca. 10.000 Erlassen, Richtlinien und Verfügungen der Verwaltung wenig geeignet, hier etwas gesondert „draufzusatteln“. Nichtsdestotrotz ist damit das Risiko fortlaufend gegeben, die Besonderheiten der Geschäftsmodelle in der Versicherungswirtschaft nicht steuerlich zutreffend zu spiegeln.

16.2.1.1 Versicherungsbilanz

Die Themen betreffen sowohl die Aktiv- wie die Passivseite der eigentümlichen Versicherungsbilanz.
Aktivseite
Es entspricht heute allgemeiner Auffassung, dass die Einbeziehung der Personenversicherer in die allgemeine Regelung des § 8b KStG im Rahmen der Unternehmenssteuerreform 2001 ein grober Fehler war. Erst mit Beginn des Jahres 2004 wurde dieser durch Einführung des Abs. 8 und damit Nichtanwendung der Norm im Übrigen zumindest als Regeltatbestand für Personenversicherer korrigiert; um Schlimmeres zu verhindern, wurde rückwirkend eine Privilegierung durch ein „Blockwahlrecht“ für altes und neues Recht in den Jahren 2001 bis 2003 erlaubt, allerdings auszuüben bis 30. Juni 2004. Spätere Entscheidungen des BFH und EuGH1 zugunsten der Steuerpflichtigen haben die Ausübung dieses Blockwahlrechts in seiner ökonomischen Sinnhaftigkeit teilweise auf den Kopf gestellt; Verfahren hierzu und damit zu den Folgen der Fehlerhaftigkeit der gesetzlichen Anordnung sind bis heute anhängig und nicht ausgestanden.2 Das Zusammenspiel von handelsrechtlichem Ergebnis, aufsichtsrechtlich abgesicherter Beteiligung der Versicherungsnehmer am erzielten Ertrag und schließlich erst daran anknüpfender Beteiligung des Fiskus ist herausfordernd, aber auch kein Hexenwerk. Erst Ende 2018 hat der Gesetzgeber mit der Novellierung des § 21 KStG eingegriffen und einige Schwächen beseitigt; die Verknüpfung mit § 8b Abs. 8 KStG wird in Zukunft einige – aber nicht alle – Streitigkeiten entschärfen.
Passivseite
Im Bereich der Schaden/Unfallversicherungen kommt der Frage der Abzinsung und damit generell dem Thema der gesetzlich fixierten Zinsen erhöhte Bedeutung zu.
Schadenreserven
Die Begehrlichkeit der Politik und des Gesetzgebers an einer Beteiligung an den Erträgen aus den Vermögensmassen der Versicherungsunternehmen ist kein neues Phänomen. Der Eingriff 1998 durch die Verpflichtung, langfristige Verbindlichkeiten und Rückstellungen mit 5,5 Prozent abzuzinsen,3 war allerdings ein einzigartiger und bemerkenswert unmittelbarer und zielgerichteter Eingriff in die Substanz der Versicherungsunternehmen und damit mittelbar auch der Versicherungsnehmer. Er diente in dem ausgelösten – und gewollten – Einmaleffekt zu einem beachtlichen Teil der damaligen Sanierung des Staatshaushaltes mit einem deutlich zweistelligen Milliardenbetrag.
Die Regelung ist bis heute unverändert mit der Folge, dass in Abweichung von der handelsrechtlichen Bilanzierung in den Steuerbilanzen die Schadenrückstellungen mit dem genannten Prozentsatz abzuzinsen sind. Der Gesetzgeber hat sich ebenso wenig wie bei anderen in Steuergesetzen festgeschriebenen Zinssätzen dazu verstanden, Änderungen vorzunehmen und damit eine Anpassung an die von ihm selbst politisch ausgelöste Niedrigzinspolitik vorzunehmen. Der ökonomische Effekt ist eindeutig: Auszugehen ist von dem seriös gesetzten Rückstellungsbetrag wie er durch einen vorsichtigen Kaufmann zu setzen ist. Überdotierungen, die handelsrechtlich unter dem Primat des Vorsichtsprinzips erlaubt sind, sind im Rahmen des § 20 KStG nach den Erfahrungen der Vergangenheit in den einzelnen Sparten zu reduzieren.
