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2007 | Buch

Zeit des Labyrinths

beobachten nachdenken feststellen 1956–2006

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Über dieses Buch

Der wahre Architekturkritiker, hat Ulrich Conrads einmal gesagt, kenne nur einen Maßstab, den Maßstab 1:1. Der Kritiker lasse sich zwar im Vorhinein von glänzend gesehenen Fotos informieren, jedoch nicht täuschen, denn er arbeite an Ort und Stelle. Er berichte nur über Bauten, die er selbst aus wechselnden Distanzen gesehen, mehrmals umschritten und all ihre Räume und Raumfolgen von den Kellern bis unters Dach in Ruhe begangen hat.

Eine notwendige Ergänzung: Der wahre Architekturkritiker beschränkt sich nicht auf sein Ressort. Ulrich Conrads hat seine Texte stets als Einmischung in die öffentliche Debatte über Architektur und Stadt verstanden. Als kritisches Reden über das, was vielfach als nicht zur Sache gehörend beschwiegen wird.

Der Band versammelt Artikel, Aufsätze, Vorträge und Briefe Ulrich Conrads aus den Jahren 1956-2006 zu zeitgenössischen Gebäuden, wie der Kirche Le Corbusiers in Ronchamp und bedeutenden Architekten der Zeit, wie beispielsweise Hans Scharoun.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Notiz
Auszug
Der Verfasser der in diesem Band enthaltenen Texte ist fein heraus: Der Prolog ist längst geschrieben. Sein Schlusswort als Prolog war bereits Vorrede einer besonderen Zusammenkunft. Späte Äußerungen sind ja immer die jüngsten. Und wenn jemand sagt, wer er ist, sollte er auch sagen, woher er kommt, wo er steht, und wo er hingeht.
Ein Schlusswort als Prolog 2002
Auszug
Architektur und Städtebau ZUR SPRACHE BRINGEN — „Eine Kritik der Architekturkritik“: treffende Namensgebung einer Konferenz, zu der der Lehrstuhl Theorie der Architektur an der Brandenburgischen Technischen Universität namhafte Redakteure, Historiker, Architekten und Fachkollegen nach Cottbus einlud. Das hieß erst einmal nach Branitz ins Pückler-Schloss, wo ich — als der mit dieser Veranstaltung Geehrte — im Grünen Salon mit einem „Schlusswort als Prolog“ meine Auffassung (und Praxis!) von Architekturkritik vorwegnahm. Viel lieber hätte ich aus Lichtenbergs Sudelbüchern und aus Novalis’ Fragmenten vorgelesen. Denn wenn man die von Goethe so genannte „anschauende Urteilskraft“ als Vorbedingung von Kritik begreift, gilt es, zuallererst die Sprache der Dinge und Wesen zu lernen. Dann dreht sich alle oberflächliche Wirklichkeit wie ein Handschuh um und gibt die eingesperrte Hand frei, alles wie zum ersten Mal zu berühren (Juarrez): Mein Ideal. — Zu guter Letzt haben die Zuhörer mich listig zu einem „Prolog als Schlusswort“ aufgefordert. So musste ich zum Ende der Konferenz mit Zustimmung wohl aller Referenten behaupten, dass der Architekturkritik über bewundernde affirmative Berichterstattung offenbar die Zähne ausgefallen sind. Und wenn es eine Perspektive gebe, dann die, dass wir aufs Neue zu Verbindlichkeiten gelangen. Den vorab versprochenen Schluss-Haiku möchte ich auch hier dem Leser nicht vorenthalten. Wer aus diesem Dreizeiler auf Resignation schließt, irrt:
Nacht. Ich kaue den gefrorenen Pinsel mit meinem letzten Zahn.
