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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

7. Technologie zur Herrschaftslegitimation

verfasst von : Stefan Lüder

Erschienen in: Staatsbildung und Legitimation im Himalaya

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Mit der perspektivischen Erweiterung der historischen Wissenschaften im Laufe der 1980er Jahre wurden auch verschiedene Aspekte materieller Kultur wie Technologien in der Imperialismus- und Kolonialismus-Forschung auf ihre ideologischen Implikationen hin untersucht und zum Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Dabei befasst man sich mit der Frage, wie Technologien als Maßeinheit zur Bestimmung des Zivilisierungsgrades von Gesellschaften herangezogen, zur Herrschaftslegitimation instrumentalisiert worden und Ansprüche auf Macht, Autorität und zivilisatorische Überlegenheit implizierten wurden. Aber während es zahlreiche Publikationen gibt, die sich mit den Zusammenhängen von Herrschaftslegitimation und Technologie in der südasiatischen Geschichte auseinandergesetzt haben, bleibt die Region des zentralen Himalayas in der Empirie dieser Forschungen bis heute gänzlich außen vor. Deshalb wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, inwieweit Technologien im Verlauf des überlangen 19. Jahrhunderts als Ausdruck der materiellen Dimension von Selbstzivilisierung der Gesellschaft des Gorkhā-Staates und daher als Manifestation sich gegenseitig ergänzender Elemente von Legitimationsdiskurse und -praktiken verstanden werden können.
Mit der perspektivischen Erweiterung der historischen Wissenschaften im Laufe der 1980er Jahre wurden auch verschiedene Aspekte materieller Kultur wie Technologien in der Imperialismus- und Kolonialismus-Forschung auf ihre ideologischen Implikationen hin untersucht und zum Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Als besonders einflussreich gelten die Forschungen von Michael Adas (1989; 2006), der sich im Kontext der europäischen und nordamerikanischen Zivilisierungsmissionen mit der Frage befasste, wie Technologien als Maßeinheit zur Bestimmung des Zivilisierungsgrades von Gesellschaften herangezogen, zur Herrschaftslegitimation instrumentalisiert worden und Ansprüche auf Macht, Autorität und zivilisatorische Überlegenheit implizierten. Aber während es zahlreiche Publikationen gibt, die sich mit den Zusammenhängen von Herrschaftslegitimation und Technologie in der südasiatischen Geschichte auseinandergesetzt haben, bleibt die Region des zentralen Himalayas in der Empirie dieser Forschungen bis heute gänzlich außen vor.1
Bereits seit dem Beginn der europäischen Expansion im 15. Jahrhundert zeigten Entdeckungsreisende und Missionare großes Interesse an den Schiffen, Werkzeugen, Waffen und Ingenieursmethoden der Gesellschaften, denen sie auf ihren Reisen begegneten. Sie verglichen diese mit ihren eigenen und begannen mit der Zeit Technologien als Maßeinheit zu begreifen, aus der sich der allgemeine zivilisatorische Entwicklungsstand von Gesellschaften ableiten ließ. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts spielten Technologien in Europa bereits eine sehr wichtige Rolle beim Zivilisationsvergleich und mit der zunehmenden Industrialisierung wurden sie schließlich zur dominierenden Maßeinheit, die das Denken der Europäer über den Wert und das Potenzial von Menschen und Gesellschaften prägte. Michael Adas machte bereits 1989 auf die mit dieser Entwicklung einhergehende legitimatorische Dimension technologischer Errungenschaften im Zusammenhang europäischer Zivilisierungsmissionen aufmerksam: „They also provided key components of the civilizing-mission ideology that both justified Europe’s global hegemony and vitally influenced the ways in which European power was exercised.“ (Adas 2014 [1989]: 4).
In der historischen Forschung zur zentralen Himalaya Region selbst gibt es erst seit den 1990er Jahren Versuche, die Geschichte von Technologien aufzuarbeiten. Und wieder ist die Ursache dafür in der lange Zeit stark eingeschränkten Perspektive der historischen Forschung zum Gorkhā-Staat und Nepal zu finden. Viele bedeutende technologische Erfindungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich die Rāṇās aneigneten und im eigenen Land einsetzten, wurden deshalb erst nach der perspektivischen Erweiterung in der Historiografie und historischen Forschung auch erst in den 1990er Jahren erstmals in den Blick genommen. Und die wenigen Publikationen, in denen diese Thematik aufgriffen wurde, beschäftigten sich damit tendenziell nur im Kontext anderer Fragestellungen, beispielsweise bei der Erforschung der dynastischen Geschichte der Rāṇās, ihrer Beziehungen zur Elite Großbritanniens, den Anfängen des Tourismus oder der Fotografie.2
Allerdings geht bereits aus den Briefen des Kapuzinermönchs Johannes Grueber hervor, dass Technologie als Maßeinheit zum Zivilisationsvergleich schon bei einem der ersten Zusammentreffen von Europäern und den Herrschenden im Kathmandu-Tal des im 17. Jahrhunderts eine implizit legitimierende Bedeutung zuerkannt wurde und dazu beitrug, die Anwesenheit der europäischen Missionare gegenüber dem damalige König Pratāpa Malla zu legitimieren:
Übrigens brachte der König von Necpal den Patres gegenüber ein auffallendes Wohlwollen zum Ausdruck. Das geschah besonders wegen des mitgebrachten optischen Fernrohrs, von dem ihm noch nichts bekannt war, und auch wegen anderen merkwürdigen mathematischen Geräts, das sie dem König zeigten. Davon war der König so sehr beeindruckt, daß er beschloss, die Patres bei sich zu behalten, […]
(Johannes Grueber 1662, zitiert in Übersetzung in Braumann 1985: 168)
Bis aber Technologien auch zur Maßeinheit für die Bestimmung des Grades der Zivilisiertheit der Gesellschaft des Gorkhā-Staates wurde und die herrschenden Eliten sich diese gezielt zur Herrschaftslegitimation aneigneten, dauerte es noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Deshalb wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, inwieweit Technologien im Verlauf des überlangen 19. Jahrhunderts als Ausdruck der materiellen Dimension von Selbstzivilisierung und daher als Manifestation sich gegenseitig ergänzender Elemente von Legitimationsdiskurse und -praktiken verstanden werden können.

