3.1 Geschichten, Erzählungen, Narrative und Weltbilder
3.1.1 Die Macht der Geschichten
Zitat 3.1: Peter Stephen Paul Brook (*1938) | |
„[…] ich denke nach wie vor, dass Geschichten ein wichtiger Teil unseres Lebens sind […], dass wir also die Realität oft in Erzählungen für uns zusammensetzen. Aber wir dürfen das nicht mit dem Leben selbst verwechseln. […] Wir müssen also unterscheiden zwischen dem Leben und dem Erzählen vom Leben. Die Storifizierung der Realität derzeit verwischt aber diese Grenzen. […] Außer in der Werbung und der Politik lässt sich das zum Beispiel auch in diversen akademischen Disziplinen beobachten. […] Im Großen und Ganzen ist das eine positive Entwicklung. Aber sie scheint über einen Punkt hinauszuwachsen, wo sie den Blick für die Grenzen des Erzählens verliert, dafür, was es vermag und was nicht und wie nötig es gleichzeitig auch immer ist, Erzählungen nicht einfach hinzunehmen, sondern zu analysieren und hinterfragen. […] Es würde hauptsächlich bedeuten, sich dessen mehr bewusst zu sein, was man liest, und sich nicht nur zu fragen, was die Geschichte dir sagen will, sondern auch, wie sie das tut, wie sie dich verführt.“8
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3.1.2 Geschichten, Erzählungen und Narrative
Zitat 3.2: Norman Ächtler (*1980) | |
„Im deutschsprachigen Bereich [treten] inzwischen viel verwendete Ausdrücke wie […] ‚große Erzählung‘ oder ‚Meistererzählung‘ – und auch der […] gegenwärtig besonders schillernde Neologismus [neues Wort] ‚Narrativ‘ [auf…]. Es handelt sich um flexible Worthülsen, ‚die verwendet werden, als wären sie immer schon vertraut und wohlbekannt, obgleich sie in durchaus verschiedener und teilweise widersprüchlicher Weise in Anspruch genommen werden‘. Zur ‚allgemeinen Währung der Kommunikation‘ werden solche Ausdrücke dann, […] wenn sie sich als Platzhalter für terminologische Leerstellen der Diskurse setzen lassen.“16
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3.1.3 Weltbilder und Weltanschauungen
Geschichte | Variation einer Erzählung |
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Erzählung | Wiedergabe eines Geschehens, bei dem Ereignisse in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden |
Narrativ | Sinn- und identitätsstiftende Moral der Geschichte |
Weltbild | Modell bzw. systematisierte Vorstellung, wie die Welt funktioniert |
Weltanschauung | Ein Weltbild, das Wertungen und Deutungen vornimmt |
3.1.4 Erzählstrukturen
3.2 Geschichten und Erzählungen der Circular Economy und Bioökonomie
3.2.1 Die Erzählung der Circular Economy
3.2.1.1 Zwei Geschichten aus dem Marketing
Zitat 3.3: PwC-Broschüre „The Road to Circularity“ (2019) | |
„An alternative model“ (I) „Today’s global economic system is based on a linear model that became dominant after the first industrial revolution introduced the concept of mass production. This model has delivered economic growth and increased prosperity over the past 200 years. Particularly since the end of the 1940's, technological and social innovation has boosted living standards for a majority of people on our planet. In terms of economic growth it has been a story of incredible success (II/III) Within the same period of time, however, the Earth’s ecosystems have started to show signs of serious stress […]. The linear model involves extracting natural resources to make products, that are used for a limited period of time, before being discarded as waste. lt is often referred to as the ‚take-make-dispose‘ industrial model (IV) In contrast, a circular economy is an alternative economic model that involves decoupling economic activity from the consumption of finite resources. A circular economy model derives its inspiration from nature’s biological cycle and creates closed loop material and energy cycles where waste is a problem because it is seen as value leakage (V) A circular model means using resources efficiently and prioritising renewable inputs, maximising a product’s usage and lifetime in order to extract the maximum value, and recovering and reusing by-products and waste to make new materials or products […]. It is about responsibly managing the flow of renewable resources and the stock of finite materials“42
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Zitat 3.4: PwC-Broschüre „The Road to Circularity“ (2019) | |
