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30.01.2024 | Produktion + Produktionstechnik | Interview | Online-Artikel

"Kreislauffabrik soll mit hohen Stückzahlen wirtschaftlich werden"

verfasst von: Thomas Siebel

5:30 Min. Lesedauer

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Alte Bauteile und Systeme sollen in einer automatisierten Produktion in Neuprodukten verbaut werden. Beim Remanufacturing gilt es, Varianz und Unsicherheit zu beherrschen, wie Gisela Lanza vom KIT im Interview erläutert.

In einem neuen Sonderforschungsbereich wollen Sie die sogenannte Kreislauffabrik entwerfen. Was kann man sich darunter vorstellen?

Die Kreislauffabrik ist ein integriertes Produktionssystem, das lineare und zirkuläre Produktionsprozesse kombiniert. In der Kreislauffabrik werden also nicht nur Neuprodukte linear produziert, sondern es können auch gebrauchte Komponenten und Teilsystemen aus Altprodukten aufgearbeitet und dann in Neuprodukten verwendet werden. Erstmalig werden dann neuwertige Produkte mit individuellem Aufarbeitungsanteil im industriellen Maßstab hergestellt.

Wie würde das in Praxis funktionieren?

Betrachten Sie beispielsweise einen Winkelschleifer. Der Verschleiß jedes Winkelschleifers hängt ab von der individuellen Nutzung, zudem gibt es von dem Gerät viele Produktgenerationen. Werden diese Produkte aus ihrer Nutzungsphase in die Kreislauffabrik zurückgeführt, werden sie dort zunächst befundet. Das heißt, der Bauteilzustand wird identifiziert und es wird geschätzt, wie lange das Gerät oder einzelne Komponenten voraussichtlich noch genutzt werden können. Anschließend werden die Gebrauchtteile in der Kreislauffabrik aufbereitet.

Wie werden die Gebrauchtteile aufbereitet?

Beispielsweise werden Risse im Produkt additiv so aufgearbeitet, dass die Funktionalität für eine zweite Nutzungsphase garantiert werden kann. Funktionell entsprechen sie damit neuen Produkten und können im Primärmarkt abgesetzt werden. Unsere Vision ist das ewig innovative Produkt: ein Produkt, das immer wieder an neue Gegebenheiten angepasst wird und in dem möglichst viel Wertschöpfung aus vorherigen Generationen erhalten bleibt.

Wie könnte sich der Ressourcenverbrauch in der Produktion damit verändern?

Laut der Circle Economy Initiative liegt der Anteil an Sekundärmaterialien am weltweiten Gesamtmaterialeinsatz bei gerade einmal 7,2 %. Tatsächlich ließen sich aber 52 % der Primärrohstoffe einsparen, wie die Circular Economy Initiative Deutschland für den Zeitraum 2018 bis 2040 schätzt. Die Kreislauffabrik kann einen Beitrag leisten, dieses Potenzial zu heben, indem weniger produziert werden muss und sich die Abfallmengen verringern. Durch Remanufacturing eines Startermotors lassen sich beispielsweise 88 % der eingesetzten Rohstoffe einsparen und 53 % des CO2-Ausstoßes vermeiden.

Welche technischen Fortschritte sind dafür nötig?

Die Produktion in der Kreislauffabrik muss automatisiert, flexibel, anpassungsfähig und autonom sein, damit sie dynamisch auf unsichere Produktzustände reagieren kann. Auch auf taktisch-operativer Ebene muss die Unsicherheit beherrschbar werden. Wir benötigen eine integrierte Planung und Steuerung der Kreislauffabrik, um Unsicherheiten in Bezug auf Produktvarianten und -zustände sowie auf die Durchführung der Produktionsprozesse berücksichtigen zu können. Diese verbesserte Reaktion auf Unsicherheiten muss sich auch in den Messabläufen abbilden, die in der Kreislauffabrik mit hohem Autonomiegrad iterativ mess- und prüftechnisch Gebrauchtprodukte erfassen und bewerten.

Trotz diverser Unsicherheiten soll die Kreislauffabrik also möglichst automatisiert sein?

Ja, und zugleich gilt: Der Mensch stellt mit seiner Kreativität und Lernfähigkeit ein nicht zu unterschätzendes Potenzial dar. Wir wollen daher Verfahren entwickeln, die die menschliche Vorgehensweise im Umgang mit unbekannten Problemen und neuen Produktgenerationen automatisiert und auf humanoide und schließlich industrielle Roboter überträgt. Dazu müssen entsprechende Methoden zur automatisierten Erfassung menschlichen Handelns und der Übertragung auf unterschiedliche Robotiken erarbeitet werden.

