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Erschienen in: Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) 2/2023

Open Access 13.05.2023 | Hauptbeiträge - Thementeil

A Clash of Cultures: Wie beeinflussen kulturelle Unterschiede agile Transformationen?

verfasst von: Moritz Michael Zinn, M.Sc., Carolin Müller, M.Sc., Christine Herter, M.Sc.

Erschienen in: Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO) | Ausgabe 2/2023

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag in der Zeitschrift „Gruppe. Interaktion. Organisation. (GIO)“ untersucht basierend auf einer qualitativen Studie, wie kulturelle Unterschiede zwischen agilen Projekten und ihrem traditionellen, nicht-agilen Organisationsumfeld zu Konflikten führen und wie diese Konflikte gelöst werden können, um agile Transformationsvorhaben voranzutreiben. Bisherige Forschungsarbeiten identifizieren und kategorisieren Konflikte im Rahmen agiler Transformationen, erforschen jedoch bisher nicht, durch welche konkreten Praktiken sie gelöst werden können. Um dies zu beantworten, wurde ein agiles Pilotprojekt in einer deutschen Bank untersucht. Einem explorativen Ansatz folgend wurden 14 semistrukturierte Interviews mit Mitarbeitenden des agilen Projektes und nicht-agilen Partnerbereichen geführt. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Kultur des agilen Projektes vorwiegend durch ein hohes Bedürfnis nach Flexibilität auszeichnet, während das organisationale Umfeld eine stabilitätsorientierte Organisationskultur aufweist. Aus den kulturellen Unterschieden entstehen drei Konfliktarten: (1) Konflikte, die aus den gegensätzlichen Bedürfnissen nach Einhaltung und Abweichung von Prozessvorgaben entstehen, (2) Konflikte, die auf Widerstand gegenüber anderen Arbeitsweisen beruhen und (3) Konflikte, die aus der hierarchischen Projektstruktur resultieren. Diese Konflikte können durch Anpassungen der agilen Arbeitsweise an die stabilitätsorientierte Organisationskultur und Isolation des Projektteams von nicht-agilen Bereichen gelöst werden. Auch wenn diese Praktiken im Hinblick auf eine agile Transformation konterintuitiv erscheinen, sind sie besonders in der Anfangsphase einer agilen Transformation förderlich, indem sie Voraussetzungen für Projekterfolge schaffen, die die organisationsweite Akzeptanz agiler Werte erleichtern.

1 Einführung

Agile Transformationen etablierter Organisationen haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Um in einem zunehmend volatilen Marktumfeld erfolgreich zu wirtschaften ist Agilität, also die Fähigkeit schnell und flexibel auf Veränderungen zu reagieren und sie als Chancen zu nutzen (Sharifi und Zhang 1999), unabdingbar. Um ein hohes Agilitätslevel zu erreichen, nutzen nicht mehr nur kleine Softwareunternehmen, sondern immer mehr etablierte Organisationen agile Arbeitsweisen (Kusters et al. 2017; Theobald und Diebold 2018), Dabei sollen agile Methoden, die sich durch inkrementelle und kurzzyklische Entwicklungen von Arbeitsergebnissen, enge Zusammenarbeit mit Endnutzern und selbstorganisierte Teams auszeichnen (Beck et al. 2001), oft unternehmensweit Anwendung finden (Barroca et al. 2019). Zu den populärsten agilen Methoden zählt die Scrum-Methode, nach der in zwei- bis vierwöchigen Arbeitszyklen unter direkter Einbindung der Endnutzer Inkremente eines Produkts entwickelt werden (Schwaber und Sutherland 2020).
Agile Transformationen in etablierten Unternehmen können durch organisationskulturelle Unterschiede erschwert werden (Vinekar et al. 2006; Kusters et al. 2017). Schein (1990) definiert eine Organisationskultur als ein Muster grundlegender Annahmen, das von einer Gruppe zur Problemlösung entwickelt oder entdeckt wird und so gut funktioniert, dass es neuen Gruppenmitgliedern als die richtige Art und Weise zu denken, zu fühlen und zu handeln beigebracht wird. Im Rahmen agiler Transformationsprozesse treffen Organisationskulturen, die sich über lange Zeiträume in Organisationen entwickelt haben, auf neue agile Werte und Grundannahmen, die miteinander in Konflikt geraten können (Meyerson und Martin 1987; Sackmann 1992). Die grundlegenden Annahmen agiler Arbeitsweisen werden durch das agile Manifest klar definiert (Beck et al. 2001): Es stellt Individuen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge, misst dem funktionsfähigen Produkt mehr Wert bei als einer umfassenden Dokumentation, gibt der Zusammenarbeit mit den Kunden Vorrang vor Vertragsverhandlungen und empfiehlt Reaktionen auf Veränderungen anstatt Pläne zu befolgen (Beck et al. 2001). Mit diesen Grundannahmen weicht das agile Manifest oft von etablierten Organisationskulturen ab.
Unterschiede zwischen agilen und nicht-agilen Subkulturen können besonders in den Anfangsphasen agiler Transformationen eine wichtige Rolle spielen. In der ersten Phase eines agilen Transformationsprozesses implementieren Unternehmen oft agile Pilotprojekte (Dikert et al. 2016; Paasivaara et al. 2018). Dort wird die bewährte Organisationskultur oft durch eine noch vollständig unbekannte agile Kultur ersetzt. Dies stellt für Mitarbeitende, die im oder mit dem agilen Pilotprojekt arbeiten, typischerweise einen radikalen Kulturwandel dar (Schein 1990), da zu diesem Zeitpunkt oft noch keine Erfahrungen mit agilen Werten gesammelt werden konnten und bestehende Prozesse sich an den Werten der etablierten Organisationskultur orientieren. Radikale Kulturwandel ziehen typischerweise hohe Widerstände nach sich (Gordon 1991).
Dass Widerstände gegen agile Methoden auftreten belegen viele Studien, die agile Transformationsprozesse untersuchen (z. B. Barroca et al. 2019; Dikert et al. 2016; Karvonen et al. 2018; Laanti et al. 2011; Paasivaara et al. 2018; Theobald und Diebold 2018). Diese Studien identifizieren Konflikte, deren Ursprung in einem Widerspruch zwischen der hierarchischen Organisation und dem agilen Projekt als flexiblere Organisationsform auf Gruppenbasis liegt (Heintel und Krainz 2015). Dieser Widerspruch kann in unterschiedlichen Normen zwischen verschiedenartigen Subgruppen innerhalb einer Organisation begründet sein (Schwarz 2014). Im Einklang mit Schwarz (2014) soll diese Studie zeigen, dass unterschiedliche Normen zwischen Subgruppen auch Konflikte im spezifischen Kontext agiler und nicht-agiler Organisationseinheiten hervorrufen. Zudem soll diese Studie das Verständnis zu möglichen Konfliktlösungsansätzen erweitern. Viele Studien fokussieren sich ausschließlich auf Konflikte, die durch das Zusammenspiel agiler und nicht-agiler Bereiche entstehen (z. B. Barroca et al. 2019; Karvonen et al. 2018; Theobald und Diebold 2018). Einige Studien beschreiben zwar Erfolgsfaktoren der agilen Transformation (Dikert et al. 2016; Paasivaara et al. 2018), verknüpfen sie jedoch nur bedingt mit den identifizierten Konflikten. Unsere Studie soll konkrete Lösungsansätze identifizieren, die Konflikte aus kulturellen Unterschieden reduzieren können und folglich zum Gelingen einer agilen Transformation beitragen. Am Beispiel eines agilen Pilotprojekts in einem nicht-agilen Umfeld, das den Beginn einer agilen Transformation darstellen kann, untersuchen wir daher die folgenden Fragen:
1.
Welche kulturellen Unterschiede können zwischen einem agilen Projekt und seinem traditionellen Organisationsumfeld beobachtet werden?
 
