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Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 3/2023

Open Access 03.05.2023 | Schwerpunkt

Ambidextrie entlang der Wertschöpfungskette – Digitale Innovation in der Lebensmittelindustrie

verfasst von: Christoph Buck, Thomas Kreuzer, Alexander Rex, Antonie Teuchert

Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik | Ausgabe 3/2023

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Zusammenfassung

Die Lebensmittelindustrie steht aufgrund komplexer, internationaler Lieferketten, einem gesellschaftlich relevanten Versorgungsauftrag bei gleichzeitig verderblichen Produkten, und steigender Anforderungen durch Endverbraucher:innen an Nachhaltigkeit vor großen Herausforderungen. Die zunehmende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verschärft diese Problematik, da sie neue Abhängigkeiten schafft und Erwartungen der Endverbraucher:innen weiter erhöht. Im Gegensatz dazu bieten digitale Innovationen aber auch große Potenziale, um die Herausforderungen zu adressieren. So werden digitale Technologien von einzelnen Akteur:innen der Wertschöpfungskette für Lebensmittel einerseits bereits zur inkrementellen Verbesserung von Produktionsprozessen und andererseits für die Schaffung völlig neuer Geschäftsmodelle und Services rund um digitale Einkaufserlebnisse genutzt. Digitale Innovationen auf Ebene einzelner Akteur:innen reichen jedoch nicht aus, um die weitreichenden Herausforderungen der Lebensmittelindustrie vollständig zu bewältigen. Vielmehr gilt es, die stärkere Vernetzung und Konnektivität durch digitale Technologien zu nutzen, um digitale Innovation auf ganzheitlicher Ebene und entlang der gesamten Wertschöpfungskette voranzutreiben. Wie daraus hervorgehende Nutzenpotenziale digitaler Innovation gehoben werden können, ist aus wissenschaftlicher und praktischer Perspektive noch ungeklärt. Dementsprechend ist es das Ziel unserer Arbeit, auf Basis einer Interviewstudie zu untersuchen, welche Nutzenpotenziale digitale Innovationen für einzelne Akteur:innen und die gesamte Wertschöpfungskette für Lebensmittel bereithalten und welche praktischen Handlungsempfehlungen sich daraus für Entscheidungsträger:innen ergeben. Dabei wollen wir darauf eingehen, wie sich Ambidextrie entlang der Wertschöpfungskette entfaltet und wie diese zukünftig bei der Adressierung der Herausforderungen helfen kann. Der vorliegende Beitrag hebt sich somit von bestehenden Arbeiten ab, da wir das Potenzial digitaler Innovation nicht nur aus Perspektive einzelner Akteur:innen, sondern entlang der gesamten Wertschöpfungskette untersuchen.

1 Einleitung

Innovative Nahrungsmittel- und Getränkeprodukte verändern das Marktumfeld der Lebensmittelindustrie jeher. Doch die Lebensmittelindustrie steht vor weitreichenden Herausforderungen und Veränderungen, die über einzelne Produktinnovationen hinaus gehen. So haben Krisen wie die Coronapandemie gezeigt, welch wichtige Rolle eine konstante Versorgungssicherheit einnimmt. Die Lebensmittelindustrie ist dabei nicht umsonst als kritische Infrastruktur eingeordnet und weist aufgrund ihrer verderblichen Produkte besondere Risiken auf (Haji et al. 2020). Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Wertschöpfung für Lebensmittel längst über viele Länder und Kontinente hinweg erstreckt und somit Teil eines komplexen Weltmarkts ist. In diesem Weltmarkt agierend sehen sich Unternehmen der Lebensmittelindustrie wachsenden Anforderungen der Endverbraucher:innen gegenüber. Das betrifft allen voran das Thema Nachhaltigkeit, das in kaum einer anderen Branche so kontrovers und intensiv diskutiert wird wie in der Lebensmittelindustrie (Kohl und Sabet 2020). Damit nicht genug, wirkt die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wie ein Katalysator, der die genannten Herausforderungen weiter verschärft (Nosratabadi et al. 2020). Die zunehmende digitale Vernetzung schafft neue Abhängigkeiten, zum Beispiel von Plattformanbietern, und erzeugt dabei neue Erwartungen bei den Endverbraucher:innen, zum Beispiel in Bezug auf digitale Services rund um den Lebensmitteleinkauf. In diesem Zusammenhang droht Konkurrenz nicht mehr nur aus der eigenen Branche. So versucht sich der Onlineversandhändler Amazon mit der voll automatisierten und digitalisierten Supermarktkette Amazon Go an einem disruptiven Geschäftsmodell (Polacco und Backes 2018). Endverbraucher:innen können sich hierbei ihre Lebensmittel einfach aus dem Regal nehmen und den Laden verlassen, während der Bezahlprozess automatisiert über ihr Smartphone abgewickelt wird.
Demgegenüber sehen Unternehmen der Lebensmittelindustrie die Digitalisierung aber auch als Chance, den genannten Herausforderungen mit digitalen Innovationen zu begegnen. Digitale Innovation bezeichnet in diesem Zusammenhang die Entwicklung und Nutzung eines neuartigen, wertsteigernden Produkts, Services, Prozesses oder Geschäftsmodells durch die Einbindung und Verwendung digitaler Technologien (Hund et al. 2021). Während der Einzelhandel mit Initiativen wie REWE Digital versucht, durch neue digitale Services und Geschäftsmodelle auf die branchenübergreifende Bedrohung zu reagieren (Hutapea und Malanowski 2019), wollen sich auch andere Akteur:innen der Lebensmittelindustrie das Potenzial digitaler Innovationen zunutze machen. Die Wertschöpfungskette der Branche umfasst dabei alle Tätigkeiten, die notwendig sind, um ein Lebensmittel aus landwirtschaftlich gewonnenen Rohprodukten herzustellen und über den Groß- und Einzelhandel zu vertreiben und auszuliefern (Nosratabadi et al. 2020). So werden digitale Technologien bereits seit vielen Jahren in der Lebensmittelproduktion zur inkrementellen Verbesserung und radikalen Neugestaltung interner Prozesse und Abläufe genutzt, zum Beispiel um kürzere Durchlaufzeiten zu ermöglichen. Auch im landwirtschaftlichen Betrieb schaffen digitale Technologien, wie intelligente Melkroboter oder Drohnen im Weinbau, neue Möglichkeiten, welche über die inkrementelle Verbesserung von Prozessen hinausgehen.
Innovationen und Initiativen einzelner Akteur:innen reichen jedoch nicht aus, um die zahlreichen Herausforderungen der Lebensmittelindustrie zu bewältigen. Vielmehr gilt es, digitale Innovation auf Ebene der gesamten Wertschöpfungskette für Lebensmittel zu betrachten. Digitale Technologien schaffen dabei eine stärkere Vernetzung und Konnektivität zwischen den Akteur:innen, wodurch sich der Fokus der Wertschöpfungskette von einer sequenziellen Abfolge hin zu Interaktionen in einem vernetzen Ökosystem verschiebt (Savastano et al. 2018). In diesem Ökosystem gilt es, gemeinschaftlich das Nutzenpotenzial digitaler Technologien zur Adressierung der gemeinsamen Herausforderungen zu heben. Wie genau sich aber digitale Innovation heute entlang der Wertschöpfungskette entfaltet und welche Nutzenpotenziale sich daraus in Bezug auf die Herausforderungen ergeben, ist aus wissenschaftlicher und praktischer Perspektive noch nicht abschließend beantwortet.
Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel unserer Arbeit, zu untersuchen, welche Nutzenpotenziale digitale Innovationen sowohl für einzelne Akteur:innen als auch für die gesamte Wertschöpfungskette für Lebensmittel bereithalten und welche praktischen Handlungsempfehlungen sich daraus für Entscheidungsträger:innen ergeben. Hierfür haben wir im Rahmen unserer Studie Interviews mit 24 Expert:innen für digitale Innovation aus 19 Unternehmen der Lebensmittelindustrie geführt, analysiert und ausgewertet (Etikan 2016). Der vorliegende Beitrag hebt sich von bestehenden Arbeiten ab, da wir das Potenzial digitaler Innovation nicht nur aus Perspektive einzelner Akteur:innen, sondern entlang der gesamten Wertschöpfungskette untersuchen. Darüber hinaus bietet unser Beitrag neuartige Erkenntnisse, wie sich Ambidextrie, also die Fähigkeit digitale Innovation sowohl für Exploitation als auch Exploration zu nutzen, entlang der Wertschöpfungskette für Lebensmittel entfaltet und dort genutzt werden kann. Nachdem wir in Abschn. 2 unser methodisches Vorgehen erläutern, beschreiben wir in Abschn. 3 zunächst die Nutzenpotenziale digitaler Innovation aus Perspektive einzelner Akteur:innen, bevor wir diese in Abschn. 4 für die gesamte Wertschöpfungskette aufzeigen. In Abschn. 5 leiten wir Handlungsempfehlungen für Entscheidungsträger:innen der Lebensmittelindustrie ab und nennen in Abschn. 6 Limitationen unserer Arbeit.