Die entsprechenden Ansätze werden durch die Betriebsprüfung einer lückenlosen Kontrolle unterzogen. Bleibt es gleichzeitig dabei, die Schadenrückstellungen mit 5,5 Prozent abzuzinsen mit dem ökonomischen Argument, die nominelle Rückstellung diene ja erst im Laufe der Jahre dazu, Zahlungspflichten und Schadenausgleich der Versicherungsnehmer zu erledigen, so kann die Abzinsung nur aufgrund dieser zeitlichen Komponente ihre Berechtigung finden. Wird die Abzinsung durch den Gesetzgeber in Zeiten einer Niedrigzinspolitik durchgesetzt, die allenfalls den Zinssockel Null oder noch einen darunterliegenden Wert erreicht, so resultiert aus der Abzinsung die Besteuerung von Substanz. Denn obwohl die Ausgangsgröße als für die Risikovorsorge des Unternehmens und der Versicherungsnehmer notwendige Einschätzung zu gelten hat, wird sie mit 5,5 Prozent abgezinst in dem Wissen, dass die Bedeckungswerte einen solchen Zins nicht erzielen können. Die einzige Möglichkeit für das Versicherungsunternehmen, eine solche Steuer zu vermeiden, läge darin – isoliert betrachtet – einen handelsrechtlichen Jahresfehlbetrag auszuweisen, um auch nach der Zinskorrektur kein positives, zu versteuerndes Einkommen auszuweisen. Dies kann nicht das Ziel eines Unternehmens sein, ganz unabhängig davon, dass eine solche Option weder vom Markt noch der Aufsichtsbehörde akzeptiert würde.
Erstaunlicherweise ist zur Frage der oben beschriebenen Abzinsung der Schadenreserven nach derzeitigem Kenntnisstand kein gerichtliches Verfahren anhängig. Die Thematik schließt gleichwohl unmittelbar an andere Verfahren an, die den steuergesetzlich fixierten Zins zum Thema gemacht haben. Jüngst entschieden hat das Bundesverfassungsgericht insofern,4 dass die sechsprozentige Verzinsung von Steuernachforderungen – in gleicher Weise Steuererstattungen – verfassungswidrig ist. In erwartbarer Weise führt das Gericht hierzu aus, dass eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung bestehe zwischen denjenigen, deren Steuer innerhalb der 15-monatigen Karenzzeit endgültig festgesetzt worden seien und bei denen daher keine Verzinsung stattfinde gegenüber denjenigen, deren Steuer nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt werde, und die damit in eine Verzinsung (hier sechs Prozent) hineinlaufen.
Mindestens seit Mitte 2015 bestanden deutliche Bedenken, ob diese Verzinsungsregelung zu den Steuerzahlungen und -erstattungen Bestand haben könnte. Selbst der wissenschaftliche Dienst beim Deutschen Bundestag hatte von einer „strukturellen Verfestigung“ der Niedrigzinsphase bereits Mitte 2015 gesprochen. Gleichwohl hat sich der Gesetzgeber nicht zu einer Korrektur herabgelassen. Obwohl nunmehr das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit bereits ab dem Jahr 2014 und den in diesem Jahr beginnenden Verzinsungszeiträumen festgestellt hat, kann sich der Gesetzgeber unter haushaltspolitischen und fiskalischen Gesichtspunkten im Hinblick auf seine abwartende Haltung gleichwohl als Gewinner fühlen. Denn das Gericht hat für den Zeitraum bis einschließlich 2018 die bisherigen Regelungen für weiterhin anwendbar erklärt und den Gesetzgeber nur aufgefordert, für die in das Jahr 2019 und später fallenden Verzinsungszeiträume bis Mitte 2022 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen. Die Fortgeltungsanordnung bis Ende 2018 mag man aus staatstragenden Gesichtspunkten oder auch nur aufgrund angeblicher bürokratischer Hemmnisse rechtfertigen wollen. Wenn das Gericht selbst bereits für das Jahr 2014 aber davon spricht, dass sich der jährliche sechsprozentige Zinssatz als „evident realitätsfern“ darstellte, so macht die Zurückhaltung des Gerichts schon fast betroffen. Denn der rechnerische Ausgleich wäre anhand allseits eingesetzter EDV-Technik schlicht kein Problem.
