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Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 1/2023

Open Access 01.12.2022 | Schwerpunkt

Digitale Lieferantennetzwerke – Einblicke in die Digitalisierungsfortschritte der Beschaffung

verfasst von: Marcel André Hoffmann, Laura Wetsch, Rainer Lasch

Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik | Ausgabe 1/2023

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Zusammenfassung

Der Anteil der Wertschöpfung an Produkten durch Lieferanten hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Dies bedingt eine hohe Komplexität von Lieferketten und stellt das strategische und operative Beschaffungswesen vor große Herausforderungen. Gleichzeitig steht heute eine Vielzahl an Technologien zur Verfügung, um diese Komplexität zu bewältigen, Informationsasymmetrien abzubauen und transparente, fehlersichere Prozesse zu ermöglichen.
Während die Potenziale digitaler Lieferantennetzwerke weitgehend evident sind, sind digitale Technologien wie Internet of Things (IoT), Blockchain oder künstliche Intelligenz (KI) bisher kaum praktisch in Unternehmen implementiert.
Mit Hilfe einer empirischen Fallstudie wurde untersucht, inwieweit die Digitalisierung als strategisches Unternehmensziel verfolgt wird und welche Hindernisse bei der Einführung digitaler Lieferantennetzwerke bestehen. Dazu wurden elf Experten aus der strategischen und operativen Beschaffung von acht Unternehmen des produzierenden Gewerbes in Form einer leitfadengestützten Interviewstudie befragt und deren Erfahrungen ausgewertet.
Die Ergebnisse implizieren, dass in vielen Fällen grundlegende Voraussetzungen für eine erfolgreiche digitale Transformation fehlen und in vielen Unternehmen keine ausreichenden Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Weiterhin wurde festgestellt, dass der Nutzen digitaler Technologien in der Beschaffung häufig sehr einseitig ist und bisher nur selten Netzwerkvorteile genutzt werden. Um dieser zögerlichen Entwicklung entgegenzuwirken, werden Handlungsempfehlungen für eine erfolgreiche Implementierung und stärkere Kooperation in der Lieferkette aufgestellt und weiterer Forschungsbedarf identifiziert.

1 Einleitung und einschlägige Literatur

1.1 Einleitung

Digitale Technologien wie Big Data Analysis, IoT und KI haben heute weitläufigen Einzug in logistische Prozesse gefunden und stellen eine Voraussetzung für die Vernetzung von Akteuren innerhalb einer Lieferkette dar. Lieferantennetzwerke betrachten nicht nur die dyadischen Beziehungen zwischen Lieferanten und Abnehmern, sondern verbinden mehrere Supply Chains oder deren Bestandteile, durch eine horizontale, vertikale oder laterale Kooperation. Durch die Vielzahl an beteiligten Unternehmen sind Netzwerke durch eine hohe Komplexität charakterisiert, was die Steuerung von Prozessen erschwert. Dies liegt auch darin begründet, dass der Anteil der Wertschöpfung am Endprodukt durch Lieferanten immer weiter ansteigt (Bogaschewsky 2019). Um weitreichende Effizienzsteigerungen zu ermöglichen, ist die Einbindung aller Akteure, vom TIER-X-Lieferanten bis zum Endkunden, nötig. Ein solches Netzwerk besteht aus fünf Basis-Elementen: Lieferanten, die das Unternehmen mit unterschiedlichen Dienstleistungen, Materialien und Waren beliefern, Produktionsstandorten, Distributionszentren sowie Absatzgebieten und Transportmitteln (Klibi und Martel 2012). Die Zusammenarbeit innerhalb des Netzwerks wird durch den Einsatz von geeigneten IT-Netzwerken bzw. Anwendungssystemen unterstützt (Durugbo 2016). Diese IT-gestützte Beziehung zwischen verbundenen Akteuren mehrerer Supply Chains stellt ein digitales Lieferantennetzwerk dar.

1.2 Einschlägige Literatur

Appelfeller und Feldmann (2018) stellen ein Referenzmodell für die digitale Transformation der Beschaffung und des Lieferantenmanagements vor. Weiterhin werden ein mehrstufiges Reifegradmodell für die Digitalisierung von Unternehmensprozessen und eine Reihe von Handlungsempfehlungen aufgestellt, die eine erfolgreiche Umsetzung von Digitalisierungsstrategien ermöglichen. Helmold und Terry (2016) stellen praxisorientierte Ansätze auf, innerhalb derer die digitale Transformation des Lieferantenmanagements dargestellt wird. Dabei werden Prognosen und Thesen aufgestellt, wie sich das Lieferantenmanagement bis zum Jahr 2030 verändern wird und welche Technologien dabei an Relevanz gewinnen werden. Bienhaus und Haddud (2018) untersuchen Hürden und Risiken sowie den Einfluss der Digitalisierung auf den strategischen Einkauf. Weiterhin wird die Auswirkung des erfolgreichen Einsatzes von digitalen Technologien auf den strategischen Stellenwert der Beschaffung innerhalb der Unternehmensorganisation beleuchtet. Die Autoren stellen heraus, dass bisher keine Interviewstudie mit Experten veröffentlicht wurde, die praktische Erfahrungen mit digitaler Transformation in Unternehmen haben.
In einer umfangreichen systematischen Literaturrecherche stellen Frederico et al. (2019) die grundlegenden Eigenschaften von digitalen Lieferketten dar und zeigen auf, dass sowohl die strategische Ausrichtung und Relevanz als auch die Hürden in diesem Bereich weiter zu erforschen sind. Büyüközkan und Göçer (2018) konstatieren, dass die Einflüsse der Entwicklungen innerhalb von Industrie 4.0 auf die Supply Chain und deren Bestandteile genauer zu erforschen sind und bisher eine Lücke zwischen Theorie und Praxis bei der Einführung digitaler Lieferantennetzwerke existiert.