Ronchamp oder die „Travestie der Unschuld“ 1956
Auszug
1953 hatten wir Le Corbusier, Gropius, Roth, Giedion und anderen auf dem CIAM-Kongress in Aix-en-Provence zu Füßen gesessen, wörtlich: auf dem Rasen. Um zu hören, dass in „Grilles“ das Heil des Städtebaus im Hinblick auf das Wohnen der Vielen liege. Die Kerntruppe der Kongresse für Modernes Bauen — Congrès Internationaux d’Architecture Moderne — war zu der Überzeugung gelangt, dass das graphische Verfahren, die angetroffenen Zustände und die Forderungen der Besserung in ein Gitter einzutragen, das Heilmittel gegen den Niedergang, die Verslumung innerstädtischer Wohnquartiere sei. Nicht zuletzt war es Le Corbusier, der mit seiner eminenten rhetorischen Begabung für diese Versimpelung des Denkens über Wesenszüge der großen Stadt Proselyten zu machen suchte. Vergebens. Es gab einen Aufstand unter den jüngeren Kongressgästen. Sie sahen sich Rastern konfrontiert, von Rastern umgeben, sollten in Rastern denken, in Rastern sprechen und womöglich auch bauen. Die Altmeister auf dem Podium verstanden es, den Kongress so abzubrechen, dass die Widerrede der Jungen nicht mit ins offizielle Protokoll aufgenommen werden musste. Fast auf den Tag zwei Jahre später, genau am 25. Juni 1955, überraschte uns Le Corbusier, der „eingeschworene Rationalist“, mit der Gnadenkapelle Notre-Dame-du-Haut über Ronchamp. War da Sarkasmus angesagt? „Nun schreiben Sie mal was Schönes!“ ließ mir Rudolf Schwarz bestellen. Ich habe ihn etwas getröstet.
Über Ordnung und Unordnung 1983
Auszug
Wollte ich eine Gelegenheit nutzen, mich ein weiteres Mal über Aspekte des gegenwärtigen Bauens auszulassen, würde ich Überlegungen zum Begriff Beliebigkeit darlegen. Im Mai 1983 schon beschäftigte die Münchner Akademie der Schönen Künste sich und uns Referenten mit der Frage „Willkür oder neuer Konsens?“. Man hatte — gerade — die „Postmoderne“ im Blick. Die Nachkriegs-Idee vom Leichtbau war abgetan. Die vaterlose Gesellschaft (Mitscherlich) war mit dieser an Improvisation grenzenden Leichtigkeit nicht zurechtgekommen. Man wollte wohl Freiheit gewinnen und genießen, aber doch lieber mit dem Rücken an der Wand. Das hieß Rückkehr zum Festen, zum Formelhaften, zum scheinbar Verlässlichen. Das Neue war diesmal ein erneuter Griff ins architektonische Repertoire, was im Lateinischen treffend „Fundstätte“ heißt. Architektur als ein willkürliches Aufklauben von Versatzstücken, sehr vereinfachend gesagt. Nun ist „Willkür“, so haben wir mittlerweile erfahren, nur eine der Facetten von Beliebigkeit. Ebenso wie Willkür lässt sich auch Austauschbarkeit und Ubiquität unter diesen Begriff bringen. Und auch das Nicht-mehr-unterscheidbare, das Leer-gehäuse. So könnte ich fortfahren. Und sei es nur, um deutlich zu machen, dass ein so obskures Planungsobjekt wie der Trampelpfad, dieser „unfeste“ unbefestigte Weg, alles andere ist als ein Produkt von Beliebigkeit. Er gehorcht aufs Engste unserer eigenen psycho-physischen Organisation. Dieses Verbindende, dieses Verbundensein (wieder) zu den verbindlichen Kriterien des Gestaltens zu zählen, hieße Gleichgewicht zurückgewinnen: Gleichgewicht zwischen Verfestigen und Auflösen — Vorbedingung des kommenden, des „sozialen“ Stils.
