Etwa 3.300 neue Verkäufer registrieren sich täglich auf dem Amazon Marketplace im Internet. Das hat eine Studie der US-E-Commerce-Analytics-Plattform Marketplace Pulse ergeben. Doch das Bild vom Marktplatz-Boom hat Risse. Eine Chance für klassisches Verkaufen.
Rund 2,8 Millionen aktive Verkäufer gibt es der US-Studie zufolge derzeit, die auf der Plattform Handel betreiben. Jede Stunde kommen rechnerisch 138 neue dazu. Allein in den USA sind es eine Million Verkäufer, in Großbritannien 300.000, und in Deutschland schlossen sich 2018 laut Marketplace Analytics 100.000 neue Händler dem Marktplatz an. In den vergangenen drei Jahren ist laut Studie die Anzahl der Verkäufer in jedem Umsatzsegment des US-Internetriesen um 20 bis 40 Prozent gewachsen. Weltweit betreibt das Unternehmen inzwischen Marktplätze in 16 verschiedenen Ländern und wird damit gleichzeitig zur Mega-Produktsuchmaschine. Darüber hinaus ist der Online-Marktplatz seit 2009 auch ins Eigenmarken-Geschäft eingestiegen. So gibt es etwa die Private Label Amazon Basics, Essentials, Amazon Wardrobe, die Möbel-Eigenmarke Movian oder das Tierfutter-Label Lifelong.
Was macht den Boom-Faktor aus? Tobias Kollmann erklärt in den E-Business-Grundlagen seines Springer-Essentials zu E-Marktplätzen das Prinzip der Marktmaschinerie, das auch hinter Amazons Marketplace steckt. Über einen Marktplatz erfolge eine "Integration innovativer Informations- und Kommunikationstechnologien zur Unterstützung bzw. Abwicklung von operativen, taktischen und strategischen Aufgaben im Handels- bzw. Marktbereich." Er vergleicht zu realen, stationären Marktplätzen wie Messen, dass elektronische Marktplätze als virtuelle Plattformen auf die digitale Vernetzung der Marktteilnehmer abheben (Kapitel 1.1.3). "Jeder dieser Teilnehmer kann auf elektronischem Wege von jedem beliebigen Punkt im Datennetz einen beliebigen E-Marketplace "betreten" (z. B. per Mausklick am heimischen Computer), ohne sich real zu einem bestimmten Ort begeben zu müssen." Als Problemfelder von traditionellen Marktplätzen im realen Handel nennt er Kapazitätsbegrenzungen, Vermittlungsrestriktionen, die Marktintransparenz und Koordinationsineffizienzen traditioneller Marktplätze. Das hat aus seiner Sicht in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Online-Marktplätze wie Amazon, Alibaba & Co. wirtschaftlich boomen.
Erfolgskriterien der Online-Börsen
Erfolgsfaktoren sind
- eine überdurchschnittliche Kundenorientierung,
- eine enorme globale Skalierbarkeit,
- Vielseitigkeit, Dynamik und Risikobereitschaft.
Faktoren, die klassische, reale Vertriebsunternehmen ebenfalls als neue Leitlinie ausgerufen haben im Zeichen von Customer Experience und Kundenzentrierung.
Da Amazon über den Marketplace selbst als Händler agiere, treibt sie jedoch gleichzeitig den Wettbewerb zu klassischen Händlern voran – ein Dorn im Auge des klassischen Einzelhandels. Einwänden des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zufolge verzerre die Verlagerung des Einzelhandels auf Amazon den Wettbewerb. Die Folgen müssten kleine und mittlere Unternehmen tragen, wie aus einer Studie des Instituts im Auftrag des Mittelstandsverbunds ZGV hervorgeht. Zum Trost: Weniger als zwei Drittel der Neuanmelder bleiben dabei, nachdem sie sich für den Web-Marktplatz entschieden haben. Die Gründe sind etwa fehlende Firmennachweise, Bankunterlagen oder Doppel-Accounts, die bei Verkäufern nicht erlaubt sind.