1.3 Zielstellung

Um die aufgezeigte Forschungslücke zu adressieren, wird eine Fallstudie mittels leitfadengestützter Interviewstudie durchgeführt. Dazu wurden elf Beschaffungsexperten aus acht Unternehmen unterschiedlicher Größe und Branche befragt, um die folgenden Forschungsfragen zu beantworten:
  • FF1: Wie wird Digitalisierung in der Beschaffung als strategisches Unternehmensziel verfolgt?
  • FF2: Wie werden Hindernisse digitaler Lieferantennetzwerke von Unternehmen bewertet?
  • FF3: Welche Handlungsempfehlungen können für die Implementierung digitaler Lieferantennetzwerke gegeben werden?
Zur Beantwortung der Forschungsfragen werden in Kap. 2 zunächst das methodische Vorgehen der empirischen Untersuchung vorgestellt und der Stand der Digitalisierung sowie Hindernisse der Einführung digitaler Lieferantennetzwerke in den befragten Unternehmen diskutiert. Das Kap. 3 widmet sich den Handlungsempfehlungen für die praktische Implementierung digitaler Lieferantennetzwerke und Kap. 4 schließt die Untersuchung mit einer Schlussbetrachtung, Limitationen und weiterem Forschungsbedarf ab.

2 Empirische Untersuchung zur Digitalisierung im Beschaffungswesen und Einführung digitaler Lieferantennetzwerke

2.1 Methodisches Vorgehen

Um das Forschungsziel zu erreichen und die gestellten Forschungsfragen zu beantworten, wurde eine Fallstudie durchgeführt, die für explorative, deskriptive und erklärende Forschungsvorhaben geeignet ist. Nach Yin (2018) wird dieser Ansatz in die folgenden vier Schritte unterteilt: 1) Planung und Design, 2) Datenerhebung, 3) Datenanalyse und 4) Auswertung.
In Schritt 1) wurden das Forschungsziel und die Forschungsfragen definiert, sowie die Auswahl an Interviewpartnern vorgenommen. Als Interviewpartner wurden Mitarbeiter des strategischen und operativen Einkaufs produzierender Unternehmen ausgewählt, um den Sachverhalt für die Entwicklung digitaler Lieferantennetzwerke aus dem Unternehmen heraus zu verstehen und zu erklären (Misoch 2019). Bei der Auswahl der Experten wurde Wert auf eine Divergenz von Branche, Unternehmensgröße und Erfahrung der Befragten gelegt. Falls keine Detailinformationen zu den Kontaktpersonen vorlagen, erfolgte eine telefonische Kontaktaufnahme mit dem Unternehmen, um nach einem geeigneten Ansprechpartner zu fragen. Informationen zu Branche und Kennzahlen der Unternehmen sowie zu Positionen und Erfahrung der Interviewpartner sind in Tab. 1 zusammengefasst. Die Einteilung der Unternehmensgröße basiert auf Umsatz und Mitarbeiteranzahl gemäß der Definition für KMU der EU-Kommission (European Commission 2003).
Tab. 1
Interviewpartner der empirischen Studie
Unternehmen
Branche
Unternehmensgröße
Position Interviewpartner
Erfahrung Beschaffung
AUTO
Automobilzulieferer
Mittel
Strategischer Einkaufsleiter
10–15 Jahre
Operativer Einkauf
5–10 Jahre
BAU
Baustoffindustrie
Klein
Leiter Buchhaltung und Einkauf
5–10 Jahre
ELEK‑1
Elektrotechnik
Mittel
Project Development & Sales
5–10 Jahre
ELEK‑2
Elektrotechnik/Energietechnik
Groß
Operativer Einkauf
5–10 Jahre
Projekt Management
10–15 Jahre
ELEK‑3
Spannungstechnik
Groß
Leiter Einkauf
> 15 Jahre
HAL
Halbleiterindustrie
Groß
Leiter Globaler Einkauf
> 15 Jahre
Senior Analyst Business Process Improvement
< 5 Jahre
TECH‑1
Technologie- und Mischkonzern
Groß
Implementation Manager Digitalization Projects
5–10 Jahre
TECH‑2
Technologie- und Mischkonzern
Groß
Leiter Einkauf Kunststoffe und Flüssigkeiten
10–15 Jahre
Die Datenerhebung in Schritt 2) wurde in Form einer teilstrukturierten und leitfadengestützten Interviewstudie durchgeführt. Durch den Leitfaden erhalten die Interviewpartner vorab einen Überblick über die Thematik und dieser dient der Vergleichbarkeit der erhobenen Daten. Der Leitfaden enthält keine vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, sodass während des Interviews Ad-hoc- oder Rückfragen möglich sind, um Sachverhalte genauer erläutern zu können. Die Interviews wurden in deutscher und englischer Sprache geführt und dauerten zwischen 50 und 70 min.
Die strukturierte und qualitative Inhaltsanalyse der Transkripte in Schritt 3 erfolgte in Anlehnung an Mayring (2016) und wurde durch die Analysesoftware MAXQDA 2020 unterstützt. Diese Software ermöglicht eine Kodierung der Interviewtranskripte zur Strukturierung der Datenanalyse. Das Kategoriensystem wurde deduktiv auf Basis theoretischer Vorüberlegungen und der Struktur des Leitfadens entwickelt und orientiert sich an den Forschungsfragen und dem Forschungsthema (Kuckartz und Rädiker 2022). Die induktiven Kategorien wurden im Laufe des Analyseprozesses entwickelt. Der daraus resultierende deduktiv-induktive Ansatz verhinderte die Nichtberücksichtigung relevanter Informationen und gewährleistete Offenheit, indem er die Entwicklung von Codes während der Analyse ermöglichte. Während die Interviews als Primärquelle für die durchgeführte Studie dienen, wurden sekundäre Quellen wie Internetseiten oder Jahresabschlüsse für eine Triangulation und Verifikation der Ergebnisse hinzugezogen.
Um eine hohe Qualität der Fallstudie zu gewährleisten, wurden die Gütekriterien nach Yin (2018) zur Durchführung qualitativer Fallstudienforschung angewendet. Dazu zählen Objektivität, Reliabilität sowie interne, externe und Konstruktvalidität. Die Objektivität und Reliabilität sind Voraussetzungen für die Reproduzierbarkeit einer Fallstudie. Die damit einhergehende Vermeidung von Fehlern und Verzerrungen wird durch ein transparentes und kontrollierbares Vorgehen sichergestellt. Dazu wurde vorab ein Forschungsprotokoll vorbereitet, die Durchführung der Fallstudie genau dokumentiert und die erhobenen Daten archiviert.
Konstruktvalidität ist gewährleistet, wenn die richtigen Verfahren angewandt werden, um die gestellten Forschungsfragen zu beantworten. Dazu wurde den Interviewpartnern im Vorfeld eine Zusammenfassung des Interviewleitfadens zur Vorbereitung zugesendet. Zusätzlich wurde eine Anonymisierung der Personen und Unternehmen zugesichert, damit die Interviewten sich auch kritisch über Sachverhalte äußern können ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Externe Validität beschreibt die Generalisierbarkeit und Übertragbarkeit der Untersuchungsergebnisse. Dazu wurden Interviewpartner aus unterschiedlichen Branchen und verschiedener Unternehmensgrößen ausgewählt. Zusätzlich wurde sowohl die Sichtweise von Kunden als auch von Seiten der Zulieferer betrachtet. Interne Validität ist gekennzeichnet durch die logische Darstellung der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in den Forschungsdaten (Yin 2018). Muster in den Daten sollten systematisch und transparent verglichen werden, was in der Studie durch die Strukturierung der Datenanalyse mittels eines Kategoriensystems gewährleistet wurde. Außerdem wurde nach Widersprüchen in den Forschungsdaten gesucht, um die interne Validität zu gewährleisten.
Die Auswertung der Interviewergebnisse hinsichtlich der gestellten Forschungsfragen erfolgt nun in den folgenden Kapiteln.