2 Methodisches Vorgehen

Im Rahmen unserer Studie führten wir Interviews mit 24 Expert:innen aus 19 Unternehmen. Um die Lebensmittelindustrie möglichst ganzheitlich zu betrachten, erstreckten sich die Interviews über alle unternehmerischen Akteur:innen in der Wertschöpfungskette für Lebensmittel, von der Landwirt:in, über die Produzent:in, bis hin zur Groß- und Einzelhändler:in (siehe hierzu Abschn. 3.1). Für die Auswahl der Expert:innen folgten wir einem schrittweisen Purposive-Sampling-Ansatz (Etikan 2016). Wir identifizierten zunächst mögliche Interviewpartner:innen innerhalb unseres eigenen Netzwerks, die in der Lebensmittelindustrie tätig sind. Danach schränkten wir die Auswahl weiter auf solche Personen ein, die in ihren jeweiligen Unternehmen digitale Innovationen vorantreiben, zum Beispiel weil sie großangelegte Innovationsprogramme leiten. Unsere Expert:innen sind daher auf unterschiedlichen Hierarchieebenen angesiedelt und haben, bedingt durch die Heterogenität der Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette, verschiedenste Rollen. Letztlich wurden wir in Interviews von Expert:innen auf weitere passende Personen hingewiesen, die wir daraufhin ebenfalls für Interviews anfragten. In Tab. 1 zeigen wir eine Übersicht über alle interviewten Expert:innen.
Tab. 1
Übersicht der Interviewpartner:innen
ID
Berufsbezeichnung
Mitarbeitende
Umsatz (EUR)
1
Director, Strategy and Business Development
> 2500
< 1 Mrd.
2
Head of Credit and Contract Management
> 5600
< 1 Mrd.
3
Business Analyst
> 4500
> 6 Mrd.
4
Digital Transformation Consultant
> 7700
> 1 Mrd.
5
Chief Executive Officer
> 1000
< 0,1 Mrd.
6
Key Account Manager
> 2500
< 2,5 Mrd.
7
Innovation Manager
> 2000
n/a
8
Supply Chain Manager
< 1000
n/a
9
Supply Chain Manager
> 17.000
> 15 Mrd.
10
Digital Transformation Manager
> 2500
< 1 Mrd.
11
Managing Director
> 8000
< 1 Mrd.
12
Partner & Chairman of the Advisory Board
< 1000
< 1 Mrd.
13
Chief Information Officer
> 3000
< 1 Mrd.
14
Co-Founder/Operation and Sales
< 1000
< 0,1 Mrd.
15
Managing Director
> 12.000
> 3 Mrd.
16
New Business Development
> 12.000
> 3 Mrd.
17
Senior Project Manager
> 12.000
> 3 Mrd.
18
Project Manager
> 3000
< 1 Mrd.
19
Product Development and Innovation
> 1000
< 1 Mrd.
20
Operation Manager
> 1800
< 1 Mrd.
21
Executive Manager Venture Investments
> 12.000
> 3 Mrd.
22
Chief Executive Officer
< 1000
< 1 Mrd.
23
Sales Director
> 1400
< 1 Mrd.
24
Chief Technology Officer
> 2000
n/a
Die Interviews wurden jeweils von mindestens zwei Autor:innen durchgeführt, dauerten durchschnittlich ca. 60 min und fanden im Zeitraum Juli bis Oktober 2022 statt. In den Interviews befragten wir die Expert:innen dazu, wie sich digitale Innovationen in der Branche auf deren Unternehmen auswirken, wie sie sich selbst für digitale Innovationen aufstellen, und welche Methoden und Werkzeuge dafür eingesetzt werden. Dabei legten wir einen besonderen Fokus darauf, deren digitalen Innovationsprozess, die Nutzung einzelner digitale Technologien, und die Rolle digitaler Ökosysteme zu verstehen.
Nach Durchführung der Interviews folgte eine Auswertung und Analyse der Daten, wobei wir iterativ in mehreren Zyklen vorgingen. Wir kodierten zunächst relevante Aussagen in den Interviews und analysierten anschließend die Ergebnisse hinsichtlich auftretender Muster und Unterschiede. Dieses iterative Vorgehen wiederholten wir so oft, bis eine Iteration keine neuen Erkenntnisse mehr einbrachte. Zusammenfassend lieferten die Interviews wertvolle Erkenntnisse zu zwei Themen. So konnten wir sowohl aus der Perspektive einzelner Akteur:innen der Wertschöpfungskette (Abschn. 3.2) als auch aus einer übergreifenden Ökosystemperspektive (Abschn. 4.2) Nutzenpotenziale digitaler Innovationen in der Lebensmittelindustrie identifizieren. Im Zuge dessen konnten wir außerdem Beobachtungen darüber machen, wie sich Ambidextrie entlang der Wertschöpfungskette entfaltet (Abschn. 4.1).