Eine überfällige Proklamation 1967
Auszug
Ursprünglich hatte dieser — zu Teilen stark gekürzte — Vortrag keine Überschrift. Ich bedankte mich mit ihm beim Bund Deutscher Architekten, BDA, für die Verleihung des Preises für Architekturkritik. Die Überschrift ist also erst für diese Publikation erfunden; und sie ist so programmatisch und ein wenig pathetisch, wie es sich für eine ganz persönliche Auffassung von den Bauaufgaben der Gegenwart gehört. Die Architekten in Stadt und Land, jedenfalls die, die ich im BDA versammelt sah, litten, was den Wohnungsbau betraf, nun schon lange Jahre unter dem mit abstrusen Bestimmungen durchsetzten Regelwerk des so genannten Sozialen Wohnungsbaus. Manche dieser Vorgaben kamen für mein Verständnis sozialen Handelns einem Entwurfs-, ja, Bau-Verbot gleich. So habe ich denn auch die Bezeichnung „sozial“ in Sachen Wohnungsbau stets GROSS geschrieben, damit diese Eigenschaft nicht mit einem Maßgaben- und Finanzierungsmodus verwechselt werde. Damit stand ich zwar nicht allein, konnte es nun aber richtig in einer „Predigt“ unterbringen. Zu meiner Genugtuung hat der Architektenbund wenig später den Mut aufgebracht, das Thema mit der Wanderausstellung „Heimat — deine Häuser“ in die breite Öffentlichkeit zu tragen, obschon damit auch harsche Kritik am eigenen Berufsstand zu üben war. Ich selbst hatte bei dieser Dankrede wieder einmal Bruno Tauts wunderbare Forderung im Sinn: Die Erde eine gute Wohnung!
Die Löwen sind weg! 1960
Auszug
Sicher liegen im mittlerweile digitalisierten Archiv des ehemaligen amerikanischen „Rundfunks im Amerikanischen Sektor“ (RIAS) in Berlin wichtigere Viertelstunden Architektur- und Städtebau-Kritik als diese. Doch es war mein erster Versuch, einbezogen in die wöchentlichen Kulturmagazine des Senders, und das schon unter dem Titel Neues Bauen — in unserer Zeit. 1963 bekam die Reihe einen festen Sendeplatz, alle vier Wochen montags gegen Abend und Wiederholung nach Elf. Und das über zwölf Jahre hin, so freundschaftlich wie kritisch begleitet von Rainer Höynck, dem Verantwortlichen des Ressorts Kulturpolitik, später mit gleicher Sorgfalt von Horst Eifler. In den deutschen Hörfunknetzen hat es Städtebau- und Architekturkritik als feste, regelmäßige Sendung, soweit ich weiß, nie gegeben. Wo das Bauen bloß als Wirtschaftszweig gesehen wird (gesehen werden muss?), hört die öffentliche Liberalität offensichtlich auf. Kritik wird monetär geahndet. — Für mich selbst waren die Sendungen nebenbei eine willkommene Schule fürs Beschreiben: Von dem, was man zu kritisieren oder auch zu loben hatte, mussten die Hörer ja erst einmal eine Vorstellung gewinnen; zumal es einem Teil von ihnen versagt war, sich selbst an Ort und Stelle ein Bild zu verschaffen.
Die wohnliche Stadt — eine konkrete Utopie 1967
Auszug
Das Ideal einer wohnlichen Stadt im Sinn, gerät intensives Nachdenken unweigerlich auf die weiten Felder der Aufklärung. Eine Menge Vernunft muss her. Gemütlich ist man — wie Karl Kraus — selbst. Mittlerweile haben wir jedoch erfahren, dass eine perfekte zivilisatorische Zurichtung der Stadt auch Unwirtlichkeit erzeugen kann. So fand ich es mehr als erstaunlich, dass Alexander Mitscherlichs streitbarer Essay zur „Metaphysik des Komforts“ in Baukunst und Werkform 1954 erst zehn Jahre später, nun allerdings als weit ausgreifendes Pamphlet, Furore machte. Das Perfekte ist eben nicht unbedingt wohnlich, und Wohnlichkeit ist mehr als nur Gemütlichkeit. — Es lag nahe, in Hamburg Heinrich Heine zu zitieren. Seine leidenschaftliche Sachlichkeit geht einher mit der bitteren (oft von Sarkasmus verdeckten) Sehnsucht nach Heimat. Auch für den Aufklärer reimt sich Schmerz auf Herz. Auch der respektlose Adept der Aufklärung ist ein Kind der Romantik. Das Zuhause, das Heimatliche erweist sich als Gegenkraft zur Strapaze des Ausgesetztseins. Damit aber kommen wir zu dem Gleichgewichtszustand, den uns in Sachen des Bauens und Gestaltens Paul Mebes’ Bilderbuch UM 1800 vorführt. Fazit: Die wohnliche Stadt — ein altes Pensum — das Projekt der Aufklärung fortführen, die seelischen Reichtümer Schönheit, Anmut, Geborgenheit mehren.