2.2 Digitalisierung in der Beschaffung

Die betrachteten Unternehmen wurden zunächst hinsichtlich ihres Ist-Zustands und der strategischen Ausrichtung des Beschaffungswesens näher betrachtet. Dazu wird der Einfluss der Unternehmensgröße auf den Stand der Digitalisierung der befragten Unternehmen in Form einer Within-Case Analyse durchgeführt. Weiterhin werden in diesem Kapitel die Schwerpunkte zentrale Koordination (Shee et al. 2018), Digitalisierungsstrategie & Ziele (Frederico et al. 2019) sowie Technologieeinsatz (Appelfeller und Feldmann 2018) untersucht.

2.2.1 Einfluss der Unternehmensgröße auf die Digitalisierung

Bei den Unternehmen ELEK‑2, ELEK‑3, HAL, TECH‑1 und TECH‑2 handelt es sich per Definition um Großunternehmen. Die Unternehmen AUTO, BAU und ELEK‑1 können im Bereich kleiner und mittelständischer Unternehmen eingeordnet werden. Innerhalb dieses Unterkapitels soll geklärt werden, ob der Fortschritt bei der Einführung eines digitalen Lieferantennetzwerks von der Größe des Unternehmens und der damit einhergehenden Strukturen und Prozesse abhängig ist.
Innerhalb der Großunternehmen ELEK‑2, ELEK‑3, HAL, TECH‑1 und TECH‑2 ist eine ausgeprägte Diversifikation einzelner Einkaufsbereiche zu erkennen. Dazu zählen die Unterteilung in die Beschaffung von Direktmaterial (Rohstoffe, Material, Komponenten, etc.) sowie die Beschaffung von indirekten Gütern (Dienstleistungen wie z. B. Transport von Waren). Darüber hinaus beschäftigen sich innerhalb dieser Unternehmen gezielt Ressourcen innerhalb der Beschaffung mit dem Supply Chain Management, um der Komplexität der Beschaffung Rechnung zu tragen.
Generell sind alle befragten Großunternehmen hinsichtlich digitaler Lieferantennetzwerke weiter vorangeschritten als die befragten KMUs dieser Untersuchung. Des Weiteren stellt die Mehrheit der befragten Großunternehmen eine bzw. mehrere Ressourcen für den Digitalisierungsprozess zur Verfügung. Dabei ist die Kapazität der dafür eingesetzten Mitarbeiter fast zu 100 % für die Gestaltung und Steuerung digitaler Lieferantennetzwerke ausgelegt (HAL, TECH‑1, TECH-2), während bei anderen Unternehmen die Verantwortlichen neben dem täglichen Geschäft zusätzlich Kapazitäten für die Planung und Durchführung von Digitalisierungs-Projekten aufbringen müssen (insb. ELEK‑2, AUTO).
Darüber hinaus ist zu erkennen, dass zwei von fünf Großunternehmen (TECH‑1, TECH-2) bereits Digitalisierungs-Technologien eingeführt und kontinuierlich im Einsatz haben. Zwei weitere Großunternehmen haben in der Zukunft den Einsatz von neuen Technologien geplant (ELEK‑2, HAL). Das verbleibende Großunternehmen ELEK‑3, welches keine entsprechenden Technologien im Einsatz hat, sieht bislang keinen wirtschaftlichen Nutzen und auch keinen Einsatzbedarf. Bei diesem Unternehmen findet ein Großteil der Kommunikation mit den Lieferanten via Lieferantenportale statt. Aus den Interviews lässt sich erkennen, dass vier von fünf Großunternehmen entweder die Intention haben oder bereits Schritte eingeleitet haben, um ein digitales Lieferantennetzwerk weiterzuentwickeln.
Dahingegen schließt das KMU AUTO den Einsatz disruptiver Technologien auf Grund von Datensicherheitsbedenken aus (AUTO). Das KMU ELEK‑1 sieht eine Orientierung am Kundenwunsch an dieser Stelle als notwendig und das dritte KMU BAU äußert sich im Interview nicht zum Einsatz disruptiver Technologien.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Unternehmensgröße zumindest in den hier dokumentierten Fällen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung digitaler Lieferantennetzwerke hat. Des Weiteren erzielen Großunternehmen, die gleichzeitig Ressourcen zu einem Großteil für die Digitalisierung der Beschaffung einsetzen, einen größeren digitalen Fortschritt als diejenigen Großunternehmen, die bislang nur begrenzte Ressourcenkapazität zur Verfügung stellen.