2.
Welche Konflikte resultieren aus diesen kulturellen Unterschieden?
 
3.
Wie gelingt es, diese Konflikte zu lösen?
 

2 Methodik

Die Studie folgt dem methodischen Ansatz einer Fallstudienanalyse, die auf semi-strukturierten Interviews basiert. Die qualitative Herangehensweise ermöglicht es, im Detail zu verstehen und zu beschreiben, wie Konflikte aus kulturellen Unterschieden entstehen und mithilfe welcher Praktiken solche Konflikte aufgelöst werden können (Yin 2003).

2.1 Unternehmens- und Projektkontext

Der Kontext unserer Studie ist das Projekt AGIL, das als agiles Pilotprojekt im Unternehmen BANK, einer deutschen Bank, seit 2020 durchgeführt wird. Ziel von AGIL ist die Migration des Meldewesens von BANK auf eine neue Software, über die in Zukunft Meldungen an Regulationsbehörden erfolgen sollen. Zur Projektdurchführung hat BANK sich für eine agile Projektmanagementmethode entschieden, da regulatorische Anforderungen mit zunehmender Geschwindigkeit umgesetzt werden müssen, was eine hohe Flexibilität voraussetzt. Folglich verspricht sich BANK, die notwendige Flexibilität und Geschwindigkeit durch agile Arbeitsweisen erreichen zu können. Bisher hat BANK geringe Erfahrungen mit agilen Arbeitsweisen. Das Projekt AGIL ist unternehmensweit das zweite Projekt, das einem agilen Projektansatz folgt.
Im Projekt wird die Scrum-Methode mit ihren klassischen Rollen (Product Owner, Scrum Master und Entwickler) und Terminen (Daily, Review, Planning, Refinement, Retrospektive) (Schwaber und Sutherland 2020) genutzt. Während die Rollen der Product Owner und Scrum Master mit internen Mitarbeitenden besetzt sind, ist das Entwicklerteam unternehmensextern und verfügt sowohl über hohe Expertise bezüglich der Projektaufgabe, als auch bezüglich agiler Arbeitsweisen. Die Scrum-Methode wurde geringfügig an die Besonderheiten des Projektes angepasst: So findet das Daily nicht täglich, sondern dreimal wöchentlich statt, um parallele Projekte des externen Entwicklerteams zu berücksichtigen.
AGIL stellt aufgrund des Bankensektors und der Konstellation aus externen und internen Mitarbeitern einen geeigneten Kontext dar, um kulturelle Spannungen zwischen agilen und nicht-agilen Bereichen zu untersuchen. Wir erwarten, dass kulturelle Unterschiede zwischen agilen Projekten und nicht-agilen Bereichen im Bankensektor besonders stark hervortreten. Während die Organisationskultur von Banken oft als formal und hierarchisch beschrieben werden, zeichnen sich agile Arbeitsweisen durch Werte wie Informalität oder Partizipation aus (Beck et al. 2001; Hofstede 2011; Warner und Wäger 2019). Zudem verfügt das aus externen Mitarbeitenden bestehende Projektteam nicht über den gleichen organisationskulturellen Hintergrund wie die Mitarbeitenden von BANK selbst, die überwiegend in nicht-agilen Einheiten arbeiten. Daher können wir davon ausgehen, dass kulturelle Unterschiede durch eine gleiche organisationskulturelle Prägung der Mitarbeitenden („acculturation“) nicht eingeschränkt werden (Berry 1980). Zudem arbeitet AGIL, anders als andere agile Projekte, nur bedingt isoliert (Ramesh et al. 2012; Vinekar et al. 2006). Die hohe Bedeutung der Projektaufgabe für das Tagesgeschäft von BANK und viele Schnittstellen zu Vorsystemen der Meldewesensoftware, erfordern eine enge Zusammenarbeit zwischen dem agilen Projektteam und diversen nicht-agilen Abteilungen. Dadurch kommen Mitarbeitende aus agilen und nicht-agilen Bereichen regelmäßig in Kontakt wodurch kulturelle Unterschiede und daraus resultierende Spannungen können sichtbar werden.

