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2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

7. Verstehen ist nicht das Problem

verfasst von : Jo Reichertz

Erschienen in: Kommunikationsmacht

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

„Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus dem Hirn zerren“ (Büchner 1965: 6). So lässt Georg Büchner seinen Danton gegenüber seiner Geliebten klagen. Grund für diese Klage ist die auch (noch manchmal) in der Wissenschaft anzutreffende Ansicht, wir könnten einander nicht verstehen, wir seien nicht in der Lage, anderen unser Innerstes mitzuteilen – würden uns mithin nicht (wirklich) verstehen und könnten deshalb den anderen auch nie wirklich kennen können.

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Fußnoten
1
Ein Unterfall dieses Nicht-Verstehens ist die nicht zu beseitigende Ungewissheit, ob der Andere das wirklich und aufrichtig meint, was er sagt.
 
2
Mit dem Begriff ‚komprehensiv‘ bezieht sich Schütz ausdrücklich auf den Begriff der Einfühlung (comprehensio), wie er von Husserl in dessen Buch Ideen II verwandt wurde (vgl. Schütz 2009: 202).
 
3
Dieser Text erschien erstmals auf englisch im Jahr 1953 und war dann auch in den Collected Papers III ab 1966 verfügbar. Eine deutsche Übersetzung dieses Textes wurde in den Gesammelten Aufsätzen III im Jahr 1971 (S. 47–73) abgedruckt.
 
4
An dieser wie an vielen anderen Formulierungen von Alfred Schütz zeigt sich, wie stark Gerold Ungeheuer in Wortwahl und Argument von Schütz beeinflusst war. Bekanntermaßen hat Ungeheuer seine frühe informationstheoretisch angelegte Kommunikationstheorie aufgrund der Lektüre der damals zugänglichen Arbeiten von Alfred Schütz in wesentlichen Punkten aufgegeben. Wegen seines frühen Todes im Jahr 1982 kam Ungeheuer nicht mehr dazu, die damals geplante Lektüre der Arbeiten von Mead zu vollenden und bei der eigenen Theoriekonzeption zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund wäre es interessant und lohnend, einmal das genuin Eigene der Positon Ungeheuers heraus zu präparieren.
 
5
Die Monadologie von Leibniz (1982, Original 1714) muss wie alle Erkenntnisse historisch eingeordnet werden. Einerseits steht diese Monadologie in der Tradition von Platon. Die Monaden benötigen nämlich keine Fenster, weil alles schon in ihnen ist. Den Weg zur Wahrheit finden sie nur in sich, nicht in der Kommunikation. Zum zweiten (und darauf weist Oskar Negt hin) zeichnet die Monadologie von Leibniz „die bürgerliche, isolierte Individualität aus“ (Negt 2019: 213). Die Vorstellung von den Menschen als Einzelwesen, die unfähig sind, ihre Vorhänge zur Welt zu öffnen, fusst also in der griechischen Antike und drückt zugleich die Isoliertheit bürgerlicher Individuen aus.
 
6
Dem Gedächtnis kommt also in dem Ansatz von Gerold Ungeheuer eine beachtliche theoriestrategische Bedeutung zu. Allerdings finden sich bei ihm widersprüchliche Vorstellungen darüber, wie das Gedächtnis arbeitet. Einerseits scheint es so zu sein, dass ein ‚Ich‘ Erfahrungen macht, sie speichert und dann daraus eine individuelle ‚Theorie der Welt‘ zimmert, also dass dieses ‚Ich‘ aktiv und schon vor der ersten Erfahrung existent ist. Andererseits finden sich Textstellen, die darauf hindeuten, dass die Erfahrungen sich selbstständig aufschichten und dass in diesem Prozess erst das ‚Ich‘ entsteht (siehe hierzu auch weiter unten). „Der Mensch ist, was seinen inneren Kern ausmacht, kein Gefäß, das lediglich die Füllung seiner empfangsbereiten Hohlräume erleidet. Er hat auch nicht das, was er als Inhalt erfährt, einfach in sich zur Verfügung, so daß er damit machen kann, was er will, sondern er lebt auch als Individuum in dem, was er erfahren hat, so daß er es gar nicht mehr als in sich seiend erfährt“ (Ungeheuer 1987: 309). Folgt man diesen Aussagen, dann besteht das ‚Ich‘ einerseits nicht aus der Summe seiner Erfahrungen (kein Gefäß), andererseits verliert es sich in diesen Erfahrungen, da er diese Erfahrungen nicht mehr als ‚gemachte Erfahrungen‘ von sich trennen kann. Aus Sicht der aktuellen Gedächtnisforschung kann man an der empirischen Deckung einer solchen Position zweifeln. So fragt sich, wo die Erfahrungen wie und mit welcher Halbwertszeit eingeschrieben werden? Führen die Erfahrungen oder das ‚Ich‘ die Hand, wenn es gilt, die Erfahrungen einzuschreiben? Meisselt man in Marmor oder schreibt man in den Meeressand? Verfällt Wissen einfach in der Zeit oder kann ich oder das ‚Ich‘ Wissen (bewusst) vergessen?
 