3 Digitale Innovation bei Akteur:innen der Lebensmittelindustrie

3.1 Akteur:innen der Lebensmittelindustrie

Die Wertschöpfungskette für Lebensmittel umfasst den gesamten Weg eines Lebensmittels von der Herstellung und Verarbeitung der Erzeugnisse, über den Absatz und bis hin zum Konsum. Zahlreiche Forschungsarbeiten befassen sich mit der Untersuchung und Analyse der Wertschöpfungskette für Lebensmittel und den darin agierenden Akteur:innen (Nosratabadi et al. 2020). Unsere Arbeit fokussiert sich dabei auf die vier zentralen Akteur:innen Landwirt:in, Produzent:in, Groß- und Einzelhändler:in, und Endverbraucher:in, deren Aufgaben und Verhältnis in Abb. 1 aufgezeigt ist.
Zu Beginn der Wertschöpfungskette für Lebensmittel steht die Landwirt:in. Deren Aufgabe ist die Erzeugung tierischer und pflanzlicher Produkte, wobei die tägliche Arbeit je nach Erzeugnis und Saison variiert. Die Erzeugnisse entstehen entweder im Rahmen des Acker- und Pflanzenbaus oder der Nutztierhaltung und werden anschließend an die Produzent:in übergeben. Diese übernimmt die Verarbeitung der Rohprodukte hin zu einem verpackten und konsumierbaren Produkt. Der Großteil der Lebensmittel wird dabei in hochindustriellen Betrieben verarbeitet. Um teure Rückrufaktionen oder höhere Risiken zu vermeiden, gelten in der Produktion hohe Qualitätsstandards, zum Beispiel in Bezug auf die Sauberkeit oder Sicherheit der Lebensmittel. Die hergestellten Produkte werden entweder für die Eigenmarke oder für Fremdmarken auf dem Lebensmittelmarkt produziert und nach ihrer Fertigstellung an eine Großhändler:in oder, je nach Größe des Unternehmens, direkt an eine Einzelhändler:in verkauft. Die Hauptaufgabe des Groß- und Einzelhandels besteht darin, die erhaltene Ware auf dem Markt abzusetzen. Dazu zählt der Transport, die Lagerung, der Vertrieb und die Vermarktung der Produkte, zum Beispiel über den Ladenbetrieb des Einzelhandels. Als direkter Kontaktpunkt zu Endverbraucher:innen erwartet der Groß- und Einzelhandel außerdem hohe Flexibilität der Landwirt:innen und Produzent:innen. Nur so können Groß- und Einzelhandel fortlaufend auf neue Anforderungen der Endverbraucher:innen an die Produkte sowie die Art und Weise des Konsums (z. B. in Bezug auf Umwelt‑, Klima- und Tierschutz) reagieren (Schmitz 2021) und einer möglichen Retoure der Ware entgegenwirken. Letztlich erwirbt und verzehrt die Endverbraucher:in die Lebensmittelprodukte.
Obwohl jede Akteur:in wertstiftend für das Endprodukt agiert, ist die Wertschöpfungskette durch problematische Machtverhältnisse geprägt. So erwirtschaften beispielsweise die zehn Hauptmarken 15 % des weltweiten Umsatzes des Einzelhandels und die größten fünf Einzelhändler:innen kontrollieren 50 % des europäischen Marktes (BASIC 2014). Unter der ungleichen Machtverteilung leiden am stärksten die Landwirt:innen. Im Kakao Geschäft verbleiben zum Beispiel für Einzelhändler:innen und Produzent:innen mehr als 30 % des Werts, und für Landwirt:innen nur etwa 5 % (BASIC 2014).