2.2 Datenerhebung

Daten wurden in semi-strukturierten, leitfadengestützten Interviews (N = 14) erhoben. Der Leitfaden beinhaltete Fragen zu wahrgenommenen Unterschieden zwischen AGIL und BANK, den daraus resultierenden Herausforderungen für die Zusammenarbeit und den angewandten Praktiken, um diese Herausforderungen zu handhaben. Interviewpartner wurden gemeinsam mit den Projektleitenden von AGIL identifiziert. Um die agile und die nicht-agile Perspektive zu berücksichtigen, wurden Mitarbeitende aus AGIL (N = 8) und Mitarbeitende aus BANK ausgewählt, die als zentrale Stakeholder mit AGIL zusammenarbeiten (N = 6). Zu den befragten Mitarbeitenden des agilen Projektes zählen der Product Owner, zwei Scrum Master und fünf Projektmitarbeitende. Zu den befragten Mitarbeitenden aus BANK zählen die verantwortlichen Projektleitenden, ein Projektsponsor auf höchster Managementebene und drei Mitarbeitende.
Alle Interviews wurden zwischen Juli und August 2021 virtuell geführt. Im Einverständnis der Interviewpartner wurden Tonaufnahmen aller Interviews erstellt und wortgenau transkribiert. Unternehmens- und personenbezogene Daten wurden anonymisiert.

2.3 Datenanalyse

Die Interviewdaten wurden nach der Gioia-Methode analysiert (Gioia et al. 2013). Im ersten Schritt extrahierten wir Aussagen, die auf kulturelle Elemente, resultierende Konflikte und auf angewandte Praktiken zur Auflösung dieser Konflikte hinweisen. Anschließend wurden die extrahierten Aussagen als First Order Codes paraphrasiert. In einem zweiten Schritt wurden die First Order Codes zu abstrakteren Second Order Codes zusammengefasst. Für unsere erste Frage wurden die Second Order Codes den Dimensionen des Competing Values Framework nach Cameron und Quinn (2006) zugeordnet, um kulturelle Unterschiede zu ermitteln. Für unsere zweite und dritte Frage wurden Second Order Codes in übergeordnete Konflikt- und Lösungsdimensionen aggregiert.

3 Ergebnisse

3.1 Kulturelle Unterschiede agiler und nicht-agiler Organisationsbereiche

Die Analyse kultureller Unterschiede zwischen AGIL und BANK beruht auf dem Competing Values Framework (Cameron und Quinn 2006), nach dem Organisationskulturen durch zwei grundlegende Wertesysteme beschrieben werden: Sie zeichnen sich entweder durch Flexibilität oder Stabilität aus und sind intern oder extern fokussiert. Flexible Organisationskulturen erleichtern die Anpassung an Veränderungen, während stabilen Organisationskulturen eine höhere Sicherheit schaffen. Bei einem internen Fokus liegt das Interesse von Organisationen in der Aufrechterhaltung interner Prozesse. Organisationen mit externem Fokus messen der wettbewerbsfähigen Position gegenüber Kunden einen höheren Stellenwert bei. Im Folgenden werden die Organisationskulturen von BANK und AGIL in diese Dimensionen eingeordnet (Abb. 1).
Während sich die Organisationskultur von BANK durch Stabilität auszeichnet, misst AGIL Flexibilität mehr Wert bei. Die stabilitätsorientierte Kultur von BANK zeigt sich am Umfang und Zeitrahmen der Planung. Ressourcenzuteilungen werden ein Jahr im Voraus geplant und sämtliche Aktivitäten an halbjährlich stattfindenden Releasezyklen ausgerichtet. Hierbei bestehen strikte Fristen und Regeln. Softwareentwicklungen, die durch ein Release nutzbar gemacht werden sollen, müssen nach exakten Vorgaben spezifiziert und dem Releasemanagement bis zu einem fixen Termin zur Verfügung gestellt werden, um berücksichtigt zu werden. Die formale und plangetriebene Arbeitsweise in BANK wird von den Mitarbeitenden aus AGIL als wenig erfolgsversprechende Kontrollillusion beurteilt. Statt langfristige Pläne zu befolgen, passt AGIL Projektaktivitäten mithilfe der iterativen agilen Arbeitsweise regelmäßig an Veränderungen an. Probleme werden vom Projektteam nicht als Störung eines bestehenden Plans, sondern als natürliche Konsequenz von Unsicherheit interpretiert. Dies deutet auf ein flexibleres und veränderungsaffineres Mindset der Projektmitarbeitenden hin.
Die stabilitätsorientierte Kultur spiegelt sich auch in BANKs Entscheidungs- und Führungskultur wider. Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse sind klar festgelegt. Hierarchische Top-Down-Entscheidungen prägen die Entscheidungsfindung. Statusberichte an das Management werden genutzt, um Projektaktivitäten zu kontrollieren und zu steuern. Im Kontrast zu BANK zeigt AGIL mehr Flexibilität bei der Verantwortlichkeit für operative Entscheidungen, die größtenteils gemeinsam im Projektteam oder von verantwortlichen Teammitgliedern getroffen werden.
Auch in AGIL treten jedoch stabilitätsorientiere Aspekte auf. Wichtige Projektentscheidungen werden durch das Management von BANK getroffen. Außerdem werden strenge Qualitäts- und Zielerreichungskontrollen angewendet. Die Projektleitung von AGIL nutzt dafür auf operativer Ebene die zweiwöchig stattfindenden Sprint Reviews, wohingegen dem Management monatliche Statusberichte über den Grad der Zielerreichung vorgelegt werden. Darüber hinaus finden sich für agiles Arbeiten untypische Hierarchien innerhalb des Projektteams: Das Projektteam besteht aus zwei Subteams, die je über eine Führungskraft verfügen.
Hinsichtlich der Dimensionen des externen oder internen Fokus zeichnet sich BANK durch einen klaren internen Fokus aus, während AGIL sowohl über einen internen, als auch einen externen Fokus verfügt. Bei BANK wird der Einhaltung formaler Prozesse sowie deren Sicherung durch intensive Dokumentation ein hoher Wert beigemessen. Auch bei AGIL besteht ein interner Fokus: Teamarbeit und ein hohes Zusammengehörigkeitsgefühl im Projektteam spielen eine zentrale Rolle. Das Projektteam bezeichnet sich als Familie und legt Wert auf gegenseitiges Vertrauen. Diese Werte werden regelmäßig diskutiert. Dabei reagiert das Projektteam sensibel auf Hinweise zu fehlendem Vertrauen oder einer geringen Zusammengehörigkeit. Allerdings zeigt sich auch ein klarer externer Fokus bei AGIL: Das Projektteam begründet die Notwendigkeit einer agilen Arbeitsweise darin, dass Regulationsbehörden Anforderungen an das Meldewesen sehr kurzfristig verändern und BANK flexibel darauf reagieren muss. Die Entscheidung für eine agile Arbeitsweise wurde also nicht aufgrund interner Faktoren, sondern mit klarem Bezug auf organisationsexterne Stakeholder getroffen.