Außerdem werden wir die vielfältige Unsicherheit informationstechnisch erfassen und modellieren, um sie somit in der Kreislauffabrik beherrschbar zu machen. Das Wissen wird dabei in einem sogenannten Wissensgraph gespeichert, der sowohl aktuelle Zustände als auch Langzeitwissen enthält.

Welche Fortschritte braucht es über die Technikentwicklung hinaus?

Wir brauchen einen ergänzenden rechtlichen Rahmen und Geschäftsmodelle zur Rückführung von Gebrauchtteilen. Unternehmen müssen beispielsweise Anreize schaffen, damit Kunden gebrauchte Produkte in den Kreislauf zurückführen. Die Rückführungslogistik muss sich dabei mit unsicheren Rückgabezeitpunkten, variierender Qualität oder der Sammlung der Gebrauchtteile befassen. All diese Themen sind zwar nicht Kern unseres Sonderforschungsbereichs, wir entwickeln aber in anderen öffentlich geförderten Projekten Konzepte, die den Sonderforschungsbereich komplementieren.

Kann die Kreislauffabrik wirtschaftlich tragfähig sein?

Remanufacturing-Produkte sind heute nur in bestimmten Konstellationen bei einer Bearbeitung in Niedriglohnländern kostenkompetitiv. Dies liegt zum einen an der hohen Varianz und Komplexität, die manuelle Arbeit erzwingt, und zum anderen an den geringen Stückzahlen im Aftermarket. Wenn wir es aber schaffen, die hohe Varianz auch mit Automatisierung zu beherrschen und gleichzeitig Remanufacturing-Produkte auch auf dem Primärmarkt anzubieten, wird die Aufarbeitung wirtschaftlich viel attraktiver. Die resultierenden Neuprodukte sollen einen individuellen Aufarbeitungsgrad in sich tragen und somit die Kreislauffabrik mit hohen Stückzahlen wirtschaftlich machen.

Bis wann ließe sich eine Kreislauffabrik vollumfänglich umsetzen?

Je nach Produkt und Geschäftsmodell wäre eine Umsetzung schon in wenigen Jahren möglich. Gerade für einfache Produkte mit geringem Verschleiß und hoher technologischer Stabilität, bei denen die Fertigungskosten einen erheblichen Anteil der Herstellungskosten ausmachen, ist eine großformatige automatisierte Aufarbeitung schon in den nächsten fünf Jahren denkbar.

Ließen sich einige Ansätze bereits heute technisch umsetzen?

Wenn die Endprodukte modular und demontierbar sind und die Variantenvielfalt und Neuproduktentwicklung in erster Linie anhand weniger Komponenten realisiert werden, dann steht einer Kreislauffabrik schon heute nichts im Wege.

Warum findet Remanufacturing dann heute noch nicht im größeren Maßstab statt?

Vielfach sind diese idealen Bedingungen nicht gegeben. Daher arbeiten wir an Systemen, die auch mit deutlich ungünstigeren Rahmenbedingungen zurechtkommen sowie Produktentwicklungsansätzen, um die Rahmenbedingungen zu verbessern. Dies haben wir im Rahmen unserer Grundlagenforschung beobachtet. Unser Sonderforschungsbereich geht einen Schritt weiter und nimmt die Produktentwicklung sowie die Produktionssystemsteuerung in den Fokus.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Wirtschaftlichkeit und zugleich der Nachhaltigkeitsgewinn möglichst groß ausfallen?

Neben einer hohen technologischen Stabilität brauchen wir eine modulare Produktstruktur, die Verschleiß und technologische Entwicklung in wenigen Bauteilen isoliert. So lassen sich Komponenten gebrauchter Produkte älterer Generationen leichter in die Spezifikationen der neuesten Generation überführen. Hohe Fertigungskostenanteile beziehungsweise hohes Einsparpotenzial durch Wiederverwendung machen den Einsatz wirtschaftlich interessanter. Schließlich ist der Zugang zu Gebrauchtprodukten ein wesentlicher Faktor.

In die Planungs- und Steuerungslogik, die wir im  des Sonderforschungsbereich entwickeln, bauen wir bereits ein, wie nachhaltig die Aufbereitung einzelner Komponenten wäre.

Für welche Branchen wäre die Kreislauffabrik besonders interessant?

Viele günstige Bedingungen sind heute insbesondere in der Luftfahrtindustrie erfüllt. Dort sehen wir auch heute schon recht verbreitete Anwendungen von Remanufacturing. Wir sehen aber auch erhebliches Potenzial im Maschinen- und Anlagenbau sowie im Mobilitätsbereich und in vielen weiteren Branchen. Daher arbeiten wir an Lösungen für die bestehenden Hürden.

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