3.2 Nutzenpotenziale für Akteur:innen der Lebensmittelindustrie

Für jeden der genannten Akteur:innen ergeben sich aus individueller Perspektive Nutzenpotenziale durch digitale Innovationen. Landwirt:innen sind als Erzeuger am Anfang der Wertschöpfungskette besonders großem Kostendruck ausgesetzt. So wird von ihnen hohe Effizienz bei gleichzeitig niedrigen Preisen erwartet, was sich negativ auf die Marge auswirkt (Nitsche et al. 2016). Während in einigen Ländern die landwirtschaftlichen Tätigkeiten noch stark manuell ablaufen, werden in der deutschen Landwirtschaft viele der Tätigkeiten bereits heute durch den Einsatz digitaler Technologien unterstützt (MacPherson et al. 2022). Dabei helfen inkrementelle Innovationen wie Farm-Management-Systeme dabei, landwirtschaftliche Prozesse schneller und ressourcenschonender zu durchlaufen. Mit zunehmender Digitalisierung und Vernetzung sind auch radikalere (oft datenbasierte) Innovationen denkbar. Hierzu zählen beispielsweise intelligente Bewässerungssysteme, die die Pflege von Ackerflächen witterungsabhängig unterstützen oder automatisierte Melkroboter. Die Sammlung landwirtschaftlicher Daten erhöht zudem die Transparenz gegenüber anderen Akteur:innen in der Wertschöpfungskette. Dadurch steigt das Vertrauen in die Qualität der Roherzeugnisse, was sich im Zuge von Preisverhandlungen positiv auf die Margen auswirken kann.
Produzent:innen sind für die Weiterverarbeitung der Roherzeugnisse verantwortlich. Hierbei kommt es vor allem auf eine schnelle Verarbeitung unmittelbar nach Erhalt der Rohstoffe an, da verderbliche Lebensmittel mit einem Mindesthaltbarkeitsdatum versehen sind. Für die schnelle Verarbeitung kommt erschwerend ein Fachkräftemangel hinzu, der aus geringen Löhnen und einem vergleichsweisen schlechten Image der produzierenden Lebensmittelindustrie resultiert (Munnisunker et al. 2022). Seit den Anfängen der industriellen Produktion hat der Einsatz von Maschinen bei der Herstellung von Lebensmitteln zu Effizienzsteigerungen beigetragen. In den letzten Jahren konnten Produktionsprozesse durch den Einsatz von Software weiter automatisiert und optimiert werden. Konkret können digitale Technologien zum Beispiel die softwaregestützte Sortierung von Erzeugnissen mit Hilfe eines Roboters unterstützen (KUKA 2022). In diesem Zusammenhang berichten die Interviewpartner:innen nicht nur von einem Effizienzanstieg, sondern auch von geringeren Schwankungen bei der Qualität der erzeugten Lebensmittel. Durch den Aufbau eigener E‑Commerce-Strukturen können Produzenten mit Hilfe digitaler Innovation ihre Produkte vorbei am Handel direkt an die Endverbraucher:innen verkaufen (Zeng et al. 2017).
Bei den Groß- und Einzelhändler:innen treffen Anforderungen der Endverbraucher:innen auf das Angebot der Produktionsbetriebe. Im Zuge dessen werden für den Großhandel digitale Warenwirtschaftssysteme immer wichtiger, um eine möglichst direkte Anbindung von Produzent:innen und Einzelhändler:innen sicherzustellen. Solche Systeme bilden die Basis für Effizienzsteigerungen, zum Beispiel im Bereich der Logistik. Der Einzelhandel steht dagegen vor der Herausforderung, die Produkte durch überzeugende Vermarktung in möglichst großer Menge an die Endverbraucher:innen zu verkaufen. Hierbei wird verstärkt in Onlinemarketing investiert, zum Beispiel durch Marketingkooperationen auf Social-Media-Plattformen. Darüber hinaus nutzt der Einzelhandel digitale Technologien, um Endverbraucher:innen neuartige, digitale Einkaufserlebnisse zu bieten. Dies beinhaltet zum Beispiel verkürzte Wartezeiten durch Selbstbedienungskassen oder Online-Lieferangebote über eigens betriebene Plattformen (Li et al. 2020). Die steigenden Anforderungen durch Endverbraucher:innen sowie das Disruptionspotenzial durch digitale Giganten erfordert auch radikalere digitale Innovationen, die sich noch stärker an den Bedürfnissen der Endverbraucher:innen orientieren. Ähnlich zum Beispiel von Amazon Go (Polacco und Backes 2018), hat nun auch REWE den ersten Supermarkt ohne Kasse in Betrieb genommen. Technisch umgesetzt wird das neue Einkaufsangebot durch Kameras, Sensoren in den Regalen und moderner Netzwerktechnik (Rewe Group 2021). Darüber hinaus hat Rewe in Zusammenarbeit mit dem Mobilfunkanbieter Vodafone ein autonomes Fahrzeug entwickelt, das mobil Snacks verkauft (Vodafone 2021).
Endverbraucher:innen konsumieren die fertigen Produkte am Ende der Wertschöpfungskette. Dabei stellen sie Anforderungen an die Art und Weise, wie und wo die Lebensmittel erworben werden. Trends, die zurzeit von Endverbraucher:innen ausgehen, sind der Wunsch nach Nachhaltigkeit und einer Vereinfachung des Lebensmitteleinkaufs. Besonders viel Wert legen Endverbraucher:innen im Bereich Nachhaltigkeit auf Transparenzsteigerung. Aus diesem Wunsch resultieren neue Anforderungen an die gesamte Wertschöpfungskette (Trienekens et al. 2012). Der Wunsch nach Transparenz ist unter anderem getrieben vom steigenden Gesundheitsbewusstsein der Endverbraucher:innen, da die verzehrten Lebensmittel direkten Einfluss auf das körperliche Wohlbefinden haben. Außerdem haben medienwirksame Skandale der vergangenen Jahre, zum Beispiel der EHEC Skandal, gezeigt, wie essentiell es ist, möglichst schnell den Ursprung für Infektionen aufgrund des Konsums identifizieren zu können (Süddeutsche Zeitung 2017). Aufgrund der zunehmenden Digitalisierung des Alltags, zum Beispiel durch stark nutzerzentrierte Smartphone-Apps, steigen auch Anforderungen von Endverbraucher:innen an digitale Lösungen der Lebensmittelindustrie.