7
„Erfahre ich etwas, so erfahre ich es nie in seiner Wirklichkeit, sondern immer nur nach den Vorurteilen, die ich schon habe“ (Ungeheuer 1987: 310).
 
8
Hier kann man auch an die alte auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen Proprium, also dem, was notwendig zum Typus gehört, und dem Akzidenz, dem token erinnern, also dem zufälligen individuellen Beiwerk des Typus, das auf persönlichen Idiosynkrasien des jeweiligen Akteurs zurückgeht. In der Regel stören diese Idiosynkrasien die Kommunikation nicht, da die Kommunikation sich der Typik bedient und nur mit ihnen kommuniziert. Allerdings kann man sich kommunikativ diesen Ideosynkrasien zuwenden und dann über sie, wenn auch erneut mit Hilfe von Typen, kommunizieren. Das gelingt sehr wohl, weshalb man auch über das Besondere, das Individuelle sehr gut informieren kann.
 
9
Dass wir selbst nicht genau wissen, was wir mit unseren Worten eigentlich sagen, ist nicht der seltene Ausnahmefall, sondern die Regel. Wer zuckt noch zurück, wenn er z. B. von einer ‚Holzeisenbahn‘ spricht oder davon hört? Und wer weiß, was er sagt, wenn er feststellt, dass es „hier wie Hechtsuppe zieht“? Wir kommunizieren mit Symbolen und meist ‚verstehen‘ wir diese Symbole nicht in dem Sinne, was die Symbole genau sagen. Es reicht, wenn wir wissen, dass sie wirken. Um in der Kommunikation als ‚Münzen‘ zu funktionieren, müssen hinter den Zeichen nicht bestimmte Dinge oder bestimmte gedankliche Vorstellungen stehen; es genügt, wenn ein bestimmter Gebrauch von Symbolen eine bestimmte Praxis zur Folge hat.
 
10
Zur Illustrierung der Geschmacksbeschreibungen von Weinen hier ein Originalzitat aus einem Weinkatalog: „Der 2004er präsentiert sich nach 14-monatiger Lagerung in Barriques in kräftigem Kirschrot, mit einem Duft von roten reifen Beeren (Brombeere, Heidelbeere) und würzigen Nuancen (Thymian, Lorbeer, Trüffel). Am Gaumen sehr voll, fast wuchtig – hier hat das Superjahr 2004 seine segensreichen Spuren hinterlassen – mit reifem Tannin und exzellent vorgetragener Fruchtaromatik. Der Nachklang lang und dicht, zeigt wie viel Potenzial in diesem Wein steckt.“
 
11
Interessiert man sich jedoch nur für das Problem des Verstehens, so kann man viel von der Psychologie, der Sprachwissenschaft und auch von der Informationstheorie und der Biologie lernen. Aber nicht nur von diesen: auch die Soziologie hat hierzu viel zu sagen.
 
12
Diese Formulierung bezieht sich auf eine Äußerung von Albert Einstein. Der schrieb am 4.12.1926 an seinen Freund Max Born: „Die Quantenmechanik ist sehr achtungsgebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das doch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der nicht würfelt“ (Einstein/Born 1986: 129 f.).
 
13
Ein weiteres schönes Beispiel für die Sozialisierung von Bedeutung ist das Kinderspiel: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“. Hier lernen alle, was die Farben bedeuten – unabhängig davon, welche Farbqualitäten der Einzelne tatsächlich erlebt.
 
14
Gleiches gilt natürlich für den Umgang mit allen Begriffen, also auch für den Gebrauch von ‚Genauigkeit'. So wird mit ‚Genauigkeit' eine symbolische Perspektive in Geltung gesetzt, die u. a. implizit die Subjekt-Objekt-Trennung und eine krude Abbildtheorie enthält und (zumindest im Bereich der Wissenschaft) hohe Anschlussfähigkeit gewährleistet.
 
15
Für Brandom ist menschliches Handeln nicht nur sinnhaft, sondern auch rational, vernünftig, sinnvoll. Das unterscheidet menschliches Handeln von dem Verhalten von Tieren. Als Menschen können sie vernünftige Gründe für ihr Handeln geben, jedoch für „die Tiere des Waldes gibt es keine Vernunft“ (Brandom 2000: 37). Dieser Zuspitzung von ‚Sinn‘ auf ‚Vernunft‘ werde ich bei aller Wertschätzung der Position von Brandom ebenso wenig folgen wie Brandoms Reduzierung der Kommunikation auf sprachliches Handeln. Beide Maßnahmen verkürzen Kommunikation wesentlich.
 
Metadaten
Titel
Verstehen ist nicht das Problem
verfasst von
Jo Reichertz
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31635-8_7