7.1 Fotografie und die Selbstinszenierung von Zivilisiertheit

Auch wenn sie nicht die Ersten und auch nicht die Einzigen waren, die zur Erfindung der Fotografie beitrugen, so gilt das von Louis Jacques Mandé Daguerre und Joseph Nicéphore Niépce in den 1830er Jahren entwickelte Verfahren, mittels Belichtung ein Bild auf die Oberfläche einer versilberten Kupferplatte zu bannen, heute als Ursprung der Technologie. Und weil Niépce noch vor der öffentlichen Präsentation ihrer Ergebnisse 1839 verstarb, nannte Daguerre das neue Verfahren „Daguerreotypie“. Nachdem der französische Staat ihm für eine Leibrente die Anleitung zur Herstellung der Daguerreotypien abgekauft hatte, verbreitete sich die neue Technologie in rasender Geschwindigkeit über die ganze Welt. Allerdings blieb die anfängliche Fotografie etwas Kostbares, denn die Bilder auf den versilberten Kupferplatten waren Unikate, die durch die Oxidation des Silbers auch zerstört werden konnten und sich nicht reproduzieren ließen. Doch bereits 1841 entwickelte William Fox Talbot ein verbessertes Verfahren, das ein Negativ nutzte, also einen durchscheinenden Bildträger, von dem sich beliebig viele Abzüge herstellen ließen. Mit der Erfindung des Kollodium-Verfahrens mit Glasnegativen wurde die Fotografie schließlich so kostengünstig, dass sie massentauglich vermarktet und zum festen Bestandteil des entstehenden Tourismus und ständigen Begleiter auf den Expeditionen von Abenteuern und Entdeckern werden konnte. Nach der „Vermessung der Welt“ Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, folgte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die fotografische Erkundung der Welt.
In der Forschungsliteratur zu den Anfängen der Fotografie im Gorkhā-Staat wurde zunächst behauptet, dass die ersten Fotografien bereits während und kurz nach Jaṅga Bahāduras Europareise entstanden seien.3 Doch dafür gibt es bisher keinerlei Belege. In einem Antwortschreiben des britischen Residenten George Ramsay auf die Anfrage der Kolonialverwaltung in Kolkatta (Calcutta), Fotografien der verschiedenen ortsansässigen Bevölkerungsgruppen für das größer angelegte Vorhaben The People of India die Bewohner und Bauwerke des gesamten Subkontinents fotografisch zu erfassen, schrieb dieser am 3. Juli 1861: „There are no amateurs in the art of Photography here, and the inducements to professionals to visit Kathmandoo are so very small, that none have ever come up here.“ (zitiert in Losty 1992: 318). Da aufgrund der strengen Reglementierung in dieser Zeit nur wenige Europäer ins Kathmandu-Tal kamen und der britische Resident in einer sehr vorteilhaften Position war, über fast alle Besucher aus dem Ausland informiert zu sein, erscheint diese Einschätzung durchaus glaubwürdig. Zumindest auf Basis der aktuellen Quellenlage ist davon auszugehen, dass weder Fotografien von Jaṅga Bahādura während seines Aufenthalts in Europa noch im Verlauf der 1850er Jahren im Gorkhā-Staat angefertigt worden sind.4
Die ersten, tatsächlich nachweisbar in Kathmandu entstandenen Fotografien wurden von Clarence Comyn Taylor 1863 aufgenommen. Taylor diente in den 1850er Jahren in der Bengal Army und wurde 1863 Assistent des Residenten Ramsay. Er wurde von der Kolonialverwaltung unter Lord Canning beauftragt, die Menschen und Bauwerke im Kathmandu-Tal fotografisch dokumentieren. Die zwanzig Fotos, die zwischen Oktober 1863 und August 1864 aufgenommen und 1868 im achtbändigen The People of India veröffentlicht wurden, waren aber nicht seine ersten und einzigen Aufnahmen.5 Taylor hatte bereits im September 1863 achtzehn Fotos aufgenommen, vierzehn von Gebäuden und Landschaften im Kathmandu-Tal sowie drei Fotos von der Rāṇā-Familie und eines vom nominellen Monarchen Surendravikrama Śāha. Die Fotografie mit der Bezeichnung XV ist eine der ersten, die im Kathmandu-Tal entstand und das bislang früheste bekannte Portraitfoto von Jaṅga Bahādura (s. Abb. 7.1).6
Noch bis in die 1870er Jahre hatten die Rāṇās keinen eigenen Zugang zur Technologie und waren vorerst auf die Dienste der Fotografen Samuel Bourne and Charles Sheperd in Kolkatta (Calcutta) angewiesen. Die nächsten heute noch erhaltenen Fotografien von Jaṅga Bahādura und der Rāṇā-Familie entstanden erst im November 1871 während einer Großwildjagd in Hajipur, zu der Lord Mayo eingeladen hatte. 1875 besuchten dann Fotografen des bis dahin sehr angesehenen und kommerziell äußerst erfolgreichen Fotostudios Bourne & Sheperd auf Einladung von Jaṅga Bahādura Kathmandu und es entstanden weitere Portraits von Mitgliedern der Rāṇā-Familie und Fotografien einer Militärparade auf dem Ṭũḍikhel-Platz. Im darauffolgenden Jahr lud Jaṅga Bahādura den Prince of Wales, bevor dieser zum Monarchen Edward VII gekrönt wurde, zu einer gemeinsamen Großwildjagd im Tarai ein. Bei dieser Gelegenheit waren wieder die Fotografen von Bourne & Sheperd zugegen und dokumentierten minutiös die Aktivitäten der elitären Jäger, ihr Camp und ihre Jagdtrophäen.7
Gegen Ende der 1870er Jahre aber begann sich als Erster ein Neffe Jaṅga Bahāduras, namens Damber Śamśera für die Fotografie zu begeistern. Angeblich soll er von seinem Vater Dhīra Śamśera das notwendige Geld bekommen haben, um sich selbst ein kleines Fotostudio einrichten zu können. Von wem genau Damber Śamśera die Kunst der Fotografie gelehrt bekam ist bis heute nicht geklärt. Da aber einige der Rāṇās sich in dieser Zeit häufig im British Raj aufhielten und es damals auch nur wenige professionelle Fotostudios gab, liegt die Vermutung nahe, dass auch Damber Śamśera seine grundlegenden Fähigkeiten und Kenntnisse in Kolkatta (Calcutta) bei Bourne & Sheperd erwarb. Bereits 1877 begann der noch junge Maler Purnamān Chitrakār die Grundlagen der Fotografie von Damber Śamśera zu lernen. 1881 wurde er dann für eine weiterführende Ausbildung als Fotograf ebenfalls nach Kolkatta (Calcutta) entsandt. Nach der Machtübernahme der Śamśera Rāṇās wurde Purnamān dann zum offiziellen Fotografen und Maler am Hof des neuen Premierministers Vīra Śamśera. In dieser Funktion bildete er ab den 1890er Jahren unter anderem den später besonders bekannten und einflussreichen Dirghamān Chitrakār aus. Auch Ganeśamān Chitrakār, Badramān Chitrakār, Ratna Bahādura Chitrakār, Krishna Bahādura Chitrakār und Tej Bahādura Chitrakār waren Schüler von Purnamān und gehörten zur zweite Generation von Fotografen, die die weitere Entwicklung der Fotografie im Gorkhā-Staat in den darauffolgenden Jahrzehnten maßgeblich mitprägten.8
Nicht nur die Anzahl ausgebildeter Fotografen im Gorkhā-Staat nahm zwischen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts exponentiell zu, sondern damit einhergehend erweiterte sich auch das motivisch-thematische Spektrum rasant. Zu Beginn waren die meisten Fotografien noch Einzel- oder Familien-Portraitaufnahmen der Śamśera Rāṇās, die in Fotostudios in den Innenräumen ihrer Palastanlagen aufgenommen wurden. Die Männer ließen sich meist in militärischen Uniformen mit Orden aller Art auf der Brust ablichten, während die Frauen in langen Saris oder Reifrock-ähnlichen Kleidern und ernster Miene direkt in die Kamera schauten. Häufig wurden bemalte Leinwände mit landschaftlichen Motiven als Hintergrund gewählt (s. Abb. 7.2).
Als es zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings immer mehr ausgebildete Fotografen gab, sowie tragbare Kameras und eine transportable Ausrüstung zur Fotoentwicklung einfacher verfügbar waren, wurden auch die Tempel und Paläste, Institutionen und Infrastrukturprojekte, Feste, Rituale und Zeremonien, sowie Landschaften, alte Malereien, Schmuck und Medaillen fotografiert. Und während der Europareise von 1908 nahm Dirghamān Chitrakār mehr als 260 Fotos von allen großen wie kleinen Sehenswürdigkeiten, von bedeutenden Ereignissen, Aktivitäten und Persönlichkeiten auf (s. Abb. 7.3).9