4 Digitale Innovation entlang der Wertschöpfungskette für Lebensmittel

4.1 Ambidextrie entlang der Wertschöpfungskette

Aufbauend auf den individuellen Nutzenpotenziale digitaler Innovationen lassen sich Erkenntnisse über Ambidextrie entlang der gesamten Wertschöpfungskette ableiten. Ambidextrie bezeichnet in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, digitale Innovation sowohl für Exploitation als auch Exploration zu nutzen. Exploitation bezieht sich auf die inkrementelle Verbesserung bestehender Produkte, Services, Prozesse und Geschäftsmodelle während Exploration deren radikale Neugestaltung adressiert (Eisenhardt et al. 2010). Betrachtet man die gesamte Wertschöpfungskette übergreifend, so zeigt sich, dass Unternehmen insbesondere am Anfang der Wertschöpfungskette ihren Fokus auf die Nutzung digitaler Technologien zur effizienteren Gestaltung bestehender Prozesse legen. Mit zunehmender Nähe zu Endverbraucher:innen steigt auch das disruptive Innovationspotenzial der Unternehmen und folglich der Fokus auf Exploration.
Diese Entwicklung lässt sich unter anderem anhand der steigenden Anforderungen der Endverbraucher:innen und sich ständig ändernden Marktbedingungen erklären. Aus einer übergreifenden Perspektive entfalten sich digitale Innovationen wie ein Dominoeffekt von den Endverbraucher:innen, über den Groß- und Einzelhandel und Produzent:innen bis hin zum landwirtschaftlichen Betrieb. Steigende Erwartungen der Endverbraucher:innen erhöhen den Druck auf den Lebensmitteleinzelhandel, neue und disruptive Produkte, Services oder Geschäftsmodelle anzubieten. Um dies zu ermöglichen, muss der Einzelhandel wiederum neue Anforderungen an die vorgelagerten Akteur:innen der Wertschöpfungskette stellen. Als Beispiel kann der Wunsch von Endverbraucher:innen nach mehr Transparenz genannt werden. Der Einzelhandel kann diesem Wunsch durch die digitale Bereitstellung detaillierter Informationen über die Herkunft von Produkten gerecht werden, beispielsweise über eine eigene Smartphone-App oder QR-Codes im Laden. Damit dies möglich ist, muss er aber auch neue Anforderungen an Produzent:innen und Landwirt:innen stellen, um die entsprechende Datengrundlage zu schaffen (Trienekens et al. 2012). Akteur:innen mit direktem Kontakt zu Endverbraucher:innen sind somit stärker in der Verantwortung, schnell auf wachsende Anforderungen und neue Marktopportunitäten mit explorativen, digitalen Innovationen einzugehen, worauf vorgelagerte Akteur:innen wiederum reagieren müssen.