2.2.2 Zentrale Koordination

Eine zentrale Koordination bildet im Zusammenhang mit einer klar kommunizierten Strategie die Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Digitalisierung (Shee et al. 2018). Die befragten Experten geben an, dass in den meisten Unternehmen grundsätzlich eine zentrale Koordination stattfindet. Des Weiteren fällt bei der Auswertung hinsichtlich der zentralen Koordination auf, dass bei großen Unternehmen sowohl eine interne Koordination innerhalb der Abteilung als auch eine unternehmensweite Koordination mittels Reporting an das Management und die Führungsebene stattfinden (ELEK‑2, HAL, TECH‑1, TECH-2). Dieses Vorgehen trägt dazu bei, dass den verantwortlichen Mitarbeitern definierte Ressourcen innerhalb der Abteilung zugewiesen werden und die Strukturen klar sind. Darüber hinaus wird der Führungsebene durch entsprechende Berichte mit geeigneten Kennzahlen und Zwischenergebnissen ein kontinuierlicher Überblick ermöglicht, was die Transparenz erhöht und damit auch die Ergebnisse digitaler Lösungen messbar und vergleichbar macht.
Ein ähnliches Konzept wird von dem Unternehmen HAL verfolgt, bei dem Ansätze eines digitalen Lieferantennetzwerks bislang mittels eines Lieferantenportals gesteuert werden. In Zukunft ist allerdings die Einführung einer cloudbasierten Plattform zur Unterstützung der Zusammenarbeit mit Lieferanten geplant. Die Definition der Anforderungen an die Plattform erfolgt jedoch nicht gemeinsam mit den Lieferanten, sodass eine unilaterale Herangehensweise vorliegt. Kleinere Projetteams setzen sich mit verschiedenen Digitalisierungsthemen in der Beschaffung auseinander, um gezielt Anwendungsbereiche zu untersuchen.
Innerhalb des mittelständischen Unternehmens AUTO, bei dem bislang keine zentrale Koordination hinsichtlich der Digitalisierung im Beschaffungswesen stattfindet, wünschen sich die befragten Interviewpartner eine übergeordnete Koordinierung, um Ressourcenallokationen besser realisieren zu können und unter klaren Verantwortlichkeiten zu agieren.
Somit kann folgendes Fazit gezogen werden: Eine zentrale Koordination ist eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung von Digitalisierungsprojekten in Unternehmen. Dies liegt darin begründet, dass Ziele und Vorgaben unternehmensweit einheitlich, mit klaren Verantwortlichkeiten erreicht und die Ergebnisse mit einem höchstmöglichen Maß an Transparenz evaluiert werden müssen.