Besonders prominent wurden Aufnahmen der jährlichen Großwildjagd in den Wäldern des Tarai, zu denen die Śamśera Rāṇās stets hochrangige britische Kolonialbeamte und Adlige aus Europa einluden. Sie antizipierten auf diese Weise, wie viele andere der sogenannten Indian princes, einen bedeutenden Teil der britischen Herrschaftskultur in Südasien.10 Denn die Großwildjagd war in den Worten von Vijaya Ramadas Mandala:
[…] at the heart of colonial rule by demonstrating that, for the British in India, it served as a political, practical, and symbolic apparatus in the consolidation of power and rule. […]. Hunting was an important aspect of the imperial showcasing of power in colonial India as well as a vital means of governance and rule. The figure of the white hunter sahib standing with a gun in hand over the carcass of a tiger was one of the most powerful and enduring images of the empire, inspiring awe and respect among viewers. The killing of man-eating predators especially cemented the role of imperial hunters as rulers and protectors of indigenous populations.
(Vijaya Ramadas Mandala 2019: 1-2)
Damit stellten die Briten in Südasien aber keine Ausnahme dar, sondern knüpften selbst sowohl an ihre eigene als auch an die verschiedenen Herrschaftskulturen des Subkontinents an. Tatsächlich diente das Jagen schon seit Jahrtausenden nicht nur der Selbstversorgung, sondern war in fast allen Gesellschaften der Menschheitsgeschichte auf allen Kontinenten oft auch wichtiger Bestandteil der Kultur herrschender Eliten – so auch in Südasien. Bereits im Rāmāyaṇa und Mahābhārata, aber auch bei den frühen und zeitgenössischen Herrscherdynastien des Subkontinentes spielte die oft ritualisierte Jagd wilder Tiere stets eine wichtige Rolle bei der Zurschaustellung von Maskulinität und der Eignung als Herrscher. Im Kontext der Verwandlung der Welt im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts wurde die Großwildjagd schließlich zum Symbol des Sieges des „[…] civilized man over the darker primeval and untamed forces still at work in the world.“ (MacKenzie 1988: 47).
Als erster Herrscher des Gorkhā-Staates wusste Māthavara Siṃha Thāpā die Großwildjagd als Mittel der Diplomatie und Erhöhung der eigenen Legitimität einzusetzen. Dem Bericht des Arztes Werner Hoffmeister zufolge lud Māthavara Siṃha 1845 Prinz Waldemar von Preußen bei dessen Besuch im Kathmandu-Tal zu einer gemeinsamen Jagd ein.11 Auch Jaṅga Bahādura verstand das Potenzial der Symbolkraft dieser Praxis gezielt für sich zur Herrschaftslegitimation zu nutzen, nachdem er selbst von Lord Mayo 1871 zur Großwildjagd ins British Raj eingeladen worden war. Im Gegenzug begann er ebenfalls bedeutende Repräsentanten der britischen Kolonialverwaltung regelmäzur Großwildjagd ins Tarai einzuladen und 1875 gehörte sogar der künftige Thronfolger des britischen Königshauses, der Prince of Wales zu seinen Gästen.12
Nach 1885 eigneten sich auch die Śamśera Rāṇās diese Legitimationspraktik an und luden jedes Jahr zu mehrwöchigen Großwildjagden ein, die zu dieser Zeit bereits von eigenen Fotografen begleitet wurden. Und jedes Jahr folgten zahlreiche hohe Kolonialbeamte, Adlige und manches Mal auch europäische Monarchen der Einladung und machten in die Wäldern des Tarai Jagd auf Tiger, Leoparden und Nashörner. Den Śamśera Rāṇās gelang es sich auf diese Weise gekonnt als ebenbürtige und zivilisierte Elite im Vergleich zu den Briten und zugleich als Beschützer der lokalen Bevölkerung im Tarai vor den gefährlichen Wildtieren in Szene zu setzen. Im Archiv der Familie Chitrakār sind hunderte von Fotografien dieser Großwildjagden erhalten, anhand derer klar erkennbar wird, wie gezielt die Gastgeber die Jagdkultur der europäischen Elite hinsichtlich der Kleidung, der gewählten Posen und Motive imitierten. Besonders beliebt war in dieser Hinsicht auch das Posieren mit einem erlegten Leoparden. Diese wurden im Diskurs der britischen Großwildjäger als weitaus gefährlicher als ein Tiger angesehen und galten als authentischste Repräsentation der Wildheit des Subkontinents, weil sie eher dazu neigten die Jäger zu attackieren. Deshalb stellte das Erlegen eines Leoparden auch die mit Abstand größte „sportliche“ Herausforderung dar und unterstrich die Maskulinität und Zivilisiertheit des erfolgreichen Jägers (s. Abb. 7.4).13
Mit der Erfindung der Fotografie waren die Europäer zunächst im Besitz einer bis dahin nie dagewesenen Technologie, die sie als weiteres Merkmal ihrer technologischen und daraus abgeleitet auch ihrer zivilisatorischen Überlegenheit deuteten. Wie viele andere lokale Eliten auch, waren die Rāṇās ebenfalls an dieser Technologie interessiert, um sich gegenüber den Europäern mit den Mitteln der Fotografie als gleichwertig inszenieren zu können. Darüber hinaus verkörperte die Fotografie für die Rāṇās eine spezifische Form kulturellen Kapitals, zu dem nur sie zwischenzeitlich exklusiven Zugang hatten. Dadurch konnten sie einen weiteren Differenzmarker zwischen sich selbst und der von ihr beherrschten Bevölkerung konstruieren, weil dieser der Zugang zur Produktion und zum Konsum dieses neuen Mediums verwehrt blieb. Diesen Abgrenzungsprozess und die daraus abgeleitete Legitimationsbegründung der Rāṇās bezeichnete Mark Liechty (1997) als „selective exclusion“. Die Aneignung der Fotografie und die zeitweilige Monopolisierung des Zugangs ließe sich ebenso als Ausdruck einer technologischen Selbstzivilisierung interpretieren, wodurch die Śamśera Rāṇās erneut die Legitimität ihres Herrschaftsanspruchs auf horizontaler wie auch vertikaler Ebene zu erhöhen versuchten.
Allerdings vermochten es die Śamśera Rāṇās nicht das ganze legitimatorische Potenzial der Fotografie und auch die Risiken der von ihnen verfolgten Legitimationsstrategie zu erkennen. Die Kolonialverwaltung im British Raj war im Nachgang der Ereignisse von 1857–58 sich ihrer Legitimitätsbegründung nicht mehr sicher. Sie versuchte deshalb die neue Technologie der Fotografie beispielsweise im Kontext des The People of India-Projektes zur Erkundung und Dokumentation der von ihr beherrschten Bevölkerung zu nutzen, um durch das auf diese Weise gewonnene Wissen ihre Herrschaftsmechanismen zu verfeinern und ihre Legitimationsdiskurse und -praktiken entsprechend anpassen zu können. Die Śamśera Rāṇās schienen sich aber im Unterschied dazu der Legitimität ihres Herrschaftsanspruchs viel sicherer gewesen zu sein, weil sie in dieser Hinsicht keinerlei Anstrengungen unternahmen, die neue Technologie in vergleichbaren Projekten für sich nutzbar zu machen. Sie zeigten kein Interesse mittels Fotografie neues Wissen über die von ihnen beherrschten Menschen zu produzieren und so blieben diese in der Fotografie lange Zeit außen vor.
Doch zwischen den 1910er und 1940er Jahren fielen nicht nur die Kosten für die fotografische Ausrüstung, sondern es entstand im Zuge eines stetig wachsenden staatlichen Verwaltungsapparates parallel auch eine Mittelschicht im Gorkhā-Staat, die über die finanziellen Ressourcen verfügte und sich eigenständig Zugang zur Technologie verschaffte. Mit dem Verlust des Monopols der Śamśera Rāṇās verlor die Fotografie zusehends ihre legitimierende Funktion auf der vertikalen Ebene. Die fotografisch inszenierte zivilisatorische Überlegenheit der Herrschenden ließ sich nicht länger durch den exklusiven Zugang zur Technologie begründen und damit auch die Abgrenzung zur allgemeinen Bevölkerung nicht mehr aufrechterhalten. Der lange andauernde Ausschluss der Bevölkerung von technologischen Errungenschaften wie der Fotografie wurde den herrschenden Eliten von der neu entstehenden Mittelschicht zum Nachteil ausgelegt. Die verweigerte Teilhabe wurde stattdessen als Symbol einer despotischen Willkürherrschaft umgedeutet und trug so zur weiteren Delegitimierung des Herrschaftsanspruch der Śamśera Rāṇās bei.