4.2 Übergreifende Nutzenpotenziale für die Wertschöpfungskette für Lebensmittel

Abb. 2 zeigt, wie die eingangs vorgestellten Herausforderungen, die aus internationaler Zusammenarbeit, dem Versorgungsauftrag und dem erhöhten Wunsch von Endverbraucher:innen nach Nachhaltigkeit resultieren, auf die Akteur:innen und die Wertschöpfungskette für Lebensmittel wirken. Darüber hinaus werden die in Abschn. 4.1 beschriebenen Beobachtungen darüber dargestellt, wie sich Ambidextrie und das Verhältnis zwischen Exploration und Exploitation entlang der Wertschöpfungskette als Dominoeffekt entfaltet.
Auf Grundlage der erweiterten Wertschöpfungskette für Lebensmittel lassen sich drei Nutzenpotenziale digitaler Innovationen ableiten: Steigerung der Nachhaltigkeit, Sicherstellung des Versorgungsauftrags, und Stärkung der internationalen Zusammenarbeit.
Nutzenpotenzial zur Steigerung der Nachhaltigkeit
Ausgehend von verstärkt spürbaren Folgen des Klimawandels sowie geopolitischen und demografischen Veränderungen, zum Beispiel eine wachsende Weltbevölkerung und Ressourcenknappheit, ist das Bewusstsein in der Gesellschaft für Nachhaltigkeit in den letzten Jahren angestiegen (Nai-Jen und Cher-Min 2010). Dabei wird das Thema Nachhaltigkeit aus ökologischer, ökonomischer und sozialer Perspektive in kaum einer Branche so intensiv diskutiert, wie in der Lebensmittelindustrie (Kohl und Sabet 2020). Aktuelle Debatten rund um Verpackungsreduktion, Lebensmittelverschwendung, Aufrechterhaltung der Biodiversität und dem Schutz der Menschenrechte in der Wertschöpfungskette für Lebensmittel zeigen, wie vielfältig sich der Nachhaltigkeitsgedanke in dieser Branche entfaltet (Kohl und Sabet 2020) und wie komplex dadurch eine ausreichende Adressierung wird. Hinzu kommen Nachfragen der Endverbraucher:innen nach qualitativ hochwertigen Lebensmitteln aus regionaler und möglichst umweltfreundlicher Produktion sowie der Wunsch nach mehr Transparenz und Rückverfolgbarkeit entlang der Wertschöpfungskette. Um den Anforderungen der Endverbraucher:innen gerecht zu werden, trägt die Integration und digitale Vernetzung von Produktionsbereichen und Akteur:innen dazu bei, Treibhausgasemissionen zu verringern, Ressourcen effizienter zu verteilen und Produktions- und Abfallmengen durch inkrementelle Innovationen zu optimieren. Der Austausch und die gemeinsame Nutzung gesammelter Daten ermöglicht dabei nicht nur die Entwicklung effizienter und umweltfreundlicher Prozesse für eine präzisere Fertigung, sondern bietet auch weitreichende Einblicke in die Produkthistorie und deren Ursprung. Beispielsweise gibt es Bestrebungen, die faire Entlohnung im Kakaohandel sicherzustellen, indem alle Zahlungsströme öffentlich auf einer Blockchain abgebildet werden (Newar 2022). Dadurch können Endverbraucher:innen die gesamte Entstehungshistorie einzelner Lebensmittel kontrollieren und nachvollziehen. Digitale Technologien können jedoch nur dann zielbringend eingesetzt werden, wenn die Interoperabilität von Daten, Informationen und digitalen Lösungen zwischen den einzelnen Akteur:innen gewährleistet ist (Trienekens et al. 2012). Hierzu gehört neben der Entwicklung einer zentralen Datenstruktur auch die Bereitstellung von Open-Source-Lösungen und die Offenlegung von Quellcodes, um die Softwarequalität zu erhöhen und die Softwareentwicklung ganzheitlich zu beschleunigen. Neben den technischen Rahmenbedingungen wie der Interoperabilität erfordert der Einsatz digitaler Technologien in der Lebensmittelindustrie auch die Auseinandersetzung mit ethischen, sozialen und rechtlichen Fragestellungen (Barton und Pöppelbuß 2022). So gewinnt unter anderem der verantwortungsbewusste Umgang mit sensiblen Daten zunehmenden an Bedeutung, um Datenmissbrauch zu verhindern. Daneben wirft auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Lebensmittelindustrie neue Fragen der digitalen Ethik auf. So muss beispielsweise sichergestellt werden, dass Maschinen und Algorithmen transparent zum Nutzen der Endverbraucher:innen eingesetzt werden und negative Auswirkungen fehlender menschlicher Werte und Fähigkeiten frühzeitig erkannt und eingedämmt werden. Die Erarbeitung von internationalen Standards und Konzepten für verantwortungsbewusstes und unternehmerisches Handeln in der Lebensmittelindustrie ist dabei ein wichtiger Schritt zum nachhaltigen und ethisch vertretbaren Einsatz digitaler Technologien.
Nutzenpotenzial zur Sicherstellung des Versorgungsauftrags
Die Lebensmittelindustrie ist durch ihren strengen Versorgungsauftrag Teil der kritischen Infrastruktur und unterliegt damit entsprechenden Regularien. Es ist die Aufgabe der Lebensmittelindustrie, die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zu jedem denkbaren Zeitpunkt gewährleisten zu können. Folglich hat die Lebensmittelindustrie eine hohe Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen. Um dem Versorgungsauftrag auch während Krisen, wie beispielsweise der Coronapandemie, oder bei steigenden Energie- und Rohstoffpreisen gerecht zu werden, helfen inkrementelle, digitale Innovationen dabei, die Wertschöpfungskette in Bezug auf die Versorgungssicherheit resilienter zu gestalten. Erschwerend kommt hinzu, dass Lebensmittel aufgrund ihrer begrenzten Haltbarkeit nur kurze Zeit verwertbar sind und im Gegensatz zu anderen Produkten nicht unbedenklich lange gelagert werden können. Durch die Erfassung und Analyse von Daten entlang der Wertschöpfungskette und die Bereitstellung dieser Daten für intelligente Überwachungs- und Optimierungsinstrumente ist es beispielsweise möglich, genaue Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen und Trends auf dem Markt zu treffen. Dadurch können Risiken minimiert, übermäßiger Verbrauch vermieden und Lagerbestände optimiert werden. Langfristig stabile Versorgungssicherheit für die Bevölkerung kann dabei nur durch enge Zusammenarbeit und Verzahnung aller Akteur:innen entlang der Wertschöpfungskette erreicht werden. Aufgrund ihrer Rolle als kritische Infrastruktur ist es für die Lebensmittelindustrie unerlässlich, beim Umgang mit digitalen Technologien Vorsicht walten zu lassen, um Systemausfälle und das Risiko von Cyberangriffen zu vermeiden. Durch die zunehmende digitale Vernetzung entlang der Wertschöpfungskette betrifft ein Systemausfall oder Cyberangriff automatisch mehrere Akteur:innen, was zu kurz- und langfristigen Versorgungsengpässen oder Rohstoffknappheit führen kann.
Nutzenpotenzial zur Stärkung der internationale Zusammenarbeit
Als Folge der Globalisierung sind 37 % aller Lebensmittelprodukte in Deutschland mit Vorleistungen aus anderen Ländern verbunden (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2022). Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteur:innen der Wertschöpfungskette erfolgt somit über Ländergrenzen hinweg in internationalen Ökosystemen. Daraus ergeben sich Herausforderungen im Hinblick auf die Vielfalt der rechtlichen Rahmenbedingungen und der erforderlichen Dokumentationspflichten, die einen Datenaustausch zwischen den beteiligten Akteur:innen und Gesetzgebern erforderlich machen. Erschwerend kommt hinzu, dass der deutsche Lebensmitteleinzelhandel ein hochkonzentrierter Markt ist, wobei sich 85 % der Marktanteile auf die vier großen Handelsunternehmen EDEKA, REWE, Aldi und die Schwarz-Gruppe (z. B. Lidl) verteilen (Bundeskartellamt 2020). Diese Oligopolstellung geht mit einer erheblichen Marktmacht der genannten Unternehmen einher, deren Vorgaben sich stark auf andere Akteur:innen in der Wertschöpfungskette auswirken und zu Digitalisierungsmaßnahmen drängen. Die Einführung und Nutzung bestimmter Technologien wie Cloud Computing, Big Data Analytics oder Internet of Things werden so beispielweise zur Voraussetzung einer Geschäftspartnerschaft und zukünftigen Zusammenarbeit. Dies stellt weltweit insbesondere für kleinere Landwirt:innen eine große Herausforderung dar, da diese unter dem Druck großer Lebensmittel- und Einzelhandelsunternehmen stehen, gleichbleibende Mengen an Produkten in standardisierter Qualität liefern zu können und dabei die eigenen Prozesse kontinuierlich im Einklang mit den Vorgaben des Handels zu automatisieren und digital abzubilden (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2022). Der Aufbau digitaler Infrastrukturen, die für alle Teilnehmenden gleichermaßen offen und ohne Einschränkungen zugänglich sind, wirkt den negativen Folgen dieses Machtgefälles entgegen und gewährleisten die Freiheit aller Akteur:innen am Markt. So können auch Landwirt:innen aus Entwicklungsländern am technologischen Fortschritt teilhaben und davon profitieren (Annan und Dryden 2015). Darüber hinaus bündelt eine digitale Infrastruktur alle übergreifenden Rahmenbedingungen und Regelungen, die für die grenz- und sektorübergreifende Erfassung, Analyse und Auswertung von Daten erforderlich sind (Trienekens et al. 2012). Digitale Innovationen tragen folglich dazu bei, die Wettbewerbssituation zu verbessern und ermöglichen einen fairen Wettbewerb durch Selbstbestimmtheit der Teilnehmenden.
Die beschriebenen Nutzenpotenziale machen deutlich, dass digitale Innovationen in der Lebensmittelindustrie weit über Unternehmensgrenzen hinweg wirken und genutzt werden können. Durch die enge Zusammenarbeit aller Akteur:innen in einem durchgehend vernetzten Ökosystem entstehen ganzheitliche Lösungen in Form von neuen Produkten, Services, Prozessen und Geschäftsmodellen, die übergreifende Herausforderungen und Probleme der Endverbraucher:innen adressieren (Savastano et al. 2018).