3.2 Konflikte durch kulturelle Unterschiede

Die stabilitätsorientierte Kultur von BANK und die flexible Kultur von AGIL treffen in der täglichen Arbeit aufeinander, woraus drei Konfliktarten resultieren (Abb. 2).
Ein erster Konflikt entsteht aus gegensätzlichen Präferenzen hinsichtlich Planung und Prozessvorgaben. Für die nicht-agilen Bereiche von BANK ist es notwendig, dass die stabilitätsschaffenden Prozessvorgaben und Planungszyklen organisationsweit eingehalten werden. Infolgedessen gelten für AGIL die gleichen Fristen und Prozesse wie für nicht-agile Bereiche. Die von BANK vorgegebenen Fristen zur Einreichung von Spezifikationen, Softwareentwicklungen und Tests orientieren sich an der halbjährlichen Release-Taktung. Standardisierte Vorlaufzeiten stellen sicher, dass genug Zeit bleibt, um Entwicklungs- und Testphasen zu durchlaufen.
Diese Prozesse verhindern ein inkrementelles Projektvorgehen und schränken AGIL dadurch in seiner Geschwindigkeit und Flexibilität ein. AGIL muss die klassischen Entwicklungs- und Testphasen berücksichtigen und entsprechend weit vorausplanen und kann dadurch nicht flexibel auf Veränderungen in den Produktanforderungen und dem Ressourcenbedarf reagieren. Zudem können Projektergebnisse nur halbjährlich nutzbar gemacht werden, was die wahrgenommene Arbeitsgeschwindigkeit senkt. Projektmitarbeitende beklagen sich, dass AGIL nur so agil sein kann wie sein nicht-agiles Organisationsumfeld.
Da die gewünschte Flexibilität im Gegensatz zu den Prozessvorgaben steht, kann AGIL die vorgegebenen Fristen nicht immer einhalten und liefert Spezifikationen, Softwareentwicklungen oder Tests teils zu spät. Mitunter entscheidet sich AGIL auch bewusst dafür, Prozessvorgaben von BANK zu ignorieren. Dadurch entsteht zusätzliche Aufwand für BANK in Form von Erinnerungen oder Festlegungen neuer Fristen.
Konflikte entstehen auch aus der Antizipation hypothetischer Probleme und Misserfolge und den daraus resultierenden Widerständen. Sowohl Mitarbeitende aus AGIL, als auch Mitarbeitende des nicht-agilen Umfelds von BANK zeigen sich kritisch und negativ gegenüber der jeweils anderen Arbeitsweise. Mitarbeitende aus AGIL beurteilen die langen Planungshorizonte als „Kontrollillusion“ oder „Corporate Theater“ und machen deutlich, dass stabilitätssuchende, nicht-agile Werte und Arbeitsweisen in ihren Augen keinen Mehrwert stiften. Darin zeigt sich ein Widerstand der Mitarbeitenden aus AGIL, ihre agile Arbeitsweise (teilweise) an den nicht-agilen Kontext anzupassen. Auch wenn nur wenige Mitarbeitende aus dem nicht-agilen Bereich von BANK ähnlich fundamentale Kritik gegenüber den agilen Werten und Arbeitsweisen äußern und diese als „Dogma“ oder „Marketing-Trick“ bezeichnen, lehnen die meisten Mitarbeitenden von BANK den Einsatz agiler Arbeitsweisen im nicht-agilen Umfeld von BANK ab. Dies begründen die Mitarbeiter anhand der strikten Prozessvorgaben, die agiles Arbeiten einschränken und anhand des Projektziels von AGIL, das stark durch die geltenden Regulationsvorschriften bestimmt wird. Die Mitarbeitenden sagen voraus, dass das Projekt AGIL nicht erfolgreich abgeschlossen werden kann. Hier zeigt sich Wandelwiderstand: Obwohl agilem Arbeiten positive Eigenschaften zugeschrieben werden, soll es aus Sicht vieler Mitarbeitenden aus nicht-agilen Bereichen nicht in BANK eingeführt werden, damit die stabilitätsorientierte Kultur bestehen bleibt.
Diese unterschiedlichen Einstellungen treffen in zeitintensive Diskussionen über die geeignete Arbeitsweise in AGIL aufeinander. Solche Diskussionen, die durch Kritik, Anschuldigungen und Vorwürfe geprägt sind, finden regelmäßig statt, wenn Mitarbeitende aus dem agilen Projekt und nicht-agilen Abteilungen zusammenarbeiten sollen. Der Projektfortschritt wird dadurch deutlich eingeschränkt.
Ein dritter Konflikt resultiert aus Unterschieden der Führungs- und Entscheidungskulturen. Um dem kulturell vorbestimmten Bedürfnis nach Kontrolle in BANK gerecht zu werden, wurden in die grundsätzlich agile Projektstruktur von AGIL hierarchische Elemente integriert, die mit Vertrauen und Beteiligung als zentrale Werte agiler Arbeitsweisen konfligieren. Hierarchie Elemente zeigen sich in einem erhöhten Berichtsaufwand an das Management, aber auch durch neue Rollen im Projektteam von AGIL. So verfügt AGIL nicht nur über einen Product Owner, sondern auch über zwei Projektleitende, die parallel als Führungskräfte in nicht-agilen Bereichen von BANK arbeiten. Dies führt zu Rollenunklarheiten: Die Projektleitenden übernehmen die Kommunikation mit höheren Hierarchieebenen und vertreten AGIL zunächst alleine in Projektsteuerungsmeetings, obwohl der Product Owner mit operativer Projektverantwortung informiertere Entscheidungen treffen könnte.
Hierarchische Elemente der Projektstruktur zeigen sich auch in der hohen Zahl der Beteiligten im Projekt AGIL. Viele Mitarbeitende unterschiedlicher Bereiche nehmen ohne konkrete Aufgabe an den regelmäßig stattfindenden Projektmeetings teil, um Kontrolle über das Projekt auszuüben. Dies steht im Gegensatz zum Vertrauen, das die agile Arbeitsweise prägt. Neben den Kosten dieses hohen Zeitinvests bringt der große Personenkreis eine hohe Diversität an Einstellungen zur agilen Projektarbeit mit sich, die Dispute hinsichtlich der agilen Arbeitsweise fördern und durch ineffiziente Meetings die Arbeitsgeschwindigkeit von AGIL reduzieren.