2.2.3 Digitalisierungsstrategie und Ziele

Hinsichtlich der Kategorie Digitalisierungsstrategie und Ziele besteht unter den befragten Unternehmen keine Einstimmigkeit. Während bei den Unternehmen ELEK‑1, -2 und -3, sowie in TECH‑1 und -2 eine Unternehmensstrategie hinsichtlich der Digitalisierung im Allgemeinen vorhanden ist, sind bei näherer Betrachtung viele Details bislang ungeklärt und die Strategien sehr heterogen.
Das befragte Unternehmen TECH‑1 hat eine klare Vision zur Digitalisierung des Konzerns sowie Ziele, die erreicht werden sollen. Der Interviewpartner sieht jedoch eine fehlende Strategie hinsichtlich des expliziten Einsatzes der Blockchain mit Lieferanten als ein Hindernis. Der Mangel an messbaren Zielgrößen durch den Einsatz der Blockchain, führte in jüngster Vergangenheit zum Ausstieg eines Lieferanten, der eine fehlende Strategie kritisch betrachtet.
„Ich persönlich beschäftige mich ja mit der Blockchain-Technologie. Da ist es so, dass wir auf der Suche waren nach Partnern, die da gerne mitmachen wollen. Der erste ist ausgestiegen, weil ihm auch die Strategie dahinter gefehlt hat“ (TECH-1).
Das Unternehmen ELEK‑3 beschreibt, dass eine Digitalisierungsstrategie unternehmensweit etabliert wurde. Allerdings weist dieses Unternehmen darauf hin, dass nur eine begrenzte Kapazität verfügbarer IT-Ressourcen existiert und alle Unternehmensbereiche ihre Anliegen hinsichtlich der Digitalisierung äußern. Im Anschluss daran erfolgt eine Priorisierung durch die Unternehmensleitung. Da es sich um ein produzierendes Unternehmen handelt, werden andere Abteilungen in den Vordergrund gestellt und eine Digitalisierung der Beschaffung rückt in den Hintergrund. Dies stellt eine Hürde bei der Entwicklung digitaler Lieferantennetzwerke dar. Es spielt eine ausschlaggebende Rolle, mit welcher Priorität die Beschaffung vom Management unterstützt wird (Gunasekaran et al. 2009; Sánchez-Rodríguez et al. 2019).
Während manche Unternehmen planen eine Vorreiterrolle einzunehmen (TECH‑1, TECH-2) und Ressourcen zur Verfügung stellen, die sich innerhalb ihrer Tätigkeit auf disruptive Technologien fokussieren können oder sollen, sind andere Unternehmen aus Gründen fehlender Ressourcen und hoher Risiken nicht dazu in der Lage (AUTO, ELEK-2).
Somit lässt sich festhalten, dass die Definition einer Digitalisierungsstrategie mit abgeleiteten und klar kommunizierten Zielen und Maßnahmen, insbesondere bei der Implementierung disruptiver Technologien, notwendig ist.
Abb. 1 zeigt die von den Interviewpartnern am häufigsten genannten Ziele der Digitalisierung in der Beschaffung, die im Folgenden näher beleuchtet werden.
Ökonomische Ziele
Die Auswertung der Ziele, welche die Unternehmen durch eine Digitalisierung der Beschaffung verfolgen zeigt, dass ökonomische Aspekte bei der Digitalisierung im Vordergrund stehen (vgl. Abb. 1). Das Unternehmen ELEK‑3 beschreibt, dass bei der Entscheidung für oder gegen eine Technologie und Digitalisierung des Einkaufs insbesondere erzielbare Kosteneinsparungen zählen. Da die entstehenden Vorteile durch den Einsatz disruptiver Technologien noch nicht ausreichend in der Praxis erforscht sind, stellt diese einseitige Betrachtungsweise von Unternehmen ebenfalls eine Hürde dar. Darüber hinaus können einige Vorteile teilweise erst nach einer gewissen Zeit der Nutzung dieser Anwendungen erzielt werden, da Erfahrungswerte notwendig sind (Appelfeller und Feldmann 2018). TECH‑2 sieht insbesondere darin die Chance administrative wertschöpfungsneutrale Prozesse automatisieren zu können. Darüber hinaus können strukturierte Daten basierend auf Big Data Analysis (BDA) zukünftig als Entscheidungsgrundlage dienen.
Die Unternehmen AUTO, HAL und ELEK‑3 gehen davon aus, dass eine erfolgreiche Implementierung digitaler Technologien ebenfalls zu reduzierten Lieferzeiten, besserer Lieferperformance und Liefertreue führen. Ein übergeordnetes Management-Ziel für das Unternehmen ELEK‑2 besteht für das Geschäftsjahr des Interviews darin, 50 % der Lieferanten per EDI anzubinden.
Risikomanagement und Transparenz
Als weiteres Ziel nennt das Unternehmen ELEK‑3 zukünftig Risiken auf der Lieferantenseite schneller erkennen zu können. Dabei sollen bestimmte Tools Ausfallrisiken eines Lieferanten bzw. eines einzelnen Auftrags analysieren und ggf. Warnungen versenden. BDA ist heute in der Lage dazu solche Risiko-Analysen innerhalb der Supply Chain durchzuführen und anschließend eine detaillierte Entscheidungsgrundlage zu bieten.
Im Vordergrund steht für die Unternehmen AUTO, BAU, ELEK‑1, ELEK‑2 und ELEK‑3 die Reduzierung manueller Tätigkeiten, um menschliche Fehler zu vermeiden. Auch die Informationsverfügbarkeit und die einhergehende Transparenz von Geschäftsprozessen sollen dadurch sichergestellt werden. Es sollen z. B. Informationen per EDI in das vorhandene ERP-System übermittelt werden.
Aus Sicht des digitalen Lieferantennetzwerks stehen die Ziele des Risikomanagements auf gleicher Stufe wie die Möglichkeit Prozesse transparenter und sicherer zu gestalten. Ein Beispiel liefert das Unternehmen AUTO, welches zum jetzigen Zeitpunkt Kundenabrufe per EDI empfängt. In einem nächsten Schritt sollen auch die eigenen Lieferanten per EDI Informationen darüber erhalten, dass durch einen Kundenabruf Materiallieferungen notwendig werden. Auch sollen einfache Auswertungen hinsichtlich Lieferantenkennzahlen durch das ERP-System ermöglicht werden.
Eines der übergeordneten Ziele durch den Einsatz der Blockchain im indirekten Materialeinkauf besteht für das Unternehmen TECH‑1 in der Nachvollziehbarkeit bzw. Nachverfolgbarkeit der Prozesse. Im Falle auftretender Probleme zeigt ein transparenter Prozess der Ursachenanalyse auf, welches beteiligte Unternehmen die Verantwortung trägt (TECH-1). Dieses Ziel scheint jedoch seinen Ursprung in einer unilateralen Sichtweise zu haben, in der jedes Unternehmen für sich ausschließen will, dass es die Kosten bei Fehlern übernehmen muss. An dieser Stelle ist es interessant weitere Untersuchungen anzustreben, welche Beweggründe Unternehmen in diesem Zusammenhang tatsächlich haben. Weiterhin ist zu analysieren, ob und wie Lieferanten auch von digitalen Lieferantennetzwerken profitieren können und welche Governance-Mechanismen die Lieferanten zur Beeinflussung des Kundenverhaltens einsetzen können (Pilbeam et al. 2012).
Kundenorientierung
Ein weiteres Ziel besteht darin, die Datenverfügbarkeit sowie den Austausch mit Lieferanten zu verbessern, um eine schnellere Reaktionsfähigkeit auf kurzfristige Kundenwünsche zu erzielen (HAL). Auch die gesamtheitliche Betrachtung der Supply Chain vom Kunden bis hin zum Lieferanten soll für das eigene Unternehmen verbessert werden. Um dies zu erreichen, sieht es das Unternehmen HAL als notwendig an, die Prozesse des Lieferanten besser zu verstehen und die Planung im eigenen Unternehmen zu optimieren, in dem u. a. Vorlaufzeiten in die Betrachtung einfließen. Eine Integration des Lieferanten in die eigenen Prozesse soll jedoch auf Grund zu geringer Mengen und Stückzahlen vorerst nicht stattfinden, wodurch eine Informationsasymmetrie erhalten bleibt (HAL).
Während ELEK‑1, HAL, TECH‑1 und TECH‑2 eine Kundenzentrierung als Vorteil sehen und diese durch die Digitalisierung ihrer Lieferantennetzwerke anstreben, sehen die Unternehmen AUTO, BAU, ELEK‑2 und ELEK‑3 darin kein primäres Ziel. Bei ELEK‑1 wird jedoch deutlich, dass es sich bei dieser Entscheidung um eine marktgetriebene Anforderung handelt, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Kunden weiterhin zu halten.
Bei der Auswertung dieser Fragekategorie wird deutlich, dass die Unternehmen keine einheitlichen Ziele mit einem digitalen Lieferantennetzwerk verfolgen. Dieser Umstand verdeutlicht die Komplexität der Veränderungen innerhalb der Beschaffung und deutet auch darauf hin, dass die Entwicklung unterschiedlich schnell und mit unterschiedlichen Zielstellungen erfolgt. Die wesentlichen Digitalisierungsaspekte der befragten Unternehmen können der Tab. 2 entnommen werden.
Tab. 2
Aktuelle Digitalisierungsaspekte der befragten Unternehmen
 