5 Handlungsempfehlungen für die Praxis

Um die vorgestellten Nutzenpotenziale heben zu können, müssen alle Akteur:innen der Lebensmittelindustrie in der Lage sein, digitale Innovation gleichermaßen für Exploitation wie Exploration vorantreiben zu können. Unsere Interviews zeigen aber, dass Ambidextrie entlang der Wertschöpfungskette noch ungleich ausgeprägt ist. Die nachfolgenden drei Handlungsempfehlungen sollen Entscheidungsträger:innen in der Lebensmittelindustrie dabei unterstützen, die Fähigkeit der Ambidextrie auf Ebene einzelner Akteur:innen sowie entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu steigern und zur Adressierung der genannten Herausforderungen zu nutzen.
Schaffen einer technologischen Basis und Ausbau der digitalen Kompetenz
Viele Expert:innen betonten in den Interviews, dass digitale Innovation in der Lebensmittelindustrie oft an der technischen Umsetzung scheitert. Gerade Landwirt:innen und Produzent:innen sehen sich dabei häufig in einer reagierenden Rolle, in der sie schnell technische Mindestanforderungen erfüllen müssen, die der Groß- und Einzelhandel im Rahmen eigener digitaler Innovationen schafft. So bleibt ihnen häufig keine andere Wahl, als sich den neuen Mindestanforderungen über inkrementelle Innovation anzupassen. Gerade diesen beiden Akteur:innen empfehlen wir daher, frühzeitig eine zukunftsfähige, technologische Basis zu schaffen und eigene digitale Kompetenzen auf- und auszubauen. Nur so können sie in die Rolle eines aktiven Gestalters wechseln, der selbst und gemeinsam mit dem Groß- und Einzelhandel an den explorativen, digitalen Innovationen von morgen arbeitet.
Zusammenarbeit in digitalen Ökosystemen
Auch wenn wir in unseren Interviews bereits erste Muster einer Ökosystem-ähnlichen Zusammenarbeit entdecken, empfehlen wir allen Akteur:innen der Lebensmittelindustrie noch stärker auf den Aufbau digitaler Ökosysteme hinzuarbeiten. Digitale Ökosysteme bieten dabei großes Potenzial zur Sicherstellung des Versorgungsauftrags und Stärkung der internationalen Zusammenarbeit. Durch die enge Vernetzung und den offenen Datenaustausch zwischen vielen Akteur:innen lassen sich beispielsweise Produktionsmengen genau vorhersagen oder alternative Lieferwege für Produkte auch in Krisenzeiten schnell ermitteln. Gerade aber Landwirt:innen und Produzent:innen, die bisher keinen oder nur wenig direkten Kontakt zu Endverbraucher:innen hatten, erhalten in digitalen Ökosystemen völlig neue Einblicke, wie ihre Produkte gekauft und konsumiert werden. Daraus können wiederum neue Ideen für explorative, digitale Innovationen abgeleitet werden. Zuletzt schaffen digitale Ökosysteme Anreize dafür, digitale Kompetenzen und Ambidextrie nicht nur im eigenen Unternehmen, sondern im gesamten Ökosystem weiterzuentwickeln. Erfahrene Akteur:innen können ihr Wissen mit den anderen teilen und erhöhen so die Chance, dass im Ökosystem entwickelte digitale Innovationen erfolgreich sind.
Gleichermaßen in nachhaltige und digitale Transformation investieren
Die Interviewergebnisse bestätigen, dass die dominierende Anforderung der Endverbraucher:innen der Wunsch nach sozialer, ökonomischer und ökologischer Nachhaltigkeit ist (McKinsey & Company 2021). Zur Erfüllung dieser Anforderung erwarten Endverbraucher:innen nicht nur inkrementelle Verbesserung auf Ebene einzelner Prozesse sondern grundlegend neue Wege der nachhaltigen Wertschöpfung. Diese können Akteur:innen nur anbieten, indem sie gleichermaßen in nachhaltige und digitale Transformation investieren (Hrustek 2020). Die so verfolgte Twin Transformation beschäftigt sich zum Beispiel mit der Frage, wie digitale Technologien, nachhaltige Geschäftsmodelle ermöglichen (Accenture 2021). So lassen sich neue Wege der Wertschöpfung erschließen (Exploration), zum Beispiel im Rahmen einer Kreislaufwirtschaft, während durch inkrementelle Verbesserung bestehender Prozesse und Abläufe Energie und Kosteneinsparungen erzielt werden (Exploitation).