Impressionen deutscher Städte 1979
Auszug
Die noch junge nationale Stiftung Baukultur hat bisher nur mit guten Reden und punktuellen Förderungen von sich reden gemacht. Da sie aber doch auf eine breite Wirkung hin angelegt ist — was soll sonst ihr Name? —, möchte man die Stiftung zu einem „Rückgriff“ ermuntern: Gegen Ende der siebziger Jahre riskierte der Bundesbauminister im damals eingeschränkten nationalen Rahmen ein beispielhaftes Verfahren. Der Bund formuliert das — wechselnde — Thema eines nationalen Wettbewerbs. 1978/79 zum Beispiel hieß es Stadtgestalt und Denkmalpflege im Städtebau. Die Bundesländer ermitteln in eigenen Durchläufen unter ihren Städten und Gemeinden Sieger und Belobigte, die dann Teilnehmer der nationalen Konkurrenz sind. Der Bund beruft eine etwa zwanzigköpfige Kommission von Obergutachtern, mietet für vier Wochen einen langsamen Bus mit Sperrholztischchen zwischen den Bänken und einer geräumigen Ablage für die vierzig oder fünfzig Wettbewerbs-Unterlagen. Die Papiere werden von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort nach vorn gereicht, damit die Preisrichter wissen, an welchem (ideellen) Stadttor man sie in Kürze begrüßen wird und was für ein Ort sich dahinter, auch hinter dem Stadtbaurat oder dem Stadtbildpfleger, befindet. Es folgen deren Vorträge, es folgt der Rundgang, ergänzt durch unbeobachtetes Ausscheren kritischer Einzelgänger. Im Bus dann — immer zu wenig Zeit! — das schnelle Stimmungsbild, damit später, im Hotel, Entscheidungen notiert werden können, die auch nach Wochen noch Gewicht haben. Denn wer kann vier Wochen lang Haus und Hof und Beruf im Stich lassen?
Mensch und Milieu oder Anmerkungen auf dem Weg von der Wohlfahrt zum Supermarkt 1974
Auszug
Wie Häuser altern auch Stadtteile. Sie werden verbraucht. Zumeist von einer Generation gebaut, werden sie der nächsten zur Heimat; deren Kinder zeigen sich bereits unzufrieden mit ihrem Stadtquartier, ändern und ersetzen; in der vierten Generation läuft es auf Verfall, Absinken, Entleerung und tief greifende Änderung der Sozialstruktur hinaus. Oder auf eine Wiederbelebung, ein Erkennen der besonderen Qualitäten des Überkommenen. Der Stadtteil spielt Phoenix. Diese Folge von Alterungs- oder auch Verjüngungs-Zuständen wird erst recht deutlich, wenn politische Kräfte schicksalhaft Änderungen herbeiführen. So wurde der Berliner Bezirk Kreuzberg durch den Bau der Mauer über Nacht zu einem Randbezirk. Der schnelle Niedergang schien besiegelt, wäre nicht der Name Kreuzberg wie unter einem Vergrößerungsglas zum „nationalen“ Brennpunkt der Auseinandersetzungen über Stadterneuerung geworden. Im Herbst 1974 endlich zog der Bund Deutscher Architekten (BDA) mit seiner Jahrestagung in die drei Jahre zuvor zur besseren Nutzung umgebaute Martha-Kirche im alten SO 36. Klaus Duntze, dem Pfarrer der Gemeinde, und Hardt-Waltherr Hämer kommt das Verdienst zu, ein neues, geschärftes Bewusstsein für das „Milieu“ geweckt zu haben, für dessen unersetzliche Besonderheiten, Eigenschaften und Lebenswerte. Es war kaum überraschend, dass im wiedervereinigten Berlin die Milieu-Rolle des vor dem Abriss bewahrten Kreuzberg auf das in einen desolaten Zustand geratene Quartier Prenzlauer Berg überging. Fast so, als ob die mutigen und zähen Bürgerinitiativen im Kreuzberg der sechziger und siebziger Jahre Modell gestanden hätten.