„Whats new?“ (I) “The concept of circularity is as old as time itself - because our planet has always functioned in this way. Ever since life first emerged on Earth, organic material has been created and recreated in an abundant manner. Nothing in nature is wasted because all materials re-enter the ecosystem through a circular biological process that forms a continuous cycle (II/III) It is only in the last 200 years since the industrial revolution that human production has started to operate according to a linear model. In many ways, the modern world that humankind has built is an anomaly when viewed in the full context of the history of our species and our planet (IV) If successful, the transition to a circular economy has the potential to take us back to where we began and organise our economy in a way that mirrors nature. Organic material will re-enter the ecosystem through circular biological processes, as part of a continuous cycle where nothing is wasted (V) A circular economy regenerates ecosystems to better support health and well-being of both our planet and people. By converting the take-make waste approach into value loops, creating more from less, the circular economy decouples resource use from value creation“43
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Geschichte 1: „An alternative model“ | Geschichte 2: „What's new?“ | |
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Held/Heldin | Menschliche Gesellschaft bzw. die Wirtschaft oder die von PwC adressierten Unternehmen | Kreislaufwirtschaft der Natur bzw. das zirkuläre Wesen der Natur |
I Ausgangs- bzw. Alltagssituation | Heutige, durch wirtschaftlichen Wohlstand geprägte Zeit | Durch Kreisläufe und Gleichgewichte geprägte Frühzeit der Erde |
II/III: Störung | Abnehmende Belastbarkeit der Ökosysteme | Industrielles Wirtschaften |
IV: Transformation | Menschen bzw. Unternehmen lassen sich von den Kreisläufen der Natur inspirieren | Kreisläufe nach dem Vorbild der Natur transformieren die Wirtschaft |
V. Wiederhergestelltes Gleichgewicht | Durch wirtschaftlichen Wohlstand geprägte Circular Economy | Wiederhergestellte Natur, Aufhebung der Mensch-Natur-Trennung |
3.2.1.2 Die Erzählung
Die Erzählung der Circular Economy |
Mit der Natur und der menschlichen Sphäre ist die Welt in zwei Bereiche aufgeteilt, in denen unterschiedliche Prinzipien wirken. Während in der Natur ewige bzw. kontinuierliche Kreisläufe Ressourceneffizienz und Wachstum garantieren, werden in der menschlichen, linearen Wirtschaft Ressourcen verschwendet. Das Schisma zwischen der menschlichen Sphäre und der Natur gefährdet die Existenz beider Bereiche. Die Spaltung kann aber durch die Circular Economy aufgehoben werden. Durch sie werden Materialien und Stoffe in einem kontinuierlichen Kreislauf immer wieder erneuert. Die Circular Economy ahmt die Natur und ihre Kreisläufe nach und ist dadurch wie die Natur. |
Zitat 3.5: Das Vorbild Natur in der Circular Economy (1) | |
(a) Louis-Sébastien Mercier (1780er-Jahre) | |
„Drum geht denn, wie im ewigen Kreislauf der Natur, auch in der Hauptstadt nichts verloren So wie das Atom bleiben auch erhalten: das abgetragene Hemd, die durchgewetzte Hose und der ausgetretene Schuh, nichts davon verkommt, geht unter nein, wirklich gar nichts; stets findet sich jemand der haargenau in eine dieser abgelegten fertigen Hüllen paßt!“45
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(b) PwC-Broschüre „The Road to Circularity“ (2019) | |
„By mimicking nature a circular economy enables us to (re-)organise our economy as a continuous cycle where nothing is wasted and value creation is maximised. It creates closed loop material and energy cycles where all materials re-enter the system in a continuous cycle, thus decoupling economic activity from the consumption of finite resources.“46
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(c) Industrielle Ökologie (2002) | |
„[…] industrial ecology looks to non-human ‚natural‘ ecosystems as models for industrial activity.“47
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(d) Regenerative Design (1994) | |
„Regenerative design means replacing the present linear system of throughput flows with cyclical flows […]. The same principles, however, can apply to the economy as a whole. In a scientific sense, regeneration involves a set of demonstrable natural processes that we can make operational for human purposes.“48