3.3 Praktiken zur Konfliktlösung

Die zuvor beschriebenen Konflikte traten insbesondere zu Beginn des Projektes AGIL auf. Im Laufe der Zeit haben die beteiligten agilen und nicht-agilen Mitarbeitenden diverse Praktiken entwickelt, um die Konflikte zu reduzieren (Abb. 2).
Während die nicht-agilen Bereiche auf Einhaltung der Prozessvorgaben bestehen, muss AGIL von ihnen abweichen, um Flexibilität zu wahren. Dieser Konflikt konnte durch die Aushandlung von Kompromissen zwischen BANK und AGIL reduziert werden. AGIL passt sich an den längeren Planungshorizont von BANK an und plant mit einer Roadmap-Planung mehrere Sprintzyklen voraus. Somit kommt AGIL dem Planungsbedürfnis von BANK entgegen und schafft mehr Vorhersehbarkeit für die nicht-agilen Bereiche, behält gleichzeitig durch das weiterhin kürzeren Sprintintervall jedoch eine gewisse Flexibilität bei. Auch die nicht-agilen Bereiche passen sich an: AGIL erhält eine Verlängerung der Fristen zur Einreichung von Softwareinkrementen für Releases, wodurch BANK dem Bedürfnis der agilen Kultur nach Flexibilität entgegenkommt. Um einige Arbeitsergebnisse schneller nutzbar zu machen, nutzt AGIL neben den halbjährlich stattfindenden Releases außerordentliche Release-Termine für Softwareinkremente, die keine Schnittstellen zu anderen IT-Systemen haben. Dies führt zu Kosten in Form von Organisations- und Planungsaufwänden, die von gleichbleibenden personellen Ressourcen in BANK aufgefangen werden müssen. Um die Organisationsaufwände gering zu halten, werden Softwareinkremente mit Abhängigkeiten zu anderen Systemen weiterhin nur halbjährlich in den Hauptreleases umgesetzt. Der Umfang der Abhängigkeiten der Softwareinkremente wird in enger Abstimmung mit BANK identifiziert.
Im Fall von AGIL zeigt sich, dass Kompromisse in einer stabilitätsorientierten Kultur funktionieren, wenn sie hinreichend formalisiert werden. Beispielsweise hat AGIL bereits zu Beginn des Projektes außerordentliche Release-Termine formell reservieren müssen, obwohl zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt war, ob alle Termine benötigt werden. Dadurch kommt AGIL dem Planungsbedürfnis von BANK entgegen. Ebenso wurden die Möglichkeiten des Projektes, von den geltenden Release-Fristen abzuweichen, streng formalisiert und gelten ausschließlich für die Softwareinkremente von AGIL.
Als Reaktion auf die regelmäßigen Störungen der Projektarbeit durch Diskussionen um agile Methoden, die aus dem Widerstand gegenüber anderen Arbeitsweisen resultieren, entschied AGIL das Projektteam zu verkleinern. Projektbeteiligte aus nicht-agilen Bereichen von BANK, die keinen inhaltlichen Beitrag zur Projektarbeit leisten konnten, wurden von ihrer Pflicht, an den regelmäßig stattfindenden Projektmeetings teilzunehmen, entbunden. In dem fortan kleineren Personenkreis herrschte eine deutlich homogenere Einstellung gegenüber der agilen Projektarbeit in AGIL, wodurch die ständigen Dispute reduziert und der Fokus des Projektteams auf den Projektfortschritt gesichert werden konnte. Ein bewusstes Stakeholdermanagement wurde implementiert, um ausgewählte Mitarbeitende zu einem späteren Zeitpunkt in AGIL integrieren zu können, falls deren Kompetenzen und Erfahrungen projektrelevant werden. Die von der Teilnahme an den Projektmeetings entbundenen Personen werden gesondert durch Product Owner, Scrum Master oder Projektleitende über den Projektfortschritt informiert. Dabei wird insbesondere darauf geachtet, dass nicht-agile Mitarbeitende von einer Person mit gleichem oder ähnlichem funktionalem Hintergrund betreut werden, die ein gemeinsames kulturelles Verständnis haben. Hier zeigt sich auch, dass die Beibehaltung der Projektleiterrollen, auch wenn sie ein hierarchisches Element in einer agilen Projektstruktur darstellen, vorteilhaft ist, da die Projektleiterrollen von AGIL eine gute Kommunikation zum Management ermöglicht.
Neben der Formalisierung von Kompromisslösungen bedarf es einer hierarchischen Legitimierung der Abweichungen von bestehenden Prozessen. Dabei reicht eine initiale Legitimierung agiler Arbeitsweisen durch das Management nicht aus. Vielmehr zeigt der Projektverlauf von AGIL, dass Abweichungen von agilen und nicht-agilen Prozessen nur akzeptiert wurden, wenn sie formell vom Management kommuniziert wurden. Beispielsweise einigte sich das Projektteam darauf, den Kreis der Beteiligten zu reduzieren, um Störungen des Projektablaufs zu vermeiden. Auch wenn die Idee der Entscheidung im Projektteam entstand, musste diese trotzdem formell vom Management genehmigt werden. Über die reine Legitimierung hinaus hat das Management auch Entscheidungen zur konkreten Umsetzung der Idee des Projektteams getroffen, indem es festgelegt hat, welche Mitarbeitenden ihre Verantwortung für AGIL abgeben müssen.