Krise im Sakralbau? 1969
Auszug
Dass dieser Vortrag hier nachzulesen ist, verdankt er dem Abriss eines Gotteshauses; und nicht etwa 1969, sondern eben jetzt: im Jahr 2005. Ein so genannter Projektentwickler räumte mit Zustimmung des Berliner Generalvikariats und Genehmigung des für Berlin-Gatow zuständigen Bezirksamts Rudolf Schwarz’ letzten Kirchenbau (St. Rafael, 1965) ab, ehe sich öffentliche Einreden formieren und formulieren konnten. Wie zu vernehmen, geschieht Gleiches auch an anderen Orten. Die Christenheit rüstet offenbar ab, um an mehr „marktgängigen“ Orten neue Kirchbauten zu errichten, darunter zweifellos auch sehr gute. Ohne Vielzweckraum und Billardtisch, Gymnastikmatten und Puppenhaus, wie es 1969 intendiert war, um das Gemeindeleben zu beleben. Ich nutzte die mir für den Evangelischen Kirchenbautag in Darmstadt aufgetragene Rede, den Pfarrern, Dienern und Architekten der Kirche unsere letzten scheinbar leeren, profanen Zweck enthobenen reinen Räume — eben die Kirchenräume — als Erfüllung architektonischen Denkens zu preisen: Damit das Geheimnis erhalten bleibe, schweigen bis in die Stille. (André Jolivet)
Neuer Begriff Neues Bauen. Stimmen aus der „Frühlicht“-Zeit der Moderne 1994
Auszug
Als Hans-Günther Sperlich und ich im Frühjahr 1957 an dem „Erinnerungsbuch“ Phantastische Architektur arbeiteten, waren wir uns beide einig: Dieses Buch hätte Adolf Behne schreiben müssen. Er steht nach dem ersten Großen Krieg, selbst außerordentlich engagiert und dennoch ebenso kritisch, mitten in der Bewegung, die in der Novembergruppe, im Arbeitsrat für Kunst, in dem Gläserne Kette benannten Architekten-Briefwechsel und in Bruno Tauts „Frühlicht“-Heften ein neues Bauen heraufzuführen versuchte. Und auch später, im Baubetrieb der zwanziger Jahre, ist Behne der unentwegte Mitstreiter und zugleich der kritische Wortführer des Kommenden, des Neuen. Er sieht auch die Entwicklungen abseits des Bauhauses. Das er politisch bis aufs Messer verteidigt, ohne doch seine Kritik an der Institution selbst hintanzustellen. Kurz, Behne lebte uns die Liberalität vor, die wir in der Architekturdiskussion der fünfziger Jahre schmerzlich vermissten. Kräftiger als wir hat sicher Rudolf Schwarz mit seinem Pamphlet wider den „Alleinvertretungsanspruch“ des Bauhauses die Fronten geklärt. (Nachzuprüfen in Band 100 dieser Reihe.) Ich verdanke Adolf Behne — er starb schon kurz nach dem letzten Krieg — den Zugang zu den zwanziger Jahren; ich verdanke ihn ebenso seiner Frau, Elfriede Behne, die mich zu Aenne Scharoun und Hannah Hoech begleitete. Direkter, dichter konnte man mit den legendären zwanziger Jahren nicht in Berührung kommen. Doch gar nicht weit hergeholt: Wenn ich an Adolf Behnes Schriften Die Wiederkehr der Kunst oder Der moderne Zweckbau erinnere, denke ich gleich auch an Erich Mendelsohn. Sie beide waren zu ihrer Zeit die Weitsichtigen.