7.2 Infrastruktur als materielle Manifestation von Zivilisiertheit

Neben der Fotografie eignen sich auch Infrastrukturprojekte zur Veranschaulichung der technologischen Selbstzivilisierung, die nicht nur zweckmäßig genutzt worden, sondern auch legitimatorische Funktionen erfüllten. Als wohl älteste und bereits im Zusammenhang des Aufbaus einer Gesundheitsversorgung kurz diskutierte Infrastrukturmaßnahme der Herrscherdynastien im zentralen Himalaya und insbesondere im Kathmandu-Tal ist die öffentliche Wasserversorgung zu nennen. Wie bereits erwähnt, ließen schon die Könige der Licchavi- und später auch der Malla-Dynastie Kanäle für die Landwirtschaft und zur Versorgung der Bevölkerung anlegen, Trinkwasserbrunnen und Wasserreservoirs bauen. Diese dienten aber nicht ausschließlich dem Zweck der Wasserversorgung, sondern hatten auch immer eine kulturelle Bedeutung wie Mary Slusser (1982) erläutert: „Water itself is sacred, as everything that relates to it – the vessel, the well, or pond that contains it, the fountain from which it issues, or the stream in which it flows.” (Slusser 1982: 154). Darüber hinaus erfüllte die Wasserversorgung stets auch eine gesellschaftliche Funktion, denn die damit verbundenen Orte waren immer Zentren der Begegnung und Interaktion. Die Menschen in Dörfern und Städten trafen sich dort, tauschten sich aus und deshalb erscheint es nachvollziehbar, dass diese sozialen Zentren von den Herrschenden auch genutzt worden sind, um durch Inschriften einerseits auf ihr durch die Wasserversorgung zum Ausdruck gebrachtes Wohlwollen hinzuweisen und andererseits für die jeweilige Gemeinschaft relevante Informationen zu verbreiten.14 Den Herrschenden war außerdem wichtig, dass auch die Nachwelt von ihren Wohltaten erfuhr und ließen diese zusätzlich in ihren Herrschaftschroniken, so beispielsweise auch im Gopālarājavaṃśāvalī erwähnen.15
Einen vorläufigen Höhepunkt der Wasserarchitektur gab es im Kathmandu-Tal in der Hochphase der Bauaktivität im 17. Jahrhundert, als die drei miteinander verwandten Könige der Stadtkönigtümer Kathmandu, Bhaktapur und Patan ständig bemüht waren, sich in Form von Palastbauten und Infrastrukturprojekten überbieten zu wollen. Sie ließen am Stadtrand oder in der näheren Umgebung ihrer Paläste große Wasserreservoirs, mit geziegelten Treppenstufen für einen einfachen Zugang und Balustraden rundherum, sogenannte pokharī, angelegen, um sich als wohlwollendere und fürsorglicherer Herrschende als die der benachbarten Stadtkönigtümer wahrgenommen zu werden. Aus dieser Zeit stammen auch der Rānī Pokharī in Kathmandu, der Tava Pokharī und der Siddha Pokharī in Bhaktapur sowie der Bhaṇḍārkhāl Pokharī in Patan.16 An diesen Bauwerken zeigt sich, dass Infrastrukturprojekte zur Wasserversorgung schon im 17. Jahrhundert neben ihrem eigentlich Zweck implizit auch herrschaftslegitimierende Funktionen erfüllten. Und daher scheint die Vermutung naheliegend, dass sowohl Bhīmasena als auch Jaṅga Bahādura genau diese pokharī nach ihrer jeweiligen Machtübernahme reparieren und renovieren ließen, um sich deren legitimierende Funktion zunutze zu machen und sich auf diese Weise als rechtmäßige Nachfolger der einst herrschenden Malla-Dynastie darstellen zu können.
Das erste große staatlich initiierte Infrastrukturprojekt der Gorkhālī ist das sogenannte hulāka-System, dessen Ursprünge auf dem Höhepunkt der expansiven Phase der Staatsbildung gegen Ende des 18. Jahrhundert zu verorten sind. Dabei handelt es sich um ein rudimentäres Transport- und Kommunikationswesen, das es in erster Linie militärischen Zwecken diente und eine wichtige Grundlage für die erfolgreiche Expansion der Gorkhālī bildete. Es ermöglichte einen schnellen Transport von Soldaten, Waffen, Munition und versetzte die Befehlshabenden in die Lage militärische Operationen mit verschiedenen Einheiten koordiniert durchführen zu können. Die Gorkhālī nutzten für das hulāka-System die damals einzigen verfügbaren Ressourcen für ein landesweites Transport- und Kommunikationsnetzwerk: menschliche Träger und die existierenden Bergpfade. Und dank einer komplexen Organisationsstruktur konnten Güter und Informationen zuverlässig und in bemerkenswerter Geschwindigkeit über lange Strecken und schwieriges Gelände hinweg transportiert werden.17
Die Trägerdienste waren Teil der Arbeitsverpflichtungen (jhārā), die meist ganze Familien in den Dörfern entlang der Bergpfade des Netzwerkes übernahmen. Jedem Streckenabschnitt in der Länge eines Tagesmarsches wurden vier Gruppen mit jeweils zwanzig Familien zugeteilt, die auf Rotationsbasis Informationen und Güter von einem Streckenabschnittspunkt zum nächsten transportierten. Und an jedem Streckenabschnittspunkt gab es einen sogenannten naike, der dafür verantwortlich war, die jeweils zuständigen Familien zu koordinieren. Im Unterschied zu allen anderen Formen von Arbeitspflichten war das hulāka-System ein 24-Stunden-Dienst, in den eine überschaubare Personenanzahl involviert und der sowohl für das Militär als auch die Administration von essenzieller Bedeutung war. Deshalb genossen in das hulāka-System involvierte Familien auch eine bevorzugte Behandlung von staatlicher Seite durch Sicherheitsgarantien und Steuererlasse auf Ernteabgaben. Das machte diese spezifische Arbeitsverpflichtung bei der Bauernschaft recht begehrt.18
In den 1790er Jahren waren die hulāka-Dienste noch kein zusammenhängendes staatlich reguliertes System. Die Regierung in Kathmandu erließ zunächst nur einzelne Verordnungen für den Transport spezifischer Waren wie Waffen, Salpeter, Metalle, Kräuter und Medikamente oder Baumwollsamen auf bestimmten Streckenabschnitten. Erst auf dem Höhepunkt der westlichen Expansion zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden dann der Transport von Waren, Personen und Information zentral reguliert und durch eine einheitliche Gesetzgebung das eigentliche hulāka-System geschaffen. Diese Regularien bestätigten nicht nur bereits geltenden Steuerlasse und Sicherheitsgarantien für die hulāka-Familien. Es wurde zusätzlich die grundsätzliche Priorisierung von militärischen Gütern festgeschrieben und sogenannte taluks definiert, das sind Verwaltungseinheiten mit eigenen Beamten, die für den reibungslosen Ablauf des Transports auf den jeweils zugeteilten Wegstrecken ihres Bezirks verantwortlich waren. Sollte es zu Verzögerungen kommen oder das System für persönliche Belange missbraucht werden, wurden diese Beamten dafür zur Rechenschaft gezogen. Ebenso war es registrierten Trägern strikt verboten ihre Verpflichtungen an Dritte weiterzugeben.19
Nach dem Ende des Anglo-Gorkha-Krieges 1816 wurde das hulāka-System verstärkt zum Transport nicht-militärischer Güter und zur Informationsweitergabe vom stetig wachsenden Verwaltungswesen genutzt. 1855 wurde das System dann zum letzten Mal für eine militärische Operation beim Einmarsch in Tibet genutzt. Da es danach kaum noch Bedarf für den Transport von Waffen, Munition und Soldaten gab, wurde das System 1878 schließlich zu einem allgemeinen Postwesen umfunktioniert. Infolgedessen war es nicht mehr ausschließlich dem Militär und Verwaltungsbeamten vorbehalten. Fortan durften alle Menschen im Gorkhā-Staat Sendungen verschicken, wenn sie eine Briefmarke erwarben. Das neue öffentliche Postwesen wurde rege von der Bevölkerung genutzt und so sind heute zahlreiche Verwaltungsdokumente erhalten, in denen es um den Ausbau den Netzwerkes und insbesondere um den Bau neuer hulāka-Außenposten geht. 1881 gab es landesweit bereits 43 solcher Poststationen.20