4 Diskussion

Unsere Studie hat das Ziel, kulturelle Unterschiede zwischen einem agilen Projekt und seinem nicht-agilen Organisationsumfeld zu erheben, resultierende Konflikte zu identifizieren und Lösungspraktiken aufzuzeigen. Im Hinblick auf unsere erste Frage zeigen unsere Ergebnisse die Unterschiede zwischen der stabilitätsorientierten Kultur von BANK und der flexiblen Kultur von AGIL.
Die aufgezeigten kulturellen Unterschiede scheinen keine Ausnahme für die betrachtete Fallstudie darzustellen, sondern könnten weitere Relevanz besitzen. Kulturelle Unterschiede werden in mehreren Studien als eine zentrale Herausforderung agiler Projekte in einem nicht-agilen Umfeld identifiziert (z. B. Vinekar et al. 2006; Kusters et al. 2017). Auch unsere Charakterisierung der agilen Kultur als flexibilitätsorientiert und gleichermaßen extern und intern fokussiert wird durch die Ergebnisse anderer Studien unterstützt (Giacomassi et al. 2017; Iivari und Iivari 2011; Karvonen et al. 2018). Diese Konsistenz in der Einordnung agiler Kulturen lässt sich durch das agile Manifest erklären, das die grundlegenden Werte agiler Arbeitsweisen klar definiert (Beck et al. 2001). Unsere Charakterisierung der Organisationskultur von BANK entspricht anderen Studien aus dem Bankensektor, die das kulturelle Bedürfnis nach Kontrolle und Stabilität hervorherben (Gordon 1991; Warner und Wäger 2019). Wir nehmen daher an, dass die Kultur von BANK die Kulturen anderer Banken repräsentieren kann, auch wenn unsere Ergebnisse vor dem Hintergrund der kleinen Stichprobe nur eingeschränkt generalisierbar sind und nicht jede etablierte Organisation eine stabilitätsorientierte Kultur entwickeln muss.
Die Ergebnisse unserer Studie gehen über bisherige Erkenntnisse hinaus, indem sie neben der Identifikation kultureller Unterschiede Konsequenzen dieser Unterschiede für die Zusammenarbeit aufzeigen. Wir identifizieren drei Konfliktarten, die aus den kulturellen Unterschieden zwischen BANK und AGIL resultieren und deren Zusammenarbeit beeinträchtigen. Dazu zählen (1) Konflikte, die aus den gegensätzlichen Bedürfnissen nach Einhaltung und Abweichung von Prozessvorgaben entstehen, (2) Konflikte, die auf Widerstand gegenüber anderen Arbeitsweisen beruhen und (3) Konflikte, die aus der hierarchischen Projektstruktur resultieren. Diese Konflikte führen zu Disputen um agiles Arbeiten, schaffen Mehraufwand für agile und nicht-agile Bereiche und hemmen den Projektfortschritt des agilen Projektes.
Dass im Zusammenspiel einer agilen und einer stabilitätsorientierten Kultur Konflikte auftreten, entspricht Scheins (2004) Thesen über Organisationskulturen. In einer stabilitätsorientierten Organisationskultur widersprechen agile Arbeitsweisen den bisherigen Grundannahmen und Werten, mit denen die Organisation bislang erfolgreich war (Schein 2004). Daher können agile Arbeitsweisen nicht blind akzeptiert werden, sondern müssen in Frage gestellt und getestet werden (Schein 2010). Das spiegelt sich in den andauernden Disputen um die agile Arbeitsweise wider, die von AGILs Projektteam als störende Form des Widerstands gegenüber der neuen Arbeitsweise empfunden wurde. Dennoch können diese Dispute ein wichtiger erster Schritt für die Akzeptanz und Annahme agiler Werte in einem agilen Transformationsprozess sein, da Mitarbeitende nur durch das Testen und Überprüfen neuer Werte Erfahrungen sammeln können, inwiefern sie gleichermaßen, schlechter oder besser zur Problemlösung geeignet sind (Schein 2010).
Die identifizierten Konfliktarten ähneln denen aus verwandter Literatur. Das gegensätzliche Bedürfnis nach Einhaltung von Prozessvorgaben zeigt sich in einer Studie von Paasivaara et al. (2018), die agile Transformationsprozesse untersucht: Die Autoren stellen fest, dass Beschränkungen durch nicht-agile Prozessvorgaben, zum Beispiel Releasevorgaben, herausfordernd für agile Projekte sind. Die Studie zeigt ebenfalls, dass hierarchische Elemente in einer agilen Projektstruktur zu Konflikten führen: Paasivaara et al. (2018) identifizieren Probleme bei der Definition von Rollen und Verantwortlichkeiten, wenn in einem agilen Projekt neben Product Ownern auch klassische Projektleitende existieren. Besonders häufig weist verwandte Literatur auf Widerstände gegenüber anderen Arbeitsweisen hin. Heintel und Krainz (2015) sprechen hierbei von Systemabwehr, die in Hierarchien gegenüber Projektgruppen entsteht. Laanti et al. (2011) stellen heraus, dass Mitarbeitende nicht-agiler Bereiche Widerstände gegen agile Arbeitsweisen entwickeln, da sie befürchten, durch agile Werte an Stabilität zu verlieren. Nerur et al. (2005) zeigen, dass Widerstände auch unter Mitarbeitenden agiler Projekte auftreten. Elitäre Haltungen in agilen Projektteams führen dazu, dass Mitarbeitende davon überzeugt sind, dass ausschließlich agile Arbeitsweisen zum Unternehmenserfolg beitragen und die Vorteile traditionell-hierarchischer Arbeitsweisen ignorieren.
Unsere Studie ergänzt bestehende Erkenntnisse zur Entstehung von Konflikten zwischen agilen und nicht-agilen Bereichen. Sie erweitert die Literatur zu agilen Transformationen, die Konflikte bislang vorwiegend identifiziert und kategorisiert (Dikert et al. 2016; Laanti et al. 2011; Nerur et al. 2005; Paasivaara et al. 2018). Die Ergebnisse zeigen, dass die identifizierten Konfliktarten im spezifischen Kontext agiler und nicht-agiler Organisationseinheiten ihren Ursprung im Widerspruch flexibler und stabilitätsorientierter Kulturen haben. Dies unterstützt bestehende Literatur im Feld der Konfliktentstehung (z. B. Heintel und Krainz 2015; Schwarz 2014). Zudem identifiziert unsere Studie drei Praktiken, mit denen die auftretenden Konflikte ganz oder teilweise aufgelöst werden konnten: (1) Formalisierung von Kompromisslösungen, (2) Verringerung der Teilnehmendenzahl an der aktiven Projektarbeit und (3) hierarchische Legitimierung von Entscheidungen bezüglich des agilen Projekts.
