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2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

11. Haben Dinge Macht?

verfasst von : Jo Reichertz

Erschienen in: Kommunikationsmacht

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Ähnlich antiquiert wie die Vorstellung, dass Kommunikationsmacht sich allein aus dem Verhältnis der Menschen zueinander ergibt, ist möglicherweise die Überzeugung, dass auch den materiellen Objektivationen und technologischen Medien, welche Menschen benutzen und die ihnen täglich begegnen, keine wirkliche Macht zukommt. Wenn ich dennoch daran festhalte, dann tue ich dies aus folgenden Gründen.

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Fußnoten
1
Das gilt auch für Flugzeuge (um ein weiteres beliebtes Beispiel anzusprechen): Ohne Zweifel zwingt mich ein Flugzeug (oder besser: deren Erbauer), will ich es fliegen, bestimmte Dinge in einer bestimmten Reihenfolge zu tun. Tue ich es nicht, fliegt es nicht. Aber will ich das Flugzeug nicht fliegen, sondern in die Luft jagen, dann benötige ich keine Ausbildung zum Piloten, und ich muss auch nicht all die Dinge tun, die ich tun müsste, wollte ich fliegen. Die kann ich alle missachten. Ich muss jetzt allerdings das tun, was der Sprengstoff von mir fordert oder besser: was die von mir fordern, die den Sprengstoff erschaffen haben. Sie sagen oder schreiben mir, wie viel ich von einem bestimmten Sprengstoff wohin platzieren muss, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Der Sprengstoff alleine sagt mir gar nichts. Er tut auch nichts. Er liegt nur irgendwo herum. Meinem Hund sagt der Sprengstoff noch weniger. Er riecht gut oder eklig, er liegt im Weg und lässt sich gut kauen. Mir und meinem Hund sagt der Sprengstoff noch nicht einmal, was er ist und über welche Eigenschaften er verfügt. All dies erfahre ich auch nicht (mein Hund schon gar nicht), weil der Sprengstoff es zeichenhaft an sich trägt und mir mitteilt, sondern ich erfahre es, wenn ich mir Wissen über Sprengstoff kommunikativ aneigne. Dann weiß ich, dass Sprengstoff ein Energiepotenzial hat, das andere Menschen durch die Rezeptur in ihm verankert haben.
Der Sprengstoff vor mir sagt mir zudem nicht, was ich wann und wie tun muss, um ihn zur Explosion zu bringen, noch wo ich ihn wann deponieren soll, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Er sagte auch nicht, weshalb ich ihn nutzen sollte und weshalb es wann gerechtfertigt ist, ihn zu bestimmten Zwecken einzusetzen. Der Sprengstoff, so ich ihn denn erkenne, fordert mich also heraus, mich mittels Kommunikation sachkundig zu machen – über seine Eigenschaften und über seine Geschichte und über seine kulturelle Bedeutung. Dabei lerne ich, dass Sprengstoff eingebettet ist in eine kommunikativ konstruierte und kommunikativ verteilte physikalisch-chemische, politische, moralische und praktische Wissensordnung. Nur innerhalb dieser Wissensordnung macht Sprengstoff Sinn. Ohne sie ist Sprengstoff nichts und kann auch nichts bewirken. Weiß ich aber um das inhärente Energiepotenzial und die kulturelle Bedeutung der Nutzung von Sprengstoff, dann ist Sprengstoff sehr machtvoll.
 
2
Das gilt auch für die neuen digitalen Dinge wie z. B. die Algorithmen. Diese sind in keiner Weise eigenständig (nur automatisch) und wenn Algorithmen ‚entscheiden‘, tun sie das nur so und nur auf diese Weise, die ihnen ihr menschlicher Programmierer eingeschrieben hat. Nicht die Algorithmen sind Akteure, sondern die Menschen, die zum einen die Algorithmen schreiben, und zum zweiten die Menschen, die den Algorithmen in bestimmten, fest definierten Situationen bestimmte Aufgaben zur Erledigung anvertrauen. Wenn man in der Soziologie jedoch die Algorithmen als eigenständige Akteure in den Blick nimmt, übersieht man gerade das Soziale in den Algorithmen, übersieht, dass hinter den Algorithmen Menschen mit Interessen stehen, die das Wirken der Algorithmen verständlich machen. Mithilfe der Algorithmen handeln Menschen in bestimmten Situationen in spezifischer Weise auf einem globalen, hart umkämpften Markt. Die, welche diese Mittel einsetzen, tun dies, weil sie sich Vorteile davon erhoffen. Wer die Algorithmen zu Akteuren erklärt, verdunkelt somit die soziale Dynamik oder genauer gesagt die massiven gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hinter dem Einsatz der Algorithmen. Ähnlich formuliert das auch Reckwitz, wenn er über das Tun von Computern schreibt: „Dieses Interesse stammt selbstverständlich nicht aus den Computern selbst, sondern von menschlichen Akteuren mit ihren kommerziellen, medizinischen oder politischen Absichten“ (Reckwitz 2017: 254).
 
3
Nun kann man sich zu Recht fragen, ob man Latour mit so einfachen und trivialen Beispielen wie Highlightern beikommen kann. Das ist gewiss nicht einfach – was auch daran liegt, dass er mit jedem Buch seine Position wechselt. Das hat etwas den Charakter von Hase-Igel-Spielen. Das liegt aber auch daran, dass Latour es auf etwas Großes angelegt hat – nämlich auf die Rücknahme der menschengemachten Unterscheidung zwischen Mensch und Natur. Da kann man in der Regel mit kleinlichen Einwänden nicht viel ausrichten. Wenn ich es trotzdem tue, dann weil Latour selbst den Berliner Schlüssel als ein paradigmatisches Beispiel betrachtet (und andere auch), und weil andere qualitative Forscher (z. B. Hillebrandt 2014) genau das ernst nehmen und im Anschluss daran eine neue qualitative Sozialforschung ausrufen.
 
Metadaten
Titel
Haben Dinge Macht?
verfasst von
Jo Reichertz
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31635-8_11