Zentrale Koordination
Digitalisierungsstrategie & Ziele
Eingesetzte Technologien
AUTO
+Keine zentrale Koordination
−Keine Unternehmensstrategie im Hinblick auf die Digitalisierung
ERP/EDI
+Jedoch wünschenswert, da ein Schnittstellenmanagement dadurch gewährleistet wird
+Abteilungsinterne Zieldefinition
BAU
+Es erfolgt eine zentrale Koordination von Beschaffungsaufgaben
+Unternehmensstrategie vorhanden und durch geeignete Zielformulierung unterstützt
ERP/EDI
ELEK‑1
+Zentrale Koordination am Standort gegeben
+Noch keine eindeutige Strategie, da die Digitalisierung kundenseitig getrieben ist
Lieferantenportal
ELEK‑2
+Sowohl unternehmensübergreifende Koordination als auch standortinterne Aufgabendefinition
+Klar vorgegebene Unternehmensstrategie und Zielvorgaben durch das Management
ERP/EDI
ELEK‑3
+Zentrale Koordinierung durch das Management
+Abteilungsinterne Formulierung einer Strategie und entsprechenden Zielen
Lieferantenportal
HAL
+Sowohl Unternehmensübergreifende Koordinierung von Prozessen als auch Abstimmung innerhalb der Abteilung
+Unternehmensstrategie vorhanden, sowie Formulierung eigener Ziele am Standort
Lieferantenportal
TECH‑1
+Sowohl unternehmensweite Koordination als auch abteilungsinterne Abstimmung
+Allgemeine Unternehmensstrategie und Ziele vorgegeben
ERP/EDI
Blockchain
−Strategie und Ziele teilw. noch unklar hinsichtlich bestimmter eingesetzter Technologien
TECH‑2
+Sowohl unternehmensweite Koordination als auch abteilungsinterne Abstimmung
+Allgemeine Unternehmensstrategie und Ziele vorgegeben, jedoch viel Raum für eigene Ideen
ERP/EDI
Cloudcomputing
Als Fazit im Bereich der Digitalisierungsziele lässt sich festhalten, dass die Formulierung operationalisierbarer, erreichbarer und messbarer Ziele die Voraussetzung für eine digitale Transformation der Beschaffung darstellen. Bei der Evaluierung der Zielerreichung muss jedoch davon ausgegangen werden, dass sich positive Effekte nicht sofort, sondern erst über einen längeren Zeitraum einstellen werden.

2.3 Hindernisse digitaler Lieferantennetzwerke

Im Folgenden werden sowohl unternehmensinterne als auch -übergreifende Hindernisse erörtert, die einer erfolgreichen Implementierung digitaler Lieferantennetzwerke aus Sicht der befragten Experten entgegenstehen. Die am häufigsten genannten kritischen Aspekte dafür sind in Abb. 2 aufgeführt.

2.3.1 Unternehmensinterne Hindernisse

Eine Hürde, die von Unternehmen am häufigsten genannt wird, besteht in den fehlenden Mitarbeitern, die eine führende Position im Hinblick auf die Digitalisierung der Beschaffung einnehmen können. Als problematisch erweist sich, dass diese Mitarbeiter meist neben dem täglichen Geschäft die digitale Transformation strukturieren und managen sollen (AUTO, ELEK-2). Diese Situation führt in vielen Fällen dazu, dass sich ein Fortschritt nur langsam einstellt, da eine eigene Ressource für die Digitalisierung der Beschaffung nicht zur Verfügung gestellt werden kann. Ein weiteres Hindernis stellt ein fehlendes Change-Management dar, um die Beschaffung tiefgreifend in Richtung Digitalisierung zu verändern.
Auch fehlende Kenntnisse der befragten verantwortlichen Einkaufsleiter über mögliche Anwendungsgebiete disruptiver Technologien werden als Hindernis gesehen. Das lässt darauf schließen, dass die Einkaufsleiter bislang keine Informationen dazu gesammelt haben, wie disruptive Technologien ihre eigene Abteilung positiv beeinflussen können, keine Anwendungsbeispiele anführen können sowie auch keinen Anbieter kennen (ELEK-3). Abteilungsleiter sehen z. T. keinen strategischen Anwendungsbereich, was folgendes Zitat verdeutlicht:
„Von meiner Perspektive als strategischer Einkauf her, mich interessiert das eigentlich alles überhaupt nicht, ja?“ (HAL)
Es lässt sich bei einigen Unternehmen feststellen, dass die Einstellung und das Verhalten von Mitarbeitern in strategischen Positionen den Fortschritt digitaler Lieferantennetzwerke auch behindern können (HAL, ELEK-3).
„Aber zum heutigen Zeitpunkt besteht auch aus wirtschaftlicher Sicht überhaupt gar kein Grund das zu tun“ (ELEK-3).
Diese Sichtweise aus der Perspektive einer strategischen Position ist insbesondere deshalb problematisch, da ein Digitalisierungsvorhaben einer Abteilung in enger Zusammenarbeit mit der strategischen Bereichsleitung verknüpft sein sollte. Wichtig ist die notwendige Unterstützung des Top Managements, um Projekte und Vorhaben erfolgreich umsetzen zu können. Die Führungsebene muss sich aktiv mit Chancen und Risiken neuer Anwendungssysteme und deren Evaluation beschäftigen.
Wie bereits in der Literatur hervorgehoben, sind die Komplexität der Digitalisierung und die Auswirkungen auf das eigene sowie für angebundene Unternehmen bislang noch überwiegend unklar (Pagani und Pardo 2017). Es wird deutlich, dass diejenigen Unternehmen von einem Technologie-Einsatz absehen, die ausschließlich wirtschaftliche Aspekte als Kriterium heranziehen. Dies liegt darin begründet, dass die Anwendung herkömmlicher Verfahren der Investitionskostenrechnung zu einem negativen Kosten-Nutzen-Verhältnis führt, da sich positive Effekte erst mittel- bis langfristig einstellen.
Somit lässt sich als Fazit der Analyse unternehmensinterner Hindernisse schließen, dass die digitale Transformation der Beschaffung ein hohes Maß an Know-how erfordert und einen zeit- sowie ressourcenintensiven Prozess darstellt. Dieser Digitalisierungsprozess muss durch das Top Management und ein Change-Management unterstützt werden.