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(e) Natural Capitalism (2000) | |
„In nature, nothing edible accumulates; all materials flow in loops that turn waste into food, and the loops are kept short enough that the waste can actually reach the mouth. Technologists should aim to do the same.“49
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(f) Cradle to Cradle (2014) | |
„Wenn es uns wirklich gut gehen soll, müssen wir lernen, das hoch effektive Wiege-zu-Wiege-System der Natur mit seinen Nährstoffströmen und Metabolismen zu imitieren, ein System, in dem ‚Abfall‘ überhaupt nicht vorkommt.“50
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(g) Blue Economy (2010) | |
„Hoch produktive Industriezweige der Blue Economy […] orientieren sich daran, wie die Natur die Gesetze der Physik und der Biochemie nutzt, um harmonisch abgestimmte Systeme zu schaffen, mit großzügigen Kreisläufen und Kaskaden, in denen Materie und Energie mühelos, effizient und ohne Abfall und Energieverlust ineinander übergehen. Die Kräfte der Physik geben nicht nur die Parameter des Lebens auf der Erde vor, sie formen auch das Leben. Wenn wir […] in regenerativen Kreisläufen denken, [wird] unser blauer Planet Erde mit all seinen Bewohnern eine Zukunft [erleben], die nicht besser sein könnte.“51
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(h) Ellen MacArthur Foundation (2013) | |
„Based on natural principles. The circular economy takes its insights from living systems as these have proved adaptable and resilient, and model the ‘waste is food’ relationship very well.“52
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(i) Produktionstechnik (2020) | |
„Die biologische Transformation bringt ein neues Denken mit sich und nutzt die Natur als Vorbild, ein resilientes Produktionssystem zu schaffen. Die Produktion der Zukunft soll nicht länger durch lineares Denken und einseitige Output-Optimierung geprägt sein, sondern sich wie die Natur als ganzheitliches und vernetztes System organisieren. Daher ist es von großem Interesse, die Idee der Kreislaufwirtschaft in die Produktion zu integrieren, sodass das Naturprinzip der Ressourceneffizienz und der Stoffkreisläufe genutzt werden kann. […] Eine Adaption dieser Eigenschaften in Produktionssysteme bergen großes Potenzial. […] Die Kreislaufwirtschaft nimmt sich den Stoffkreislauf der Natur zum Vorbild, der alle Prozesse der Produzenten und Konsumenten umfasst, die den Auf-, Um- und Abbau von Stoffen einschließen wie z. B. Fotosynthese, Atmung und Gärung.“53
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(j) Fachartikel (2015) | |
„A further example of biomimicry is the Circular Economy; this mirrors natural life cycles where dead organic material decomposes to become a nutrient for the next generation of living organisms.“54
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3.2.2 Die Erzählung der Bioökonomie
Die Erzählung der Bioökonomie
Mit der Natur und der menschlichen Sphäre ist die Welt in zwei Bereiche aufgeteilt, in denen unterschiedliche Prinzipien wirken. Während in der Natur ewige bzw. kontinuierliche Kreisläufe Ressourceneffizienz und Wachstum garantieren, werden in der menschlichen, linearen Wirtschaft Ressourcen verschwendet. Das Schisma zwischen der menschlichen Sphäre und der Natur gefährdet die Existenz beider Bereiche. Die Spaltung kann aber durch die Bioökonomie aufgehoben werden. Durch sie werden Materialien und Stoffe in einem kontinuierlichen Kreislauf immer wieder erneuert. Die Bioökonomie passt die Natur und ihre Kreisläufe an ökonomische Bedürfnisse an und macht sie zu einem Teil der Wirtschaft. |
Zitat 3.6: Das Vorbild Natur in der Bioökonomie (1) | |
Sie ernährt den Menschen. Sie kleidet ihn. Sie wärmt ihn. Sie bewegt ihn. Sie gibt ihm ein Dach über dem Kopf. Sie pflegt und heilt ihn. Sie verbindet ihn mit der Natur. | |