Wandlung vom Menschlichen her. Hans Scharoun zum Hundertsten 1993
Auszug
Über Scharoun habe ich öfter geschrieben als über andere Architekten. In Berlin lag das nahe; es gab dort keinen vergleichbar bedeutenden Architekten. Indessen, als ich nach Berlin kam, 1957, gab es von ihm hier noch keinen Neubau von größerem Belang. Die Erweiterung der Siedlung Charlottenburg Nord war nur wenig Anreiz, wenn ich das großartige Entree, darf man wohl sagen, seiner Planung zur Siemensstadt von 1929 in Betracht zog. Noch in Darmstadt, hatte ich Scharoun mit seinem preisgekrönten Wettbewerbsentwurf für das Staatstheater Kassel scheitern sehen: Das mit der Ausführung betraute hessische Wohnbau-Unternehmen konnte, vereinfacht gesagt, Scharouns Planzeichnungen nicht lesen. Dem Bau des Konzerthauses der Berliner Philharmoniker wäre fast Ähnliches widerfahren: Die Behörde kam mit der Statik nicht zurecht. Und noch heute höre ich einen leitenden Baudirektor ausrufen, so lange er im Amt sei, werde dieses Projekt nicht gebaut. Es wurde dennoch gebaut — dank Herbert von Karajan und des — für dieses eine Mal — geschlossenen Engagements der Medien. Doch Scharouns Wirken in Berlin ist eine Geschichte für sich. Ich selbst, für meine Person, habe von Scharoun viel gelernt. So zum Beispiel, dass die Energie für neun normale Treppenstufen schon in den Muskeln drinsitzt; und dass man sehr wohl nach Norden wohnen kann, wenn nur die Fenster zur besonnten Landschaft groß genug entworfen sind; dass aber Kleinkinder und Schulanfänger der Sonne bedürfen, sozusagen mütterlich in einen Sonnennebel eingehüllt sein wollen. Derlei erfuhr man in Architektenkreisen damals sonst nirgends, es sei denn von Hugo Kückelhaus, dem zuständigen Guru für Sinnesfreuden und Sinnesleiden.
Öffentlich planen — eine schöne Fiktion 1977
Auszug
Planungen verschweigen ist dem Niederreißen und Abräumen von Bauten verschwistert. Und zwar nicht nur in dem Sinn, dass das Geplante möglicherweise das Beseitigte ersetzen wird. Es lässt sich auch behaupten, dass die Stadt — ich personifiziere — im einen wie im anderen Zustand ohne Bewusstsein ist. Das Geplante ist noch ganz im Zustand eines Nicht-Vorzustellenden. Das Abgeräumte ist schneller, als man denkt, dem Vergessen anheim gefallen. Das hat mich zu der Feststellung gebracht, dass die Stadt als ein sich änderndes Wesen Vergangenes, Abgelebtes je schneller vergisst, je langsamer sie — manipuliert oder nicht — Zukünftiges ins Auge zu fassen vermag. Und fast jede Stadt ist ungeheuer vergesslich. Sich das Neue, das Kommende vorzustellen, fällt leichter, als nach ein, zwei Jahren den ehemaligen Zustand dieses Ortes ins Bild-Gedächtnis zu rufen. Schon melden sich ob des Zitats Zweifel an seiner Richtigkeit. Doch um diesen (und den nachstehenden) Überlegungen noch einen leichten Drall nach Berlin zu geben, wo man über einer unbedingt plötzlich sechsspurig auszubauenden Hauptverkehrsstraße ganz vergaß, dass man hier ursprünglich ein Kulturforum hatte bauen wollen — um also auf ein Pläne-Verschweigen anderer Art zu kommen, eine wahre Begebenheit; und nicht einmal eine anekdotische: Die Philharmonie war fertig, Karajan hatte schon zweimal die Neunte aufgeführt, das erste Mal für die Bauarbeiter. Wir wollten das Bauwerk, allen anderen voran, gleich ausführlich veröffentlichen. Aber Scharoun bedauerte. Er hatte keinen einzigen stimmenden Grundriss, immer nur räumliche Abwicklungen.