2.3.2 Unternehmensübergreifende Hindernisse

Die eingesetzten Technologien umfassen bei den Unternehmen AUTO, BAU, ELEK‑1 und ELEK‑2 lediglich einen Austausch von Geschäftsdokumenten via EDI-System, das über das vorhandene ERP-System angebunden ist. Bei ELEK‑1 und ELEK‑3 werden Informationen nur über ein Lieferantenportal zur Verfügung gestellt. Eine Hürde stellt dabei die geringe Standardisierung für Lieferanten dar, die sich für die Ansicht des Bestell- bzw. Rechnungsstatus auf unterschiedlichen Portalen der Kunden anmelden müssen (ELEK‑1, ELEK‑2, HAL).
„Standardisierung – sicherlich wäre das hilfreich. Ich muss sagen für uns ist Standardisierung so ein riesen Thema“ (HAL).
Die Betrachtung aus Lieferantensicht zeigt, dass die Entscheidungen im Unternehmen im Hinblick auf die Digitalisierung vorwiegend kundengetrieben sind (ELEK-1). Der Interviewpartner beschreibt, dass die Anmeldung auf Lieferantenportalen obligatorisch ist, um als Lieferant am Markt bestehen zu bleiben.
Bei der Mehrheit der befragten Unternehmen ist erkennbar, dass keine oder nur geringfügige Ansätze der Kooperation mit verbundenen Unternehmen vorhanden sind. Der Fokus liegt darauf, Daten für das eigene Unternehmen transparent darzustellen. Innerhalb eines digitalen Lieferantennetzwerks müssen notwendige Daten jedoch für beide Unternehmen zur Verfügung stehen. Darüber hinaus kann bei der Mehrheit der Unternehmen keine Intention erkannt werden, Endkundenwünsche unternehmensübergreifend zu kommunizieren, um Innovationen im Netzwerk voranzutreiben. Ein schnellerer und effizienterer Produktinnovationszyklus kann dadurch nicht realisiert werden.
Einen weiteren relevanten Faktor stellt die Datensicherheit bzw. Wahrung der Integrität der Daten dar, die durch die IT-Abteilung im Unternehmen jeweils bewertet und sichergestellt werden müssen. Dies wird dadurch erschwert, dass die Bedingungen der digitalen Systeme und damit auch der weiteren Marktteilnahme häufig durch den Kunden definiert werden:
„Letztendlich ist es so: Der Kunde macht als Bedingung, um weiter im Geschäft zu bleiben, dass man [am Lieferantenportal] teilnimmt. Sie stimmen eigentlich immer den digitalen Bedingungen des Plattformbetreibers zu. D. h., dass die Daten, erstmal dem Unternehmen gehören“ (ELEK-1).
Im Hinblick auf Organisation und Prozesse findet keine Integration des Lieferanten und keine gemeinsame Planung und Steuerung von Prozessen statt. Eine Hürde besteht darin, dass die Mehrheit der Interviewpartner keine Notwendigkeit in der Schaffung einer Vertrauensbasis zwischen den Lieferanten und dem eigenen Unternehmen sehen, was wiederum Informationsasymmetrien, opportunistisches Verhalten und Ineffizienzen im Netzwerk verstärkt (Cao und Zhang 2011).
Aus der Analyse der unternehmensübergreifenden Hindernisse lässt sich schließen, dass fehlende Standards im Bereich der Beschaffung dazu führen, die netzwerkumfassende Implementierung von digitalen Anwendungssystemen zu verhindern. Weiterhin ist zu erkennen, dass die Einführung von digitalen Systemen unilateral ist und die häufig marktmächtigeren Kunden die Bedingungen dafür diktieren.
Um die ausbleibende Weiterentwicklung des digitalen Lieferantennetzwerks voranzutreiben und den Unternehmen eine Hilfestellung dahingehend zu bieten, die Lieferanten‑, Informations- und Wissensintegration voranzutreiben, werden im nachfolgenden Kapitel Handlungsempfehlungen basierend auf der Auswertung der Experteninterviews erläutert.

3 Handlungsempfehlungen zum Aufbau digitaler Lieferantennetzwerke

Die vorausgehende Analyse der Einzelinterviews erlaubt es Einblicke in die Strukturen der Beschaffung zu nehmen und gezielt Hürden zu analysieren, die eine Entwicklung digitaler Lieferantennetzwerke beeinflussen. Basierend darauf können in einem weiteren Schritt Handlungsempfehlungen erarbeitet werden, um die Hürden für die Weiterentwicklung des Lieferantennetzwerks zu senken. Vor dem Hintergrund, dass die Mehrheit der befragten Unternehmen bereits rudimentäre Ansätze digitaler Lieferantenintegration verfolgen, sollen insbesondere Handlungsempfehlungen formuliert werden, die für den Übertritt in ein digitales Lieferantennetzwerk Anwendung finden.
Grundsätzlich besteht die Notwendigkeit, eine klare Unternehmensstrategie hinsichtlich der Digitalisierung zu formulieren. Diese bildet das Fundament für jeglichen Erfolg. Darauf basierend sind Ziele und Maßnahmen zu entwickeln, die den Fortschritt skalieren lassen. Aus den Antworten von Unternehmen mit erfolgreichen Umsetzungen ist zu erkennen, dass Leuchtturm-Projekte einen positiven Effekt auf die Entwicklung digitaler Lieferantennetzwerke haben. Auf Grund dessen kann innerhalb der ersten Stufe die Empfehlung ausgesprochen werden, Technologien wie Blockchain oder IoT in kleinen Projekten und netzwerkbezogenen Anwendungsfällen, gemeinsam mit dem Lieferanten zu evaluieren und Erfahrungen zu sammeln.
„Der Proof-of-Concept mit Blockchain for Airfreight haben wir eben für einen gewissen abgesteckten Bereich gemacht. […] Wir sehen auch das Potential der Blockchain-Technologie, und wir wollen jetzt einfach mal mitmachen, ohne hinterher wirklich ein Outcome zu erwarten, sondern einfach mal ein gewisses Know-how aufzubauen, ein Gefühl für die Technologie, was ist das überhaupt?“ (TECH-1)
Darüber hinaus ist es ebenfalls kritisch, sich im Anfangsstadium lediglich auf wirtschaftliche Aspekte bei der Evaluierung neuer Technologien zu fokussieren. Positive Effekte können sich in der Regel erst nach mehreren Jahren einstellen und sind nicht immer direkt durch wirtschaftliche Faktoren messbar. Deshalb gestaltet sich eine Quantifizierung schwierig, weswegen hierfür langfristigere Evaluierungsmethoden und -horizonte eingesetzt werden müssen. Die Nutzeneffekte digitaler Lieferantennetzwerke stellen sich in der Regel nicht kurzfristig ein, sondern müssen über einen längeren Zeitraum als den der herkömmlichen Investitionsrechnung evaluiert werden. Weitere positive Effekte, die häufig nicht direkt monetär bewertet werden können liegen in einer höheren Flexibilität und Reaktionsfähigkeit. Dies liegt darin begründet, dass Unternehmen in einem digitalen Lieferantennetzwerk schneller auf Risiken reagieren können, Zugriff auf alternative Lieferanten und notwendige Informationen haben und dadurch die Resilienz deutlich erhöht werden kann.
Die Ergebnisse der Interviewstudie implizieren, dass die Beschaffung eine untergeordnete Priorisierung bei der Umsetzung von Digitalisierungsprojekten erhält. Es erscheint empfehlenswert, Lieferanten nicht nur als Quelle von Gütern und Waren zu betrachten, vielmehr sollte der Lieferant in einer digitalisierten und vernetzten Wirtschaftsstruktur als Treiber von Innovationen betrachtet werden. Dahingehend muss das Management die strategische Relevanz von Bündnissen innerhalb der Supply Chain erkennen und fördern. Dazu zählen sowohl der Aufbau von Allianzfähigkeiten als auch der gezielte Einsatz von geeigneten IT-Systemen.
Um eine strategische Nutzung disruptiver Technologien zu erreichen ist es notwendig, dass das Top Management eine ausreichende Wissensbasis hinsichtlich möglicher Anwendungssysteme aufweist. Dies wiederum setzt voraus, dass das strategische Management umfassend prüft, welche Technologien auf eigene Prozesse nutzenstiftend anwendbar sind und Optimierungspotentiale erkennt. In einer Unternehmenskultur, in der jedoch Mitarbeiter und Führungskräfte kaum Kapazitäten neben dem täglichen Geschäft haben, werden solche zusätzlichen Aufgaben nicht mit der erforderlichen Notwendigkeit umzusetzen sein.
Die aufgestellten Handlungsempfehlungen richten sich insbesondere an die Führungs- und Managementebene, die eine grundlegende Verantwortung im Hinblick auf die Digitalisierung des Unternehmens und damit einhergehend einzelner Unternehmensbereiche innehaben. Die Weiterentwicklung eines digitalen Lieferantennetzwerks liegt im Wesentlichen in den Entscheidungen des Unternehmens. Dennoch spielen auch offene Fragestellungen in Bezug auf Standardisierung und Datenschutz eine Rolle, die durch Forschung und Gesetzgebung zu adressieren sind.