Wie die Wasserversorgung war auch das hulāka-System nicht einfach ein zweckmäßiges Infrastrukturprojekt, durch das eine spezifische Dienstleistung zur Verfügung gestellt wurde. Es hatte ebenso eine implizit herrschaftslegitimierende Funktion. Es trug offensichtlich entscheidend zum Erfolg der territorialen Expansion der Gorkhālī bei. Und während die Beamten und Offiziere der EIC die militärische Leistungsfähigkeit der Gorkhālī-Armee im Allgemeinen als mäßig wahrnahmen, waren sie von der Effizienz des Transportwesens beeindruckt. So schrieb beispielsweise der Militärarzt Alan Campbell im Januar 1835:
The Gorkha means of artillery transportation are admirably suited to efficiency in a mountainous country. Their gun carriages are so constructed as to admit of being taken to pieces, and put together again, and their component parts made of weight having strict reference to what can be easily carried by human transport over the most hilly parts of the country.
(Alan Campbell 1835, zitiert in Stiller 1976: 35)
Die durch diese Effizienz zum Ausdruck gebrachte Organisationsmacht erhöhte in der Konsequenz auch die Legitimität der Eliten der Gorkhālī anfänglich vor allem auf horizontaler Ebene gegenüber der EIC. Und nachdem das System gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Form eines öffentliches Postwesens allen Menschen im Gorkhā-Staat zugutekam, erhöhte dies natürlich auch die Legitimität der Eliten gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Davon abgesehen erlaubte das hulāka-System eine zeitnahe Kommunikation zwischen der Regierung in Kathmandu und den Beamten und Offizieren. Dadurch konnten neue Erlasse und Regularien an Verwaltungsbeamte oder Befehle ans Militär zeitnahe kommuniziert werden. Das System trug so maßgeblich zur Effektivierung des Staatsapparates bei und ermöglichte den Eliten ihre Macht auch in den abgelegeneren Landesteilen auszuüben. Auf der anderen Seite war die durch ihre hulāka-Dienste involvierte Bauernschaft durch das System in ein landesweites Projekt eingebunden, das über die Belange ihres Dorfes hinausging. Weil sie durch ihr Mitwirken sowohl für die Eliten als auch für die Administration und das Militär eine bedeutende Funktion erfüllten und deshalb eine bevorzugte Behandlung erfuhren, entwickelte sich im Laufe der Zeit auch eine landesweite Gemeinschaft von hulāka-Familien, die sich selbst als „agents of sarkar“ (Stiller 1976: 38) verstanden. Dieses Gemeinschaftsgefühl und die reziproke Verbindung von Bauern, Beamten, Offizieren und Eliten erzeugte ebenfalls eine legitimierende Wirkung.
In direkter Verbindung mit dem hulāka-System sind der Straßen- und Brückenbau als Beispiele für Infrastrukturmaßnahmen zu nennen, die eine implizit legitimierende Funktion erfüllten. Wie aus den Schilderungen von Kirkpatrick und Buchanan-Hamilton hervorgeht, waren selbst die wichtigsten Verkehrswege von Süden her ins Kathmandu-Tal noch Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts viel genutzte, aber gänzlich unbefestigte, schmale Bergpfade. Den Beschreibungen der europäischen Reisenden zufolge waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch sehr einfache Brückentypen vorherrschend. Kleinere Flussläufe wurden mit Seilen aus geflochtenem Rattan überbrückt oder es wurden Bäume gefällt, über den Fluss gelegt und mit mehreren Schichten Erde bedeckt. Wenn möglich, kamen bei breiteren Flussläufen auch komplexere Holzkonstruktionen zum Einsatz und ansonsten behalf man sich mit Flussfähren.21 Kirkpatrick berichtet erstmals von einer Eisenbrücke über den Fluss Bhoṭekośī, östlich des Kathmandu-Tals.22
Anders stellte sich die Situation im Kathmandu-Tal dar. Hier waren spätestens seit der Hochphase der Bauaktivitäten im 17. Jahrhundert zumindest die Straßen innerhalb der Stadtkönigtümer mit Ziegeln gepflastert und es gab schon eine Reihe von einfachen Steinbrücken über die zahlreichen Flüsse des Tals. Aus Kirkpatricks Perspektive schien im Vergleich der drei Stadtkönigtümer Ende des 18. Jahrhunderts der Straßenbau Bhaktapurs allen anderen überlegen:
[…] its streets, if not much wider, are at all events much cleaner than those of the metropolis. It owes this last advantage to its admirable brick pavement, which has not received, or indeed required, the least repair for thirty years past.
(William Kirkpatrick 1811: 163)
Nach der Machtübernahme Bhīmasenas versuchte dieser nicht nur durch neue Residenzpaläste seinen Machtanspruch in baulicher Form zu manifestieren, sondern stiftete ebenfalls eine steinerne Brücke über den Bagmati-Fluss von Kathmandu nach Patan. Wie Mary Slusser (1982: 158) mutmaßt, ließ er sich zur Erinnerung auch direkt ein Denkmal für seine gute Tat am nördlichen Ende der Brücke setzen, dass Daniel Wright als „[…] a curious stone pillar, supported on the back of a gigantic tortoise, and surmounted by a grotesque figure of a lion.“, (Wright 1877: 15) beschrieb. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der Straßen- und Brückenbau im Kathmandu-Tal dann kontinuierlich vorangetrieben. Dem Bericht von Werner Hoffmeister zufolge, fanden sich gepflasterte Straßen bereits um 1845 in jedem Dorf auf dem Weg ins Kathmandu-Tal und ihre Qualität schien zu dieser Zeit eine Bemerkung und einen Vergleich wert: „Auf die Wege war viel Fleiß verwandt; in jedem Dorfe findet man sie mit Backsteinen reinlich gepflastert, ähnlich den holländischen Städtchen.“ (Hoffmeister 1847: 145).23
Unter der Regierung Jaṅga Bahāduras wurden verbesserte Brückenkonstruktionen über alle großen und kleineren Flüsse im Tal gebaut. Dafür wurde das besonders stabile und widerstandsfähige Holz des Sāl-Baum (Shorea Robusta) verwendet. Zuerst wurden massive Holzpfosten an den gegenüberliegenden Uferseiten ins Flussbett eingegraben und durch Querbalken verbunden. Anschließend wurde die Holzkonstruktion mit Ziegeln eingemauert und ein zusätzliches Brückengeländer gebaut. Eine solche Brücke, bei der frühere Bauweisen von Stein- und Holzbrücken miteinander kombiniert wurden, fotografierte C.C. Taylor im Herbst 1863 bei seinem Besuch in Bhaktapur und verdeutlicht damit auch die symbolische Bedeutung des Brückenbaus in der Wahrnehmung der Briten (s. Abb. 7.5). Daniel Wright berichtet außerdem von der ersten aus Eisen gebauten Hängebrücke im Tal, die ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut worden sein soll, von der aber bislang keine Fotografien bekannt sind.24
Eine völlig neue Dimension nimmt der Straßen- und Brückenbau schließlich mit den Śamśera Rāṇās zum Ende des 19. Jahrhunderts an. Denn abgesehen von den Straßen und Brücken im Kathmandu-Tal war die Transportinfrastruktur im Hügelland und Hochgebirgsregionen des Landes noch immer ein Netzwerk aus einfachen, meist unbefestigten Pfaden. Das Anlegen breiter und befestigter Straßen entlang der mitunter sehr steilen Berghänge war aber mit einem immensen Material- und Arbeitsaufwand verbunden und erhöhte zudem die Gefahr von Erdrutschen. Brücken wurden regelmäßig durch Hochwasser zerstört und mussten ständig erneuert werden. Deshalb blieben Flussüberquerungen und die Unwegsamkeit des Geländes bis weit ins 20. Jahrhundert die größten Hindernisse für ein funktionierendes, landesweites Transportwesen. Um aber die notwenigen Materialien für ihre neuen Palastanlagen ins Land und bis zu den Baustellen transportieren zu können, und sich gleichzeitig auch als fortschrittbringende Herrscher inszenieren zu können, ließen die Śamśera Rāṇās zunächst das bestehende Straßennetz im Kathmandu-Tal sowie die südlichen Handelswege ausbauen. In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts intensivierten sie ihre Anstrengungen und ließen auch in den übrigen Landesteilen befestigte Straßen und Hängebrücken mit Stahlseilen bauen, die den widrigen Bedingungen der Region längerfristig standhalten konnten (s. Abb. 7.6). Und in Kathmandu ließen sich die Śamśera Rāṇās in den ersten Autos, die in Einzelteile zerlegt bis ins Tal transportiert wurden, auf den ersten geteerten Straßen durch die Stadt chauffieren.25