Berlin Herbst 1961 ∣ Berlin Herbst 1987
Auszug
Die Bauwelt, müssen Sie wissen, ist immer eine ostelbische Zeitschrift gewesen, verriet mir Frederick Ullstein, einer der Urenkel des Ullstein-Gründers, als er mich 1957 nach Berlin holte. Nun sehen Sie mal zu. Das tat ich und sah nunmehr eine Berliner Zeitschrift, deren erst einmal schmale Auflage mit den Versorgungszügen der Westalliierten in die Bundesrepublik gebracht werden musste, während wir in den Zweiten Deutschen Staat weiterhin 44 Freiexemplare schickten. Doch auch dies nur so lange, bis wir auf Umwegen erfuhren, dass die Empfänger sich wegen dieser „West-Kontakte“ gefährdet fühlten. Und an den Hochschulen würden die Hefte sowieso im Giftschrank landen. Und dann war die Bauwelt vom 13. August 1961 an plötzlich nur noch eine Dreiviertel-Berlinerin und in der DDR verboten. Dies nicht etwa expressis verbis, sondern die Bauwelt war einfach in der DDRPostzeitungsliste nicht aufgeführt. Das bedeutete: Bezug unmöglich und auch nicht erlaubt. Das naive Mitnehmen über die Grenze kostete 30 bis 50 Mark West. Unter solchen Umständen war es eigentlich selbstverständlich, dass unsere Versuche, mit den Kollegen von der Deutschen Architektur, herausgegeben vom BDA-Ost, zu einem Austausch fachlicher Informationen oder gar Fotos zu kommen, scheitern mußten. Selbst der Vorschlag eines Treffens an neutralem Ort blieb ohne Antwort. Auf den Bau der Berliner Mauer reagierte die Bauwelt-Redaktion mit einem gut gemeinten stolzen „Berlin-in-Europa“-Heft. Ich aber irrte in der feuilletonistisch verpackten Annahme, dass selbst ein jahrzehntelanger trennender Schnitt durch Berlin dem Stadt-Ganzen und seinen Bewohnern nichts anhaben könne.
Wie sehen Bauprodukte aus, die der Architekt sich wünscht? 1985
Auszug
Auf den Baustoff kommt es an. Natürlich. Dann aber vor allem darauf, was man daraus macht. So lautet denn auch der Werbeslogan der deutschen Zement und Beton-Industrie. Ungeachtet dessen wurden die Wetterseiten und Brand-mauern, die Scheunen und Schuppen in unseren Dörfern, Klein- und Altstädten jahrelang mit Asbestzementplatten im praktischen Format 30 × 60 aufs Hässlichste vernagelt. Das abgestumpfte Auge der Öffentlichkeit hat es nur lange Zeit nicht wahrnehmen wollen. War doch das Verfahren für Hersteller und Anwender so ökonomisch wie zweckmäßig. Wir Kritiker aber mutierten zu Baustoffkundigen und liefen zusammen mit einer stattlichen Truppe von Architekten Sturm gegen die weitere Verhunzung der Dorf- und Stadtbilder. Wir fragten: Ist der Hersteller eines Bauprodukts auch für dessen Gestaltungszwänge, dessen ästhetische Eigenschaften verantwortlich? Vorausgesetzt, das Produkt taugt überhaupt für seinen Zweck. Einer der Hersteller, die Eternit AG, sah ihre Produkte in Verruf kommen, hörte sich die Vorwürfe aufmerksam an und lud einige besonders missgestimmte Kritiker ein, zusammen mit eigenen versierten Leuten eine Serie kleinformatiger Schindeln zu entwickeln: durchgefärbtes Material; in sechs universell brauchbaren, sich in jede Umgebung einfügenden Farben. Dieses erste Ergebnis der Beratung und Produktentwicklung fiel von einem Tag auf den anderen der plötzlich aufgedeckten Gefährlichkeit der Asbestfasern zum Opfer. Die Hersteller von Asbestzement-Produkten standen am Rande des Ruins. — Die vorhin gestellte Frage aber bleibt als Offene Frage unvermindert aktuell.
Keine Bildung ohne Vorbildung 1997
Auszug
Wenn angehende Architekturstudenten, zu ihrer Motivation befragt, erklären, die Namen Le Corbusier und Mies van der Rohe nicht zu kennen, auch nie gehört zu haben, so hatten sie zuvor entweder einen engstirnigen Kunstlehrer vorm Abitur oder waren in dörflicher Abgeschiedenheit von einschlägiger Literatur gänzlich fern. Solche Antworten lassen zwar staunen, doch Wissen kann sich jeder jederzeit verschaffen, und Wissenslücken hindern — vorerst — nicht, etwa eine viel versprechende Entwurfsbegabung zu zeigen. Eigentlich schlimm aber ist die lässige Bemerkung eines Studienanfängers, auf Architektur wäre es ihm bislang gar nicht so sehr angekommen. Hier steckt die Beliebigkeit ihr eitel gestriegeltes Haupt schon in die Gänge der Ausbildung. Um diesem fatalen Prozess vorzubeugen — nicht wissen, was man tut, und ziellos die Gelegenheiten wahrnehmen —, wäre mein Vorschlag eines „außerarchitektonischen“ Vor-Semesters nicht von der Hand zu weisen. Ich trug diese Utopie Studenten der Braunschweiger Technischen Universität vor, als gerade, November 1997, ein Vorlesungsstreik angesagt war. Man forderte — wieder einmal — ein selbst bestimmtes, gleichwohl sozial verantwortetes Studium und eine weit gehende Öffnung der Hochschule. Einige Vorlesungen wurden indes nicht bestreikt und auch mein lange festgelegter Vortrag nicht. Sein Inhalt bewegte mich indessen schon sehr viel länger. Ich hatte dabei nicht so sehr das Studium, sondern die Berufspraxis der Architekten im Blick, deren künstlerische Haltung und soziale Einstellung, wie sie sich zeigten. Oder eben nicht.
