Zentralisierungsdynamiken des US-amerikanischen Staatsapparats

Allerdings war auch Tocqueville die Notwendigkeit zentralstaatlicher Eingriffe durchaus bewusst (Atanassow 2022).

Ihm zufolge neigten viele Wissenschaftler bei ihrer Interpretation der revolutionären und republikanischen Zeit dazu, „ihren Gegenstand rückwärts zu lesen“, d. h. beispielsweise von der Ära des New Deal rückwärts zu projizieren, „anstatt von der frühen Republik vorwärts [...]“. Dies, so John, habe viele Politikwissenschaftler dazu veranlasst, „die organisatorischen Fähigkeiten staatlicher Institutionen in der Zeit vor den Transformationen, um die es ihnen in erster Linie geht, unterzubewerten.“ (John 2008, S. 334; Übersetzung des Verf.).

Alexander Hamilton hat diese Zusammenhänge von den Gründungsvätern neben Washington am klarsten gesehen; siehe zum Beispiel Hamilton 1964 [1791].

Im Original „a sense of the state going back to the earliest years of the Republic“ (zitiert aus John 2008, S. 332).

Im Original: „The early American state hardly can be dismissed as ‚weak‘, insignificant, or merely incipient“ because it was „integrated and governed, not just by courts and parties, but by various sanctioned armed forces (as well as key complementary instruments of publicly organized communication and commerce, especially the far-flung network of post offices, turnpikes, and canals).“ (Katznelson 2002, S. 89 f.) Für eine detaillierte Analyse des Postsystems in der frühen Republik siehe John 1995.

Ähnliches kann auch für den Staat im frühen 20. Jahrhundert behauptet werden, vgl. Clemens 2006.

Im Original: „The ‚myth of the ‚weak‘ (and invisible) American state‘ has slowly receded as an intellectual claim. But it is instructive to consider how and why this claim came to be so vigorously debated for a surprisingly and relatively long period. Part of the debate resulted from a lack of clarity surrounding slavery, territorial expansion, and Indian removal and their inextricable connection to a particular kind of robust state capacity.“ (Johnson 2016, S. 603)

Breite soziale Proteste richteten sich gegen diese Zölle, weil durch sie nur die Industriemagnaten profitierten, nicht aber die Arbeiterschaft. Unterstützt wurden die Arbeiter in ihrem Protest gegen den McKinley Act durch die Farmer, was in einer breiten populistischen Bewegung und Forderungen nach einer stärkeren Umverteilung von Einkommen und Wohlstand resultierte. Dabei stand die Einführung einer Einkommensteuer für Wohlhabende und eine Besteuerung von Unternehmensgewinnen ganz oben auf der populistischen Agenda. Die Demokratische Partei griff diese Positionen auf und konnte mit den Themen dann auch die Wahlen 1892 gewinnen. Nach dem Wahlsieg versuchte die Demokratische Partei, aus den populistischen Forderungen und Protesten politisches Kapital zu schlagen: Sie forderte eine grundlegende Reform der Zollgesetzgebung und eine progressiv gestaltete Einkommensteuer, deren Einführung jetzt nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien. Ebd., S. 122. Siehe auch Oswald 2020.

In der Forschungsliteratur dominierte lange Zeit die Idee einer verspäteten Wohlfahrtsstaatlichkeit, die sich primär erst in den beiden sozialpolitischen Big Bangs des New Deal in den 1930er-Jahren und der Great Society in den 1960er-Jahren vollzog (Leman 1977). Darüber hinaus wird häufig argumentiert, dass es sich bei den sozialpolitischen Reformen immer um einen nachholenden und zugleich immer unvollständigen Anpassungsprozess an ökonomische Veränderungsprozesse handelte. Aber seit den 1980er-Jahren werden diesen stark eurozentrischen Erklärungsansätzen neue Interpretationen gegenübergestellt, die eine US-spezifische Interpretation wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung vorlegen (Vgl. zum Beispiel Weir et al. 1988; Skocpol 1992). Studien konnten zeigen, dass sehr wohl bereits vor dem New Deal in zahlreichen Bundesstaaten zentrale Vorläufer nationaler Sozialprogramme implementiert wurden, die allerdings auch der damals stark dezentralen Ausrichtung des Föderalismus in den USA entsprachen, zum Teil aber mit ihren Programmen mehr Menschen erreichten, als dies zu dieser Zeit in Europa der Fall war (Orloff 1993, S. 139).