Bis ins späte 18. Jahrhundert dienten die vorhandenen Verkehrswege fast ausschließlich ihrem eigentlichen Zweck, den Transport von Waren, Waffen, Munition, Soldaten und Informationen von einem Ort zum anderen zu ermöglichen. Einzig im Kathmandu-Tal hatten schon die Malla-Könige den symbolischen Wert des Straßen- und Brückenbaus erkannt und versuchten sich im Wetteifern um das schönste Stadtkönigtum gegenseitig auch in dieser Disziplin zu übertreffen. Die europäischen Reisenden am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen aus der Existenz und Qualität der Verkehrswege auch Rückschlüsse auf die Zivilisiertheit der Gesellschaften zu ziehen. Im 19. Jahrhunderts begann zunächst Bhīmasena und nach ihm noch deutlicher Jaṅga Bahādura die Symbolkraft gepflasterter Straßen und stabiler Brücken vermehrt in das Repertoire ihrer Legitimationspraktiken zu integrieren. Aber erst die Śamśera Rāṇās wussten die tatsächliche legitimatorische Wirkmacht auszuschöpfen. Sie hatten erkannt, dass Straßen und Brücken unübersehbare Symbole von Fortschritt (unnati) und eine Errungenschaft der Zivilisation (sabhyatā) waren. Und sie nutzten diese Sichtbarkeit, um sich als diejenigen Herrschenden zu inszenieren, die es vermochten diese zivilisatorischen Errungenschaften in die Abgeschiedenheit des Himalaya zu bringen und sie wohlwollend mit den Beherrschten zu teilen. Und die einfachen Menschen spürten die Veränderungen durch Straßen und Brücken unmittelbar in ihrem Alltag. Reisen wurden weniger beschwerlich, größere Entfernungen konnten schneller zurückgelegt, neue Waren auf dem Markt erworben und eine Sendung mit dem hulāka-System schneller verschickt werden. Das Zusammenwirken dieser Veränderungen führten zu bis dahin unbekannten Ausmaßen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Integration, die wiederum Prozesse der Staats- und Nationenbildung beschleunigten.
Der Ghanṭāghar in Kathmandu, der erste Uhrenturm im Gorkhā-Staat, vereint wiederum die symbolischen Implikationen von Architektur und Technologie. Wie Thomas Metcalf (1989: 80) erläutert, dienten Uhrentürme im British Raj als wichtige bauliche Repräsentationsform des Herrschaftsanspruchs der Briten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert waren sie noch häufig von architektonischen Einflüssen der Neugotik des Big Ben in London beeinflusst. Als die Briten aber gegen Ende des Jahrhunderts den „Indo-Sarazenischen Stil“ zur „authentisch indischen“ Bauart zur Repräsentation ihrer Herrschaft in Südasien erklärt hatten, knüpften sie stilistisch vor allem an die Turmbauten der Pādshāh der Gurkaniya an, um sich in Kontinuität mit den vorherigen Machthabenden darstellen zu können. Gleichzeitig wurde mit der Technologie des Uhrwerks die eigenen Werte und Tugenden von Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit verbunden. Den oft als lethargisch, faul und undisziplinierten dargestellten Subjekten des British Raj sollten diese Werte und Tugenden durch den Bau von Uhren an öffentlichen Plätzen vermittelt werden. Vīra Śamśera, der in seiner Jugend selbst einige Zeit in Kolkatta (Calcutta) und anderen Städten des British Raj verbracht hatte, verstand als es erster Premierminister diese moralischen Implikationen zur Legitimation seines eigenen Herrschaftsanspruchs zu instrumentalisieren. Zunächst führte er das Abfeuern einer Kanone auf dem Ṭũḍikhel, dem zentralen Paradeplatz in Kathmandu, zur Mittagszeit ein und ließ Ende der 1890er Jahre schließlich den Uhrenturm Ghanṭāghar auf der Ostseite des Rānī Pokharī, genau gegenüber der Darbār High School errichten (s. Abb. 7.7).
Beim Ghanṭāghar wurden verschiedene Stilrichtungen miteinander kombiniert. Der Turm bestand aus insgesamt fünf ungefähr gleich hohen Teilelementen mit quadratischem Grundriss. Das Sockelelement war durch ein eher schlicht gehaltenes Rundbogenportal und an den Ecken angedeutete toskanischen Doppelsäulen geprägt. Die Ebene darüber wies neben einem Rundbogenfenster auch eine venezianisch anmutende Balustrade und an den Ecken sowie an den Seiten des Fensters ionische Doppelsäulen auf. Die dritte Ebene war eine weitergeführte Iteration der Grundform, aber das Rundbogenfenster wurde nun durch zwei kleinere Rundbögen und eine mittig platzierte Lünette ergänzt, sodass hier der Eindruck eines neugotischen Fensters entstand. Auf der vierten Ebene ist schließlich die Uhr innerhalb eines nur noch angedeuteten Rundbogenfensters positioniert. Den Abschluss bildete ein auf der Spitze bildete ein sogenannter chhatrī, ein domförmige Pavillon. In der Architektur der Gurkaniya des 17. und 18. Jahrhunderts war dies ein sehr häufig eingesetztes Bauelement und findet sich beispielsweise auf fast allen der berühmten Mausoleen der Pādshāh, im Lal Qila in Delhi oder in der Palastanlage Fatehpur Sīkrī in Agra. Der chhatrī auf der obersten Ebene des Ghanṭāghar in Kathmandu war wiederum von vier identischen Miniaturversionen an jeder der vier Ecken umgeben.
Im Ghanṭāghar wurden also bauliche und dekorative Elemente verschiedener europäischer Stile mit jenen der Pādshāh-Architektur vereint. Gleichzeitig wurden durch die Kombination von Turmbau und Uhrentechnologie multiple Bezugnahmen auf verschiedene Formen der Herrschaftsarchitektur konstruiert. Mit Hilfe des neuen Turms konnten die Śamśera Rāṇās sich einerseits in Kontinuität mit der Architekturstil der Pādshāh Südasiens präsentieren. Auf der anderen Seite vermittelte die Uhr die von den Briten hochgeschätzten und mit ihrem normativen Zivilisationsbegriff verknüpften Werte von Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit. Es ließe sich interpretieren, dass Vīra Śamśera versuchte sich durch den Uhrenturm als Anführer einer zivilisatorischen Avantgarde im Gorkhā-Staat zu inszenieren, um auf diesem Wege den eigenen Grad der Zivilisiertheit zu erhöhen und zugleich einer eigenen Mission zur Zivilisierung der beherrschten Bevölkerung Ausdruck zu verleihen.
Auch Candra Śamśera scheute weder Kosten noch Mühen sich den Zugang zu immer neuen Technologien zu sichern. So begann er sich gleich zu Beginn seiner Herrschaft um den Bau eines eigenen Wasserkraftwerkes zur Stromerzeugung zu bemühen. Weil es im Gorkhā-Staat zu dieser Zeit aber noch keine ausgebildeten Ingenieure gab, die ein solches Projekt hätten eigenständig entwerfen, planen und umsetzen können, bediente man sich der Expertise im British Raj. Nachdem in den ersten Jahren des 20. Jahrhundert zunächst ein geeigneter Standort ausgewählt und ein entsprechender Bauplan entworfen worden war, wurde 1907 mit den Bauarbeiten am südlichen Rand des Kathmandu-Tals, in dem kleinen Dorf Pharpiñ begonnen.26
Kurz vor Fertigstellung und Inbetriebnahme wurde der lokalen Bevölkerung als Teil ihrer Arbeitsverpflichtungen ihre Mithilfe beim Verlegen der Kabel ins Kathmandu-Tal abverlangt, der sie sich nur gegen Zahlung einer Gebühr entziehen konnten. Im Gorkhāpatra wurde diese Maßnahme mit einem sehr allgemeinen Fortschrittsargument begründet und den Bewohnern die Erhebung einer Steuer angedroht, wenn sie dem Aufruf nicht folgeleisten sollten:
You are aware that the government has started a project to supply electricity from Pharping to Kathmandu town. Electric supply will make it possible for several factories to be started in the town, thereby ensuring its progress in every field. […]. In other countries, the municipality collects taxes for financing water supply, sanitation, roads, etc. No such taxes have been imposed here. Nor has any tax been imposed on residential sites, while water supply and sewerage facilities are free. […]. If, therefore, you do not provide porterage services in the present instance, an annual money tax may similarly be imposed. […].
(Gorkhāpatra vom 21. Februar 1911)27
Schließlich konnte nur wenige Jahrzehnte nachdem in Nordamerika und Europa die ersten Wasserkraftwerke gebaut wurden, im Mai 1911 auch die Chandra Jyoti Electric Power Station in Betrieb genommen werden (s. Abb. 7.8).
Der erzeugte Strom wurde aber nicht, wie von der Regierung angekündigt, zum Betreiben von Fabriken im Kathmandu-Tal genutzt, um den Wohlstand aller Menschen im Gorkhā-Staat zu vermehren. Stattdessen wurden damit fast ausschließlich die opulenten Palastbauten der Śamśera Rāṇās und die ausgebauten Prachtalleen in Kathmandu ausgeleuchtet. In direkter Umgebung des neuen Wasserkraftwerks wurden außerdem mehrere kleine Gästehäuser errichtet, in denen die geladenen Gäste aus Europa nächtigen konnten, wenn sie zur Besichtigung nach Pharpiñ gebracht wurden, um von den Śamśera Rāṇās mit der neuesten zivilisatorischen Errungenschaft beeindruckt zu werden. Ab 1915 wurde mit dem Strom die erste Telefonleitung zwischen Kathmandu und der Stadt Birgunj, an der Grenze zum Territorium des British Rajs betrieben. Damit wurde die Kommunikation zwischen den Śamśera Rāṇās und der britischen Kolonialverwaltung vereinfacht und intensiviert, denn man war fortan nicht mehr auf den deutlich langwierigen Schriftverkehr angewiesen.
Die aus eigener Stromerzeugung beleuchteten Palastanlagen mochten recht eindrucksvoll auf die europäischen Gäste gewirkt haben. Denn der deutlich sichtbaren Wandel im Kathmandu-Tal stellte ihre noch immer vorherrschende Wahrnehmung und konstruierte Differenz zwischen einem „dynamischen Europa“ und einem „unveränderlichen Asien“ infrage. So versuchte beispielsweise Perceval Landon sein Erstaunen über den Kontrast zwischen dem scheinbar seit Jahrhunderten unveränderten Leben im Kathmandu-Tal und dem Aufkommen moderner Technologien in Worte zu fassen und das Differenzkonstrukt aufrecht zu erhalten, indem er schrieb:
In some ways […] Kathmandu remains today much as it was in the seventh century. Modern improvements have been introduced with a lavish hand and today electricity illuminates this quiet sanctuary of the life of an older day. But the Valley of Nepal at heart remains, and one trusts will always remain, unchanged and unchangeable.
(Perceval Landon 1928: 182)
Doch die Bevölkerung profitierte in keiner Weise vom Import dieser Technologien. Deshalb trugen sie zwar kurzfristig zur Erhöhung der Legitimität der Śamśera Rāṇās auf der horizontalen Ebene bei, denn gegenüber den britischen Beamten und europäischen Gästen konnte man sich als „Agenten der Zivilisation“ im sonst so abgelegenen Himalaya darstellen. Auf der vertikalen Ebene aber wirkten sie sich langfristig delegitimierend aus, weil die einfachen Menschen sich vom rasant wachsenden und offen zur Schau gestellten Wohlstand einer entrückten Elite zunehmend ausgeschlossen fühlten.
Dieses Gefühl wurde durch weitere Infrastrukturmaßnahmen zusätzlich verstärkt. Als sich ab 1885 die Beziehungen der Śamśera Rāṇās zum British Raj kontinuierlich verbesserten und im Zuge des Austauschs von jungen Rekruten für die Gurkha Rifles aus dem Hügelland des Himalaya für Luxusgüter, Baumaterialen und Waffen aus Europa sich auch die Handelsbeziehungen intensivierten, wurde mit der Suche nach alternativen Transporttechnologien begonnen. Schon Vīra Śamśera hatte in den 1890er Jahren erste Versuche unternommen mit Hilfe britischer Ingenieure eine Seilbahn ins Kathmandu-Tal bauen zu lassen. Aber aufgrund der noch nicht ausreichend ausgereiften Technologie für die besondere Schwierigkeit des Terrains im Himalaya kam dieses Projekt zunächst nicht zustande. Candra Śamśera aber griff diese Idee gleich zu Beginn seiner Herrschaft auf und bat die britische Kolonialverwaltung um Unterstützung beim Ausbau der Transportinfrastruktur zwischen dem britischen Territorium und Kathmandu.28
Die topografischen Gegebenheiten stellten auch für die britischen Ingenieure eine große Herausforderung dar und im Laufe der Jahre wurden verschiedene Pläne erarbeitet. Schließlich entschied sich die Rāṇā-Regierung unter Candra Śamśera für eine Kombination aus Straßen, Eisenbahn und Seilbahn.29 Den Straßen- und Brückenbau hatte die Rāṇā-Regierung auch ohne die Unterstützung von britischer Seite schon in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorantreiben können. Aber bei der Errichtung einer Eisenbahnverbindung und einer Seilbahn war man auch weiterhin auf die Expertise der Briten und den Import von Baumaterial und Maschinen angewiesen. Als 1925 der Direktor des Railway Boards, L. E. Hopkins eine Untersuchung der Route von der Grenze des britischen Territoriums bis nach Kathmandu vornahm, um die Umsetzbarkeit einer Eisenbahnverbindung zwischen der Grenzstadt Raxaul und der Kleinstadt Dhursiñ am Beginn des Hügellandes zu prüfen, war er mitunter überrascht von den bereits durchgeführten baulichen Maßnahmen und deren Qualität.30 Seinem Bericht zufolge war zu diesem Zeitpunkt mit der Unterstützung eines britischen Ingenieurs schon eine Seilbahn von Dhursiñ über 22 Kilometer bis nach Kathmandu fertiggestellt und in Betrieb genommen worden, die mit dem Strom aus dem Wasserkraftwerk in Pharpiñ betrieben wurde und bis zu acht Tonnen Material pro Stunde befördern konnte (s. Abb. 7.9).31
Den Empfehlungen des Berichts von Hopkins weitestgehend folgend, wurde die Eisenbahnstrecke von Raxaul bis nach Amlekhganj, in das neu gegründete Dorf der kurz zuvor befreiten Sklaven, gebaut und 1927 feierlich eröffnet (s. Abb. 7.10). Damit war der Ausbau der Transportwege zwischen Kathmandu und dem britischen Territorium vervollständigt. Diese Verbindung ermöglichte die weitere Intensivierung der Handelsbeziehungen und es konnten größere Mengen Waffen, Baumaterialien und Luxusgüter nach Kathmandu importiert werden. Für die Bevölkerung brachte aber auch diese Infrastrukturmaßnahme wieder keinen nennenswerten Verbesserungen ihres Lebensstandards mit sich. Stattdessen profitierten in erster Linie wieder die Śamśera Rāṇās, die immer mehr Luxusgüter aus aller Welt importieren konnten, um sich immer weiter an den Lebensstil der herrschenden Eliten Europas anpassen und als Vorreiter des zivilisatorischen Fortschritts inszenieren zu können.
Die Instrumentalisierung der Infrastrukturprojekte zur Herrschaftslegitimation wird in der Rede von Kiśore Narasiṃha Rāṇā zur Eröffnung des Militärkrankenhauses besonders deutlich:
In no period of my long service extending over 31 years and covering 2 regimes, or for the matter of that in no period of our history has such an amount of work of such importance, magnitude and utility and costing so much money, been taken in hand at one and the same time. There are Canals, Roads, Rail and Ropeways, Hospitals and other civil buildings, Bridges, Waterworks, Electric Installations, Tube Wells and Municipal Undertakings going on here, there and everywhere. This shows the activity of Your Highness’s public spirit, a spirit wide-awake to the opportunity to bring Nepal in line with the more advanced nations in every way. The well-being of the country and her people has been Your Highness’s first and paramount consideration, and it should be a cause for real gratification to any Administrator to have achieved so much in such a relatively short time.
(Rede von Kiśore Narasiṃha Rāṇā 1926: 8-9)32