Anonymes Bauen auf Kreta 2001
Auszug
Die Freie Akademie der Künste Hamburg forderte 2001 die Mitglieder der Abteilung Baukunst auf, in einer Ausstellung darzulegen, wie sie zur Architektur gekommen seien. Ich Nicht-Architekt fragte mich, wie ich das wohl vor Augen bringen könnte. Denn mein Zugang war ja anfänglich ganz einfach nur äußerlich gewesen: Im Frühjahr 1952 gab mir mein väterlicher Freund Rudolf Steinbach, Architekt und homme de lettres, den Hinweis, dass für Baukunst und Werkform ein Redakteur gesucht werde. Wiewohl ohne Ahnung von neuer Architektur, bewarb ich mich; und, o Wunder, Alfons Leitl, der Herausgeber, nahm mich. Bis dahin hatte ich mich, was das Bauen und Bauten betraf, intensiv nur mit den Kirchen der Romanik in Frankreich befasst; und auch dann weniger mit deren durchweg anonymer Architektur, sondern fasziniert vom speculum mundi der Bauskulptur. So war es wie eine Rückkehr ohne Rückkehr, wenn ich in Hamburg — und später in Cottbus — zeigte, was ich vom Bauen der im Untergang befindlichen Bauernkultur Kretas, einer anderen Architektur ohne Architekten, abzulesen lernte.
Zeit des Labyrinths 1980
Auszug
Diese Festrede zu Schinkels Geburtstag am 13. März war gerade eben vier Worte alt, als mich lang anhaltender Beifall überraschte. Ich hatte mit dem Ausruf des Theseus: Das hört mir auf! Begonnen. Die Zuhörer nahmen das als Aperçu zur aktuellen Berliner Architekturdebatte. Vor mir hatte nämlich der damalige Senatsbaudirektor Hans Christian Müller gesprochen, mit dessen Amtsführung die Berliner Architektenschaft mehr als unzufrieden war. Solche Zwietracht war indessen nicht neu. Das Amt des Senatsbaudirektors galt von Anfang an als inoffizielle Vertretung der Freien Architekten beim Bausenat, der jeweilige Amtsinhaber als selbstloser, unbestechlicher Vor-Kämpfer für deren faire Behandlung. Man erwartete — damals, 1980 — weder formale Direktiven von oben noch ungerechtfertigte Dispense um des schnöden Mammons willen, ebenso wenig aber Nachlässigkeit in der ästhetischen Bewertung Stadtbild-prägender Bauentwürfe. Dieses Gleichgewicht schien gestört; und war es dann auch, wie sich mit der IBA Berlin herausstellen sollte. Moral: Wer Direktiven ausgibt und hüten muss, tut sich mit der Selbstverständlichkeit des Dienens schwer. — Julius Posener hat meinen Vortrag an den Schluss seiner kritischen Auswahl von Reden zu den Schinkelfesten des Architekten und Ingenieur-Vereins zu Berlin gestellt. Zu meiner großen Freude. Man gönne meinem Vortrag nun auch hier das letzte Wort.
Backmatter
Metadaten
Titel
Zeit des Labyrinths
verfasst von
Ulrich Conrads
Copyright-Jahr
2007
Verlag
Birkhäuser Basel
Electronic ISBN
978-3-7643-8191-2
Print ISBN
978-3-7643-7821-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-7643-8191-2