6 Limitationen und Ausblick

Die Lebensmittelindustrie sieht sich weitreichenden Herausforderungen gegenüber, bei deren Adressierung digitale Innovationen helfen können. Im Rahmen unserer Interviewstudie liefern wir diesbezüglich zwei zentrale Ergebnisse mit Wert für Forschung und Praxis. Zum einen zeigen wir wesentliche Nutzenpotenziale digitaler Innovationen für die Lebensmittelindustrie auf, wobei wir auch auf die Rolle von Ambidextrie und digitaler Ökosysteme eingehen. Dabei heben wir uns von bisherigen Beiträgen ab, indem wir neben Nutzenpotenzialen für einzelne Akteur:innen auch drei Potenziale für die gesamte Wertschöpfungskette aufzeigen: Steigerung der Nachhaltigkeit, Sicherstellung des Versorgungsauftrags, und Stärkung der internationalen Zusammenarbeit. Zum anderen formulieren wir auf Basis unserer Ergebnisse Handlungsempfehlungen, welche von Entscheidungsträger:innen in der Lebensmittelindustrie genutzt werden können, um mit digitalen Innovationen zielführend auf die beschriebenen Herausforderungen reagieren und die Nutzenpotenziale heben zu können.
Trotz der umfangreichen Interviewstudie mit 24 Expert:innen aus 19 Unternehmen der Lebensmittelindustrie weist unsere Arbeit Limitationen auf. Erstens obliegt die Auswertung der Interviews teilweise unserer subjektiven Einschätzung. Im Rahmen der Kodierung und Analyse haben wir darauf geachtet, dass immer mindestens zwei Autor:innen die Interviews voneinander getrennt bearbeiten, bevor die Ergebnisse gemeinsam diskutiert werden. Trotzdem kann es dabei vorgekommen sein, dass Aussagen der Expert:innen falsch verstanden oder interpretiert wurden. Zweitens sind die Aussagen der interviewten Expert:innen von mehreren individuellen Kontextfaktoren abhängig, zum Beispiel der Größe des Unternehmens oder der Position der Expert:in. Dies schränkt die Übertragbarkeit unserer Ergebnisse auf andere Unternehmen ein. Drittens haben wir unsere Ergebnisse bisher nicht evaluiert. Hier kann zukünftige Forschung ansetzen und die beschriebenen Nutzenpotenzialen in einer Langzeitstudie mit mehreren Akteur:innen aus der Lebensmittelindustrie untersuchen.
Daneben weist unsere Arbeit Limitationen in Bezug auf die in Abschn. 5 genannten Handlungsempfehlungen auf. Obwohl die Handlungsempfehlungen praktische Anhaltspunkte für die Steigerung der Ambidextrie auf Ebene einzelner Akteur:innen und entlang der gesamten Wertschöpfungskette bieten, ist zu beachten, dass der Weg bis zu deren Umsetzung einige Hürden und Zwischenschritte beinhalten kann. So erfordert der Aufbau digitaler Ökosysteme hohe Investitionen und einen Kulturwandel auf Seiten der Unternehmen, da neue Strukturen und Regelungen für die Zusammenarbeit meist erst mit großem Aufwand geschaffen werden müssen. Hierzu zählt auch der veränderte Umgang mit geistigem Eigentum von Unternehmen, wie beispielsweise der Offenlegung von Quellcodes. Während traditionell die Eigentumsrechte eindeutig einem Unternehmen zugeordnet werden konnten, müssen in Zukunft neue Prozesse und Strukturen etabliert werden, die der unternehmensübergreifenden Wertschöpfung und der neuen Wettbewerbssituation Rechnung tragen. Diese und weitere Herausforderungen gilt es in zukünftiger Forschung genauer zu untersuchen, um die Potenziale digitaler Innovation in der Lebensmittelindustrie weiter ausschöpfen zu können.
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass auch die Lebensmittelindustrie zunehmend vom digitalen Wandel geprägt ist. Auf Ebene der einzelnen Akteur:innen werden dabei sowohl inkrementelle als auch radikale digitale Innovationen umgesetzt. Zukünftig werden digitale Ökosysteme, in denen die Akteur:innen gemeinsam die großen Herausforderungen der Industrie adressieren, eine immer größere Rolle spielen. Wir sind davon überzeugt, dass unser Artikel dazu beiträgt, auf die Herausforderungen der Lebensmittelindustrie adäquat zu reagieren.

Danksagung

Dieser Artikel wurde durch das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie im Rahmen des Projekts „Fraunhofer Blockchain Center (20-3066-2-6-14)“ gefördert. Wir danken an dieser Stelle für die Unterstützung.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
Zurück zum Zitat Nai-Jen C, Fong C‑M (2010) Green product quality, green corporate image, green customer satisfaction, and green customer loyalty. African J Bus Manag 4(13):2836–2844 Nai-Jen C, Fong C‑M (2010) Green product quality, green corporate image, green customer satisfaction, and green customer loyalty. African J Bus Manag 4(13):2836–2844
Zurück zum Zitat Polacco A, Backes K (2018) The amazon go concept: Implications, applications, and sustainability. J Bus Manag 24(1):79–92 Polacco A, Backes K (2018) The amazon go concept: Implications, applications, and sustainability. J Bus Manag 24(1):79–92
Zurück zum Zitat Savastano M, Amendola C, D’Ascenzo F (2018) How Digital Transformation is Reshaping the Manufacturing Industry Value Chain: The New Digital Manufacturing Ecosystem Applied to a Case Study from the Food Industry. In: Lamboglia R, Cardoni A, Dameri R, Mancini D (Hrsg) Network, Smart and Open. Lecture Notes in Information Systems and Organisation, 24. Aufl. Springer, Cham, S 127–142 Savastano M, Amendola C, D’Ascenzo F (2018) How Digital Transformation is Reshaping the Manufacturing Industry Value Chain: The New Digital Manufacturing Ecosystem Applied to a Case Study from the Food Industry. In: Lamboglia R, Cardoni A, Dameri R, Mancini D (Hrsg) Network, Smart and Open. Lecture Notes in Information Systems and Organisation, 24. Aufl. Springer, Cham, S 127–142
Metadaten
Titel
Ambidextrie entlang der Wertschöpfungskette – Digitale Innovation in der Lebensmittelindustrie
verfasst von
Christoph Buck
Thomas Kreuzer
Alexander Rex
Antonie Teuchert
Publikationsdatum
03.05.2023
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 1436-3011
Elektronische ISSN: 2198-2775
DOI
https://doi.org/10.1365/s40702-023-00979-9

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