7.3 Die Ambivalenz der materiellen Selbstzivilisierung

In diesem Kapitel ist herausgearbeitet worden, wie die Eliten der Gorkhālī versuchten ihre Herrschaftsansprüche mittels Technologie, wie Fotografie und Infrastrukturprojekte zu legitimieren. Ein Rückblick auf die Malla-Könige des Kathmandu-Tals im 17. Jahrhundert hat gezeigt, dass diese Technologien wie den Straßenbau oder die Wasserversorgung als Symbole ihrer Herrschaft zu nutzen wussten. Als das gesamteurasische Mächtegleichgewicht zur Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig zu zerbrechen drohte, sich die globale Hegemonie Europas auf ihren Zenit zubewegte und die Briten zur neuen Regionalmacht Südasien aufstiegen, lässt sich nach der Machtübernahme der Rāṇās eine Fortsetzung des strategischen Vorgehens der Śāhas und Thāpās hinsichtlich des Ausbaus von Straßen, Brücken und dem hulāka-System beobachten.
Insbesondere die Śamśera Rāṇās verstanden es, sich durch die gezielte Aneignung von Technologien, die von den Europäern als Indikatoren von Zivilisiertheit verstanden wurden, von der eigenen Bevölkerung abzugrenzen und sich gleichzeitig den europäischen Eliten anzugleichen, wie anhand der Beispiele von Fotografie, Methoden des Straßen- und Brückenbaus, des Uhrenturms und Wasserkraftwerks, der Seilbahn- und Eisenbahnverbindung aufgezeigt werden konnte. Durch diese Instrumentalisierung von Technologien konnten sich Śamśera Rāṇās als zivilisatorische Vorreiter inszenieren, die den Eliten Europas ebenbürtig waren und den Menschen im abgelegenen Himalaya Zugang zu den Errungenschaften der Moderne verschaffte. Die Technologien waren materielle Zeugnisse, die für alle Welt sichtbar belegten, dass die Eliten des Gorkhā-Staates über das notwendige Wissen und die entsprechenden Fähigkeiten verfügten, die erforderlichen Ressourcen mobilisieren konnten und dadurch auch imstande waren selbstständig und unabhängig große Infrastrukturprojekte umsetzen zu können. Weil sie die materielle Selbstzivilisierung des eigenen Landes bewerkstelligen konnten, waren sie als Herrschende auch legitimiert. Diese Selbstinszenierung trug maßgeblich dazu bei, dass die Rāṇā-Familie trotz ihres zunehmend autokratischen Herrschaftsstils bis in die 1930er Jahre unangefochtene an der Macht blieb und zugleich die Souveränität und Unabhängigkeit des Gorkhā-Staates sicherte.
Als sich aber im Zuge globaler Dekolonisierungsprozesse und dem Erstarken der nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung im British Raj auch eine politische Opposition im und außerhalb des Gorkhā-Staates zu formieren begann, wurde die Ambivalenz dieser Legitimationsstrategie der materiellen Selbstzivilisierung deutlich. Die oppositionellen Gruppierungen sahen die angeeigneten Technologien und Infrastrukturprojekte nicht länger als Ausdruck von zivilisatorischer Überlegenheit, sondern verstanden sie als Symbol für die Dekadenz einer entrückten Elite und ihrer despotischen Willkürherrschaft. Sie bemerkten, dass die einfachen Menschen eigentlich kaum profitierten. Stattdessen mehrten diese nur immer weiter den öffentlich zur Schau gestellten Wohlstand der Eliten und erhöhten damit die Diskrepanz zur beherrschten Bevölkerung. In der Konsequenz trugen die Infrastrukturprojekte und importierten Technologien langfristig zur Delegitimierung Śamśera Rāṇās und damit auch zum endgültigen Ende ihrer Herrschaft bei.
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Fußnoten
1
Siehe beispielsweise MacLeod and Kumar (1995), Arnold, D. (2000), Fischer-Tiné und Mann (2004) sowie Mann und Watt (2011).
 
2
Siehe Sever (1993), Liechty (1997, 2015, 2017), Onta (1998), Amātya (2004), Sharma [Kandel] (2009), Uprety, S. (2011) und Gyawali (2017, 2018).
 
3
Siehe Shrestha, P.P. (1986: vii) und Sever (1993: 81, 88).
 
4
Vgl. Onta (1998: 186–187).
 
5
Siehe The People of India (1868, Vol. II: Fotografien 58–77).
 
6
Zur Arbeit von CC Taylor siehe Losty (1992).
 
7
Einige der Fotos Fotografien sind abgedruckt in Rana, P.J.B. (1980 [1909]: 57, 169, 200, 240, 281, 284, 300) und in Rana, P.S.J.B. (1998). Einige digitalisierte Kopien der Fotografien sind online als Teil des Endangered Archives Programme der British Library zugänglich unter: https://​eap.​bl.​uk/​ [letzter Zugriff: 11.01.2024].
Zur Arbeit der britischen Fotografen siehe Heide (1997: 28–30) und Onta (1998: 188–191).
 
8
Vgl. Heide (1997: 17–31) und Onta (1998: 191–192).
 
9
Allein die Sammlung von Dirghamān Chitrakār und seinem Sohn Ganeśamān Chitrakār umfasst mehr als 8000 Fotos und Glasplattennegative, von denen digitale Kopien online als Teil des Endangered Archives Programme der British Library zugänglich sind unter: https://​eap.​bl.​uk/​project/​EAP838 [letzter Zugriff: 11.01.2024].
 
10
Vgl. Hughes 2013.
 
11
Vgl. Hoffmeister (1847: 152 ff.) und Kutzner (1857: 188 ff.).
 
12
Vgl. Liechty (2015).
 
13
Vgl. Uprety (2011: 38) und Mandala (2019: 8–9).
 
14
Vgl. Slusser (1982: 154, 156), Becker-Rittersbach (1982, 1990, 1995) und Michaels (2018: 375–379).
 
15
Vgl. Slusser (1982: 168), Gopālarājavaṃśāvalī Folio 31 sowie Vajrācārya und Malla (1985: 134).
 
16
Vgl. Slusser (1982: 155).
 
17
Vgl. Michaels (2018: 162).
 
18
Vgl. Stiller (1976: 34–37).
 
19
Vgl. Regmi (1971: 104–105), Stiller (1976: 52–54), Regmi Research Series 4.4 (1972: 69–70), Regmi Research Series 11.5 (1979a: 78–80) und Regmi Research Series 14.3–4 (1982: 50–53).
 
20
Vgl. Michaels (2018: 163).
 
21
Vgl. Buchanan-Hamilton (1811: 27, 158–159, 199, 274).
 
22
Vgl. Kirkpatrick (1811: 135, 289–294, 304–319).
 
23
Zum Besuch des Prinzen Waldemar von Preußen 1845 siehe auch Joshi, H.R und Joshi, I. (1997).
 
24
Vgl. Wright (1877: 6–7).
 
25
Vgl. Whelpton (2005a: 78–79) und Michaels (2018: 400).
 
26
Foreign Department (1908): “Water-Power Scheme for Nepal”. Signatur: Progs. No. 45–47. National Archives of India.
 
27
In Übersetzung aus Regmi Research Series 11.9 (1979d: 139–140).
 
28
Foreign Department (1902): “Proposed Erection of a Rope Tramway between Bhimphedi and Thankot in Nepal”. Signatur: Progs. Nos. 6–9. National Archives of India.
 
29
Foreign and Political Department (1925): “Proposed Construction by the Nepal Government of a Light Railway from Raxaul into Nepal”. Signatur: Progs. Nos. 1–31. National Archives of India.
 
30
Vgl. Hopkins (1925).
 
31
Vgl. Sever (1993: 283) und Whelpton (2005a: 78).
 
32
Foreign and Political Department (1926): “Opening of a Military Hospital and Initiation of a Campaign Against Tuberculosis in Nepal”. Signatur: Progs. Nos. 514-X. National Archives of India, S. 5–9.
 
Metadaten
Titel
Technologie zur Herrschaftslegitimation
verfasst von
Stefan Lüder
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-44422-8_7