Pensionsrückstellungen
Eine weitere Verfassungsbeschwerde mit dem Schwerpunkt gesetzlich fixierten Zinses ist in Karlsruhe zu dem in § 6a EStG niedergelegten sechsprozentigen Zinssatz für die Berechnung der Pensionsrückstellungen anhängig.5 Aufgrund der Dimension dieses Zinssatzes für die Jahresabschlüsse der deutschen Unternehmen wird diese Entscheidung des Gerichts noch mehr Sprengstoff enthalten als die nun zur Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen ergangenen Beschlüsse.
Bei den Pensionsrückstellungen steckt hierin aber nicht ein Spezifikum für die Versicherungsunternehmen, die insofern der identischen Regelung der gesamten Industrie unterliegen. Abweichendes gilt demgegenüber, wie ausgeführt, für die Schadenrückstellungen, da keine andere Branche mit Rückstellungen in der Dimension der Versicherungswirtschaft arbeitet. Auch hier beruht dies schlicht und ergreifend auf dem Geschäftsmodell, das zunächst eine Risikoabsicherung gegen Beitrag zusagt, ohne dass die Parteien wissen, ob sich jemals das Risiko verwirklicht. Tritt es aber ein, so kann dies notwendigerweise nur mit zeitlicher Verzögerung stattfinden und erst dann der Schaden bemessen und ausgeglichen werden, hierbei in den Abläufen mit deutlich unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen je nach Versicherungszweig.
Die ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts legt jedenfalls nahe, dass es − angesichts der sehr langfristigen und nach heutigem Stand auch keiner Änderung unterfallenden Niedrigzinspolitik − Zinsanordnungen nicht mehr geben darf, die sich vom Markt komplett abkoppeln. Dass anderweitige Regelungen als ein gesetzlich strikt fixierter Zinssatz möglich wären, zeigt bei Pensionsrückstellungen unmittelbar das Handelsrecht, wenn dort die Anpassung der Abzinsung unter Heranziehung der Zinsverläufe der letzten sieben bzw. zehn Jahre jährlich berechnet wird. Vieles spricht für eine derartig gestaltete Übergangsphase, um die Effekte in den Bilanzen der Unternehmen nicht explodieren zu lassen. Dadurch, dass der steuerliche Gesetzgeber keine Reaktion zeigt, verschärft er das „fiskalische Risiko“, dass das Bundesverfassungsgericht auch für Jahre, die in der Vergangenheit liegen, eine geringere Abzinsung verlangt mit der Folge, dass bereits gezahlte Steuern in größerem Umfang zurückzugewähren sind. Möglicherweise hat das Bundesverfassungsgericht im abgeschlossenen Zinsverfahren die Fortgeltungsklausel aus diesem Grund vorausschauend angewandt, um auch in Folgeentscheidungen zu Zinsfragen entsprechend agieren zu können und die Handhabbarkeit einer korrigierenden Entscheidung zu erleichtern. Ob eine solche Vorgehensweise noch in Einklang steht mit der nur rechtlichen Dimension der Überprüfung eines Gesetzes, wie es Inhalt und Aufgabe in der Funktion des Bundesverfassungsgerichtes ist, darf mindestens diskutiert werden.