Obwohl die drei Praktiken zur erfolgreichen Konfliktlösung beigetragen haben, können sie im Hinblick auf ihre Eignung für eine agile Transformation von BANK kritisch betrachtet werden. Dass sich ein agiles Projekt an die stabilitätsorientierte Kultur anpasst, spricht zunächst dafür, dass die angewandten Praktiken einem fundamentalen Kulturwandel in BANK verhindern, da die Grundannahmen der stabilitätsorientierten Kultur weiterhin dominieren. Scheins (2004) Kultur-Ebenen-Modell unterscheidet drei Ebenen, auf denen Kulturwandel stattfindet. Die Einführung agiler Arbeitsweisen in AGIL verändert zunächst nur die erste Ebene, auf der sich Artefakte finden, die als sichtbare Verhaltensweisen, Rituale, Mythen oder Symbole definiert werden (Schein 2004). Die Arbeit in Sprintzyklen, agile Rollen wie Product Owner oder Scrum Master oder regelmäßige agile Meetings sind solche Artefakte. Die gelebten Anpassungen an die stabilitätsorientierte Organisationskultur oder die weiterhin bestehenden hierarchischen Elemente in der Projektstruktur weisen jedoch darauf hin, dass die in der zweiten und dritten Ebene verankerten Werte, Normen und Grundannahmen von der agilen Transformation in BANK noch nicht berührt werden (Meyerson und Martin 1987; Schein 2004).
Dass AGIL von seinen Werten und Arbeitsweisen abweicht, erscheint kontraintuitiv, kann die agile Transformation jedoch unterstützen. Dieser Beurteilung liegt zugrunde, dass die Veränderung einer Organisationskultur ein komplexer und andauernder Prozess ist (Gagliardi 1986; Gordon 1991). Anstelle eines revolutionären Kulturwandels, der die gesamte Kultur sofort verändert und dabei enorme finanzielle und emotionale Kosten verursacht, empfiehlt Gagliardi (1986) einen inkrementellen Kulturwandel: Kulturveränderungen werden vom Management eingeführt und schrittweise von Mitarbeitenden übernommen. Konkret bedeutet das, dass nicht alle Mitarbeitende gleichzeitig mit agilen Werten in Berührung kommen müssen. Dies entspricht nicht nur der Vorgehensweise von AGIL, sondern auch den Ergebnissen bisheriger Studien, die agile Pilotprojekte und die inkrementelle Einführung agiler Methoden als wichtige Erfolgsfaktoren der agilen Transformation betrachten (Dikert et al. 2016; Paasivaara et al. 2018). Dahinter steht Scheins (1990) Grundannahme, dass sich Organisationskulturen aus geteilten Erfahrungen der Mitarbeitenden entwickeln. Es ist somit im inkrementellen Kulturwandel wichtig, dass Mitarbeiter Erfolge sehen und diese dem neuen Wertesystem zuschreiben können (Gagliardi 1986; Schein 2010). Es braucht also ein erfolgreiches Projekt AGIL, damit Mitarbeitende ihre bestehenden stabilitätsorientierten Werte durch die einer agilen Kultur ersetzen können.
Da die aus kulturellen Konflikten resultierenden Dispute den Projektfortschritt einschränken und den Projekterfolg gefährden, erscheint es plausibel, dass AGIL sich teilweise an stabilitätsorientierte Werte anpasst, auch wenn AGIL dadurch teilweise an Agilität einbüßt. Die Anpassung schafft damit Voraussetzungen für den erfolgreichen Projektabschluss und verhindert, dass sich nicht-agile Mitarbeitende in ihrer Einstellung gegenüber agilen Werten und Arbeitsweisen bestätigt sehen. Diese inkrementelle Einführung agiler Werte (Gagliardi 1986), scheint als geeigneter Schritt in Richtung einer agilen Transformation, wenn sich die zu transformierende Organisation noch am Anfang ihrer Transformation befindet (Paasivaara et al. 2018).
Vor diesem Hintergrund scheint auch die Separierung eines agilen Projektes von nicht-agilen Bereichen förderlich für die agile Transformation zu sein, obwohl auch diese Praktik zunächst hinderlich für eine organisationsweite agile Transformation erscheint. Mitarbeitende, die von der agilen Projektarbeit separiert werden, kommen nicht mit agilen Werten in Berührung. Die Integration von Mitarbeitenden mit unterschiedlicher kultureller Prägung ist jedoch eine wichtige Voraussetzung, um kulturelles Lernen zu ermöglichen (Schweiger und Goulet 2005). Eine Trennung zwischen agilen und nicht-agilen Bereichen führt dazu, dass beide Kulturen erhalten bleiben (Vinekar et al. 2006). Infolgedessen findet keine organisationsweite agile Transformation statt, da agile Werte nur in einer klar abgegrenzten Subkultur bestehen (Schein 1993). Allerdings wird BANK nicht vollständig von AGIL isoliert, sondern weiterhin, jedoch in geringerer Intensität und Frequenz in das Projekt eingebunden. Darin zeigt sich eine gleichzeitige Umsetzung von Integrations- und Differenzierungsstrategien (Lawrence und Lorsch 1967; Gibson und Birkinshaw 2004), die sowohl eine Fokussierung auf die Projektarbeit, als auch einen losen Austausch (Weick 1979) zwischen agilen und hierarchischen Subkulturen ermöglichen. Dadurch, dass das agile Projektteam in einem losen Austausch weniger in seinem Projektfortschritt behindert wird, können mehr Erfolge der agilen Projektarbeit mit Mitarbeitenden aus nicht-agilen Bereichen geteilt werden, die zur Entwicklung geteilter agiler Werte beitragen.
Insgesamt können die Ergebnisse helfen, Konflikte zwischen flexiblen und stabilitätsorientierten Subkulturen in Organisationen frühzeitig zu erkennen und ihnen mithilfe der aufgezeigten Lösungsstrategien entgegengenzuwirken. Zudem implizieren die Ergebnisse, dass bei großen kulturellen Unterschieden ein inkrementeller Kulturwandel empfehlenswert sein kann und dass anfängliche Kompromisse hinsichtlich agiler Werte die agile Transformation unterstützen können.