„Die Natur hat dem Menschen schon immer alles gegeben, was er zum Leben brauchte. Und biobasiert war das Wirtschaften mit natürlich nachwachsenden Rohstoffen wie Holz jahrtausendelang – wenn auch meist zu Lasten der Natur. Heute versteht die menschliche Gesellschaft die natürlichen Kreisläufe besser. Um die Natur und die wichtigen Ressourcen zu erhalten, muss sie sich in Zukunft nachhaltiger und ökonomisch – eben bioökonomisch – verhalten. Bioökonomisch zu denken heißt, die Kreisläufe der Natur zu kennen und für die Energiewirtschaft, die Nahrungsmittel-, Papier- und Textilindustrie oder auch Chemie und Pharmazie nicht nur auszunutzen, sondern auch im Sinne von Umwelt- und Ressourcenschutz zu erhalten. Das erfordert Bioökonomie-Forschung für Innovation. Bioökonomisch ist es zum Beispiel, Mikroorganismen Stoffe für den Haushalt oder die Industrie produzieren zu lassen. Energiereiche sowie klima- und umweltschädliche Herstellungsprozesse können so ersetzt werden. Bioökonomisch ist es auch, mithilfe von Mikroorganismen Biopharmaka wie Insulin herzustellen und damit vielen Menschen zu Schmerzlinderung und Heilung zu verhelfen. Ein neuer Wirtschaftszweig ist die Bioökonomie hingegen nicht. Vielmehr ist sie ein Zeugnis des Umdenkprozesses, der in vielen Industrien und wirtschaftlichen Sektoren bereits in vollem Gange ist. Mal werden einzelne, chemisch produzierte Stoffe durch biologische Alternativen ersetzt, um Umweltschutzauflagen zu erfüllen. Mal wird die Nachfrage nach naturverträglichen Produkten bedient, etwa wenn Lego-Bausteine nicht mehr aus erdölbasiertem Plastik hergestellt werden müssen. Der Wandel zu einer solch „grüneren Wirtschaft“, einer echten Bioökonomie, ist nicht möglich ohne politische Weichenstellungen. Es braucht Anreize, die Unternehmern und Verbrauchern die langfristigen Vorteile bioökonomischen Handelns näherbringen. Und es braucht ein gesellschaftliches Umdenken, dass Wirtschaftswachstum nur mit ökologischen und sozial gerechten Produkten wirklich wertvoll für die Gesellschaft ist. Damit einher gehen Einschränkungen und Wachstumschancen für die Zukunft. Dieses Ziel lässt sich nicht nur durch neue, attraktive Produkte erreichen. Verhaltensänderungen sind nötig – womit nicht nur Verzicht auf bioökonomisch schädliche Produkte gemeint ist, sondern vor allem Kreativität und gesellschaftliches Engagement für neue Ideen, die die Natur nicht mehr nur nutzen, sondern erhalten und als Quelle für ein gesundes Leben dieser und künftiger Generationen des Menschen schützen wollen.“55
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Zitat 3.7: Das Vorbild Natur in der Bioökonomie (2) | |
(a) Europäische Komission (2005) | |
„White biotechnology is the application of nature’s toolset to industrial production.“56
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(b) Europäische Komission (2013) | |
„A Bioeconomy Strategy for Europe: Working with nature […]“57
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(c) Deutsche Bundesregierung (2014) | |
„Die Nationale Forschungsstrategie […] setzt darauf, den Kohlenstoff Kreislauf der Natur in einer künftigen biobasierten Industrie abzubilden.“58
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(d) Bioökonomierat (2016) | |
„In einer zukunftsfähigen Bioökonomie […]sollten [die Ressourcen] nach dem Vorbild der Natur im Kreislauf geführt werden.“59
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(e) Deutsche Bundesregierung (2020) | |
„Bioökonomische Innovationen vereinen biologisches Wissen mit technologischen Lösungen und stellen die natürlichen Eigenschaften biogener Rohstoffe hinsichtlich Kreislauffähigkeit, […] in den Dienst eines nachhaltigen Wirtschaftens.“60
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(f) Bioökonomierat (2022) | |
„Auf diese Weise könnte Bioökonomie zu einer zentralen Antwort auf die Herausforderungen einer nachhaltigen Gesellschaft weiterentwickelt werden, wenn sich diese dann an natürlichen Kreislaufprozessen und Korrekturmechanismen als Vorbild orientiert.“61
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(g) Bioökonomierat (2022) | |
„Die von der Natur erbrachten Ökosystemleistungen haben eine fundamentale Bedeutung für die Ziele der Bioökonomie.“62
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(h) Manifest Nachhaltige Bioökonomie (2021) | |
„Aus unserer Sicht bietet die Bioökonomie eine Vision vom nachhaltigen Wirtschaften, in der die Natur mit ihren Kreisläufen und Korrekturmechanismen als Vorbild dient. […Sie] entwickelt sich im gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen Wirtschafts- und Naturkreisläufen.“63
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