16.2.1.2 Altersvorsorge

In einem zweiten ertragsteuerlichen Bereich spielen gesetzgeberische Entscheidungen mit steuerlicher Komponente eine entscheidende Rolle, nämlich bei der Behandlung von Lebensversicherungsprodukten sowie den Regelungen zur Altersvorsorge insbesondere im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge.
Lebensversicherungsverträge
Die ehedem als nicht hinnehmbare Privilegierung von Lebensversicherungsverträgen verstandene Nicht-Besteuerung von Erträgen aus LV-Verträgen bei Erfüllung bestimmter Kriterien (Beitragszahlungsdauer, Dauer des Vertrages u. a.) wurde 2005 deutlich eingeschränkt. Jedenfalls ging der Versicherungswirtschaft an dieser Stelle das Argument der Steuergünstigkeit zu einem erheblichen Teil verloren. Gesellschaftspolitisch mag man das für richtig oder falsch halten, für die Stärkung der Bemühungen, die Bürger dazu zu veranlassen, selbst etwas für ihre Vorsorge zu tun und dies staatlicherseits unterstützen, war es nicht hilfreich. Richtig ist zwar, dass die steuerliche Privilegierung von einigen genutzt wurde, sich im Alter eher eine Segelyacht oder den Sportwagen anzuschaffen. Es ist aber nicht belegt, ob in einer gesellschaftlichen und haushaltspolitischen Gesamtrechnung, die einerseits die steuerlichen Vorteile der Versicherungsnehmer (also die Nachteile des Fiskus) bewertet, andererseits aus staatlicher Sicht die Effekte der Eigenvorsorge durch eben diesen Anreiz gegen die dadurch vermiedenen Sozialkosten rechnet, die Abschaffung der Steuervorteile sinnvoll ist.
Auch wenn dies im Rahmen angeblich notwendiger Gleichbehandlung mit anderen Finanzmarktprodukten eine ungleiche Sachbehandlung ergibt, würde der Anreiz zur Eigenvorsorge gestärkt bleiben. Steuervermeidung auf legale Weise ist in jedem Land beliebt, auch und gerade aber in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn dieser Anreiz jedenfalls weit überwiegend mit dem Effekt gelungener Eigenvorsorge einhergeht, kann dies nicht nachteilig sein. Angesichts der Schwächen der gesetzlichen Rentenversicherung, kombiniert mit dem Problem der auf dem Kopf stehenden Alterspyramide, wird sich die Politik aktuell unverzüglich daran machen müssen, zusätzliche Absicherungsmechanismen zu schaffen. Gründe, dies in einem weiteren staatlichen System anzustreben, sind jedenfalls aus der Erfahrung heraus mit Vorsicht zu genießen. Vielmehr bieten sich die Versicherer mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung und gleichzeitig hohen Regulierungsdichte geradezu dazu an, entsprechende Sparprozesse zu begleiten. Die unter strikter Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen stehenden Unternehmen mit ihrer durch Solvency II erzwungenen konservativen Anlagepolitik wären hier ohne weiteres in der Lage, einen gesamtgesellschaftlich wichtigen neuen Beitrag zu leisten; dies gilt gerade dann, wenn entsprechende Systeme von vornherein rechtlich verpflichtend eingeführt werden und Vertriebskosten strikt gedeckelt werden.
Politik und Schnittstelle Aufsichtsrecht
Das Risiko, dass Politik unter dem Deckmantel von Aufsichts- und Steuerrecht andere Ziele verfolgt als öffentlich verkündet wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Sowohl die Niedrigzinspolitik als auch die gleichmäßige Privilegierung aller Rentenpapiere der EU-Staaten unter Solvency II lässt sich zwar im Gesamtkontext der Europäischen Union begründen; die damit ausgelösten Nachteile für die deutschen Versicherungsunternehmen und deren Versicherungsnehmer als einer mehr oder weniger zufälligen Gruppe, die die Last zu tragen hat, ist demgegenüber kaum zu argumentieren. Das Dilemma in der Kombination gesetzlich veranlasster Zwänge ist jedenfalls unübersehbar: Einerseits wird durch die Anforderung hoher Eigenkapitalien zur Hinterlegung risikoreicher Kapitalanlagen deren Einsatz sowohl begrenzt wie verteuert, im Übrigen die Unternehmen in nur durch den EU-Staatenbund hinreichend abgesicherte und wenig ertragreiche Rentenpapiere gezwungen. Es muss erlaubt sein zu sagen, dass damit den Versicherungsnehmern als einer heterogenen und jedenfalls nicht jeden EU-Bürger umfassenden Gruppe mittelbar eine Last der EU-Politik aufgebürdet wird, ohne dass sich hierfür in Art. 3 GG hinreichende Gründe finden lassen.