Kundendaten als Wettbewerbsvorteil
Doch das eigentliche Kapital liegt woanders: In Deutschland ist Amazon die größte E-Commerce-Plattform. "Aufgrund der Bedeutung dürfte Amazon zudem über die umfangreichste Sammlung an Kunden- und Transaktionsdaten verfügen, was das Unternehmen für ein Data Sharing besonders relevant erscheinen lässt", heißt es in einem Gutachterpapier zu "Data Sharing im E-Commerce" vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), das von Servicon Service & Consult eG erstellt wurde. Das ist der eigentliche Wettbewerbsvorsprung, gegen den klassische Händler kaum ankommen, die neben stationärem Einzelhandel auch Online-Shops betreiben. Das IW regt gegen die Amazonisierung etwa als Lösung an, allen Händlern auf Amazon Marketplace Zugang zu Kundendaten zu geben, um so faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.
Traditionellen Vertrieb mit neuen Geschäftsmodellen verbinden
Doch Springer-Autor Professor Klaus Henning macht Verkäufern im klassischen Vertrieb Mut: Es sei möglich, das traditionelle Geschäft mit den neuen Geschäftsmodellen zu verknüpfen, schreibt er im Kapitel "Auf dem Weg zu neuen Geschäftsmodellen" seines Buchs "Smart und digital" (Seite 112).
Wer die Plattformen beherrscht, macht das Geschäft."
Prof. Klaus Henning, Senior Partner der P3 OSTO GmbH, Köln, Mitglied des Vorstands des Instituts für Unternehmenskybernetik an der RWTH Aachen.
Er nennt Vorreiter in Maschinenbau, Automobiltechnologie oder weiteren klassischen Branchen, in denen es Unternehmen schon gelungen ist, ihren traditionellen Vertrieb mit digitalen Plattformen zu vernetzen und so gleichzeitig dem Kunden einen Mehrwert zu verschaffen. So zum Beispiel durch die ständige Verfügbarkeit von Daten und Informationen über solche digitalen Netze. Dabei rückt das eigentliche Produkt zusehends in den Hintergrund. Service und schnelle Verfügbarkeit sowie Datentransparenz zählen.
Im besten Fall hat der Vertrieb die Vertrauensarbeit beim Kunden aber schon vorher geleistet. Schließlich kaufen Kunden auch bei Amazon in der Regel Produkte, die sie kennen und dessen Markttauglichkeit zuvor bewiesen wurde. Diese Arbeit hat in jedem Fall der klassische Vertrieb durch jahrelangen Markenaufbau und Kundenmanagement geleistet, weniger die Vermarktungs- und Produktsuchmaschine Amazon, die eher mit intelligenter Technologie überzeugt. Die Untersuchung der Marktforscher von Marketplace Pulse zeigt, dass die inzwischen 400 Eigenmarken von Amazon ohnehin nicht ganz so erfolgreich sind, wie sie diskutiert werden, so Marketplace Pulse-Gründer Juozas Kaziukenas. Auf die Top drei der Eigenmarken entfielen rund 70 Prozent der Reviews und Verkäufe. Die Mehrheit der über Amazon-Eigenlabel floppe. So hatte das Unternehmen 2018 zwar mehr als 100 Label gestartet. Doch keiner der kürzlichen Marktstarts schaffte es zum Kategorie-Führer. Dem Gafa-Unternehmen fehlt eventuell, was in Deutschland beispielsweise ein Tchibo par excellence betreibt und inzwischen auch das Gros deutscher Unternehmen im traditionellen Markenvertrieb auszeichnet:
- eine Multichannelstrategie, die eigene Läden oder starke Handelspartner für den physischen Markenauftritt einbindet und mit Marktplätzen als Multiplikatoren für die eigene Marke verknüpft.
- konsequente Markenführung und
- Vertriebsstrategien, die zuerst auf den Mehrwert für den Kunden, Differenzierung, Qualität und Produktinnovation schauen, nicht rein auf Masse und Preis, um langfristige Kundenbeziehungen zu schmieden.