4 Schlussbetrachtung, Limitationen und weiterer Forschungsbedarf

Digitale Lieferantennetzwerke haben ein großes Potenzial immer komplexeren Strukturen in der Beschaffung zu begegnen und Einkaufsprozesse effizient zu gestalten. Die durchgeführte Fallstudie zeigt jedoch auf, dass die Lücke zwischen Theorie und Praxis in diesem Bereich eklatant ist. Während die Vorteile digitaler Technologien weitreichend bekannt sind, ist die Umsetzung der digitalen Transformation in der Beschaffung bei vielen Unternehmen noch am Anfang des Prozesses. Die Gründe dafür liegen vorwiegend in fehlenden Ressourcen und Know-how. Daraus folgt, dass die Einführung unternehmensübergreifender Lösungen für digitale Lieferantennetzwerke für viele Unternehmen noch nicht kurz- bzw. mittelfristig realisierbar ist. Zwar sind in der Regel strategische Überlegungen und Digitalisierungsziele in den Unternehmen vorhanden, jedoch ist deren Umsetzung häufig noch nicht erfolgt. Die Interviewstudie legt ebenfalls offen, dass digitale Lösungen wie Lieferantenportale in der Regel nur Nutzen auf Kundenseite mit sich bringen, während die Lieferanten einen erhöhten Aufwand in Kauf nehmen müssen, um entsprechende Kunden beliefern zu können. Weitere Hürden liegen in einer fehlenden Standardisierung gepaart mit vielen individuellen Einzellösungen, die dem Netzwerkgedanken widersprechen. Die aufgestellten Handlungsempfehlungen leisten einen Beitrag dazu, die digitale Transformation als Grundvoraussetzung für die Implementierung digitaler Lieferantennetzwerke zu vollziehen und adressieren insbesondere das Management, welches strategische Ziele sowie Strategien dazu aufstellen und klar kommunizieren muss.
Die vorliegende Fallstudie wurde mit einem höchstmöglichen Maß an Objektivität und unter Berücksichtigung der gängigen Qualitätskriterien durchgeführt. Dennoch weisen die Ergebnisse Limitationen auf. Während es Interviewstudien ermöglichen, detaillierte Informationen von Experten aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erhalten, ist die Generalisierbarkeit und Übertragbarkeit der Ergebnisse aufgrund der Anzahl an Interviewpartnern limitiert. Dennoch leisten Fallstudien wie diese einen Beitrag dazu, neue theoretische Konstrukte aufzustellen und detaillierte Einblicke in Problemstellungen und Lösungsansätze zu erhalten (Yin 2018).
Die Ergebnisse der Studie zeigen weiteren Forschungsbedarf im Bereich digitaler Lieferantennetzwerke auf. Anknüpfend an diese qualitative Studie sollte eine quantitative empirische Untersuchung über die Umsetzung und Hürden digitaler Lieferantennetzwerke durchgeführt werden. Die Interviews zeigen vielfältige Ursachen für den geringen Umsetzungsgrad der digitalen Transformation auf, die weiter zu untersuchen sind und aus denen praxisnahe Lösungsansätze und strukturierte Vorgehensmodelle (insb. für KMU) entwickelt werden sollen. Weiterhin besteht ein Bedarf an Lösungsansätzen zur standardisierten Implementierung unternehmensübergreifender digitaler Technologien. In Bezug auf die Tendenz zur unilateralen Einführung von Technologien mangelt es an Untersuchungen zu Governance-Mechanismen, die bei der Zusammenarbeit unterschiedlicher Partner im Lieferantennetzwerk Anwendung finden und Lösungsansätzen, um die einseitige Vorteilsnahme zu reduzieren.
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Literatur
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Zurück zum Zitat Yin RK (2018) Case study research and applications: design and methods, 6. Aufl. SAGE, Thousand Oaks Yin RK (2018) Case study research and applications: design and methods, 6. Aufl. SAGE, Thousand Oaks
Metadaten
Titel
Digitale Lieferantennetzwerke – Einblicke in die Digitalisierungsfortschritte der Beschaffung
verfasst von
Marcel André Hoffmann
Laura Wetsch
Rainer Lasch
Publikationsdatum
01.12.2022
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik / Ausgabe 1/2023
Print ISSN: 1436-3011
Elektronische ISSN: 2198-2775
DOI
https://doi.org/10.1365/s40702-022-00933-1

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