Doppelbesteuerung der gesetzlichen Rente
Die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs zur Doppelbesteuerung bei der gesetzlichen Rente enthalten ebenfalls Leitsätze, deren Relevanz deutlich über den Einzelfall hinausgehen. Der Ausgangspunkt des heutigen Rechtsthemas sei in Erinnerung gerufen: Bis zum Ende des Jahres 2004 wurden Pensionen von Beamten und Renten steuerlich unterschiedlich behandelt. Während Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung nur in Höhe des sogenannten Ertragsanteils versteuert wurden, unterlagen Pensionen vollständig dem Steuerzugriff. Allerdings hatten die Arbeitnehmer weit überwiegend ihre Vorsorgeaufwendungen zur Erlangung des Anspruchs auf eine gesetzliche Rente auch aus bereits versteuertem Einkommen geleistet.
Mit seinem Urteil vom 6. März 2002 verpflichtete das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber, ein einheitliches Modell zu entwickeln und Pensionen und Renten zukünftig steuerlich gleich zu behandeln.6 Die Anordnung des Gerichts wurde mit dem Alterseinkünftegesetz umgesetzt.7 Gesetzesmodell ist, den Steuerpflichtigen einen weitgehenden Abzug von Vorsorgeaufwendungen während ihrer aktiven Tätigkeit zu ermöglichen, gleichzeitig aber die Rente in der Auszahlungsphase vollständig zu besteuern. Es wird ein System der kommunizierenden Röhren verankert mit der Aussage, dass eine Doppelbesteuerung der Rente ausgeschlossen sein müsse: Wenn also eine Rente zu 100 Prozent steuerpflichtig wird, dann muss auch die Vorsorgeaufwendung vollständig abziehbar sein. Das damit entwickelte Postulat erzwang eine langfristige Übergangsregelung. Schrittweise wird für alle Rentenjahrgänge der Anteil der Besteuerung sukzessive erhöht, gleichzeitig das Volumen der als Vorsorgeaufwand steuerlich berücksichtigungsfähigen Beträge ebenfalls pro Jahr erhöht. Im Jahr 2040 geht das Modell davon aus, dass eine 100-prozentige Steuerpflicht der dann in die Rente hineinwachsenden Personen mit ihren Renten gerechtfertigt ist in der Annahme, dass dieser Personenkreis zuvor seine Vorsorgebeiträge komplett steuerlich hat geltend machen können
Genau zu diesen Fragen sind nunmehr zwei Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ergangen, die in der Sache zwar zugunsten der Finanzverwaltung entschieden wurden, die entstehende Problematik aber klar ansprechen. Nicht nur haben sich die Kläger in den konkreten Verfahren zu einem Gang zum Bundesverfassungsgericht entschlossen, sondern das Gericht selbst hat anhand des von ihm überprüften Systems die Auffassung vertreten, dass jedenfalls ab 2040 Doppelbesteuerungen möglich seien, die dann als verfassungswidrig einzustufen seien. Die Entscheidung dürfte so zu verstehen sein, dass dem Gesetzgeber insofern wenig Pauschalierungsspielraum eingeräumt wird, sofern das System der kommunizierenden Röhren zwanghaft zu einer teilweisen Doppelbesteuerung führt. Geht es nach dem Bundesfinanzhof, so hat auch hier der Gesetzgeber nachzuarbeiten. Dies ist zwar in Reaktion auf die Entscheidung durch das Bundesfinanzministerium auch angekündigt, allerdings ist nicht zu verkennen, dass hier ein erhebliches Problem steckt: Denn man kann die Beschlüsse des Bundesfinanzhofs durchaus dahingehend interpretieren, dass es auf die tatsächliche individuelle Belastung des einzelnen Steuerpflichtigen ankommt. Wäre dies die ernst gemeinte Aussage, so dürfte es eine Mehrzahl von Fällen geben, in denen die gesetzliche Anordnung zu einer Doppelbesteuerung führt. Man denke zum Beispiel an denjenigen Personenkreis, der im Ausland gearbeitet hat, gleichwohl in Deutschland Rentenbeiträge zahlte, die nach deutschem Recht nicht absetzbar waren. Bemerkenswert ist auch hier – und damit stellt sich die Verbindungslinie her – dass der Gesetzgeber die bereits seit längerem existente Diskussion nicht hinreichend ernst genommen hat.
Bereits in seinem Beschluss vom 14. Juni 2016 hatte das Bundesverfassungsgericht die mögliche Doppelbesteuerung in den Jahren 2039 bis 2043 angesprochen, dabei aber auch erklärt, dass verfassungsrechtlich eine Prüfung erst für Veranlagungszeiträume der Rentenbesteuerung möglich sei. Genau mit diesem Hinweis hat sich der Gesetzgeber begnügt und keine eigene Aktivität entwickelt.