5 Limitationen

Unsere Studie weist diverse Limitationen auf. Obwohl das Projekt AGIL im Organisationsumfeld von BANK ein geeignetes Fallbeispiel zur Untersuchung unserer Fragen ist, stellt es nur einen Beobachtungspunkt dar. Dadurch ist die Generalisierbarkeit unserer Ergebnisse eingeschränkt. Sie können jedoch auf andere Organisationen übertragen werden, die über eine gleichermaßen stabilitätsorientierte Kultur verfügen. Eine vergleichende Fallstudienanalyse mehrerer Projekte oder Organisationen (Eisenhardt 1989) könnte ermitteln, inwiefern die in AGIL bestehenden kulturellen Unterschiede, Konflikte und Praktiken zur Konfliktlösung auch in anderen Kontexten angewendet werden.
Obwohl unser qualitativer Datenansatz geeignet ist, um zu verstehen, wie Konflikte aus kulturellen Unterschieden entstehen, zu welchen Konsequenzen sie führen und wie sie reduziert werden können, hätte eine quantitative Analyse der kulturellen Unterschiede mithilfe des Organizational Cultural Assessment Instruments (Cameron und Quinn 2006) eine nuanciertere Einordnung der Organisationskultur von BANK und Projektkultur von AGIL in das Competing Values Framework ermöglicht.
Da das Projekt AGIL eine mehrjährige Projektlaufzeit hat, war es zum Zeitpunkt unserer Datenerhebung noch nicht abgeschlossen. Da unsere Datenerhebung mehr als ein Jahr nach Projektbeginn stattfand, können unsere Interviews dennoch die positive Wirkung der drei Praktiken zur Konfliktlösung beurteilen. Unsere Interviewpartner berichteten von deutlichen Verbesserungen in der Projektarbeit nach der Implementierung der Praktiken. Ob das Projekt jedoch als erfolgreiches agiles Pilotprojekt die kulturelle und agile Transformation von BANK tatsächlich vorantreibt, kann mit unserer Studie nicht final beantwortet werden.

6 Fazit

Unsere Studie zeigt, wie kulturelle Unterschiede zwischen agilen Projekten und ihrem nicht-agilen Organisationsumfeld Konflikte hervorrufen, die durch teilweise Anpassungen an die nicht-agile Organisationskultur und die Isolation des agilen Projektes gelöst werden können. Unsere Ergebnisse bieten Impulse für Theorie und Praxis. Sie zeigen, dass konterintuitive Anpassungen und Kompromisse zugunsten der nicht-agilen Organisationskultur besonders in den ersten Phasen einer agilen Transformation vorteilhaft sein können. So können Voraussetzungen für den Projekterfolg geschaffen werden, wodurch die Akzeptanz agiler Werte unterstützt wird. Künftige Forschungsvorhaben können daran ansetzen, Praktiken zur Lösung kultureller Konflikte in unterschiedlichen Phasern agiler Transformationsvorhaben zu vergleichen.
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Literatur
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Metadaten
Titel
A Clash of Cultures: Wie beeinflussen kulturelle Unterschiede agile Transformationen?
verfasst von
Moritz Michael Zinn, M.Sc.
Carolin Müller, M.Sc.
Christine Herter, M.Sc.
Publikationsdatum
13.05.2023
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
DOI
https://doi.org/10.1007/s11612-023-00687-4

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