16.2.2 Verkehrsteuern

Verkehrsteuerlich sind mindestens ebenso viele „Baustellen“ für die Versicherungswirtschaft zu konstatieren.

16.2.2.1 Umsatzsteuer

Verblüffend mag dies für die Umsatzsteuer sein, weil die Versicherungsunternehmen und deren Vertrieb aus dem allgemeinen System herausgelöst sind. § 4 Nr. 10 und 11 UStG führen aber gerade deshalb zu einer Vielzahl von Streitigkeiten. Jedenfalls löst die mit der Umsatzsteuerfreiheit verbundene Versagung eines Vorsteuerabzugs eine steuerliche Mehrbelastung aus, wenn die die Umsatzsteuer „ersetzende“ Versicherungsteuer in gleicher Höhe mit 19 Prozent erhoben wird wie die Umsatzsteuer; die versagte Vorsteuerentlastung bleibt definitiv. Alle Diskussionen insbesondere auf EU-Ebene zur Reintegration des Banken- und Versicherungssektors in das allgemeine Umsatzsteuersystem sind bislang gescheitert. Der Charakter der Versicherungsteuer als eine der wenigen Steuerarten, die allein dem Bund zustehen, mag eine Rolle spielen.

16.2.2.2 Versicherungsteuer

Stichwort Versicherungsteuer: Mehrfache Änderungen des Versicherungsteuergesetzes in den letzten Jahren, die zu großen Teilen die höchstrichterliche Rechtsprechung wieder zugunsten des Fiskus korrigiert haben, haben auch diese Steuerart extrem verkompliziert. Die miteinander im Gesetzestext verwobenen EU-rechtlich geprägten Binnenmarktregeln und die globalen Anordnungen führen zu Auslegungsfragen, die kaum zu beantworten sind. Wenn innerhalb von vier Monaten nach Inkrafttreten des Versicherungsteuermodernisierungsgesetzes8 vom 03. Dezember 2020 zwei umfangreiche Erlasse des Bundesfinanzministeriums ergehen müssen und der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft einen Frage- und Antwort-Katalog sieben Monate später im Umfang von 51 Seiten herausgeben muss, um die Mitgliedsunternehmen zu unterrichten, so spricht dies nicht für gelungene Arbeit des Gesetzgebers.

16.2.2.3 Umsatzsteuerliche Organschaft

Spannend könnten Entwicklungen im Bereich der umsatzsteuerlichen Organschaft werden. Versicherungsgruppen mit mehreren VVaG an der Spitze erhoffen Änderungen in den Voraussetzungen, wie sie bereits mehrfach auf EU-Ebene diskutiert wurden. Die ebenfalls aktuelle Diskussion um die Erfüllbarkeit des Kriteriums der organisatorischen Eingliederung im Verhältnis zwischen Banken und Versicherungsunternehmen unter dem Primat kategorischer aufsichtsrechtlicher Behandlung und Versagung einer möglichen Personenidentität in den Vorständen beider Einheiten steuert ebenfalls auf eine gerichtliche Entscheidung zu.

16.3 Fazit

Eine Befassung mit steuerlichen Normen aus Sicht der Versicherungswirtschaft tut not. Die Absicherung der Versicherungsnehmer lässt sich nicht nur durch professionelle Reservierung und kluge Anlagepolitik der Versicherer selbst bewerkstelligen: Auch der fiskalische Zugriff sollte auf die Besonderheiten der Branche jederzeit Obacht nehmen und privat organisierte Reduzierung von finanziellen Risiken nicht nur ermöglichen, sondern stärken. Um dies durch den Gesetzgeber und die Exekutive in ihrer konkreten Umsetzung zu gewährleisten, bleibt es ein Anliegen, Bedürfnisse und Besonderheiten der Versicherungswirtschaft auch gegenüber dem Steuergesetzgeber zu verdeutlichen.
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Fußnoten
1
EuGH vom 22. Januar 2009 – C-377/07 (BStBl II 2011 S. 95); BFH vom 22. April 2009 – I R 57/06 (BStBl II 2011 S. 66); BFH vom 28. Oktober 2009 – I R 27/08 (BStBl II 2011 S. 229); BFH vom 25. Juni 2014 – I R 33/09 (BStBl II 2016 S. 699); BFH vom 30. Juli 2014 – I R 74/12, (BStBl. 2016, S. 701).
 
2
Dass Verfahrensdauern von mehr als 20 Jahren unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten kaum vertretbar sind, sei an dieser Stelle nicht zusätzlich thematisiert.
 
3
§ 6 Abs. 1 Nr. 3 und 3a EstG.
 
4
Beschlüsse vom 08.07.2021, 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17.
 
5
Vorlagebeschluss FG Köln vom 12.10.2017, Az.: 10 K 977/17.
 
6
BVerfG, Az.: BvL 17/99.
 
7
BGBl. I 2004, 1427.
 
8
BGBl. I, S. 2659.
 
Metadaten
Titel
Steuerrecht und Versicherungswirtschaft − ein Risiko eigener Art
verfasst von
Jochen Axer
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37071-8_16