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Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 3/2023

Open Access 20.04.2023 | Schwerpunkt

Innovationstreiber oder strukturpolitischer Irrglaube?

Regionale Gründungsökosysteme zur Förderung der Wirtschaftskraft

verfasst von: Johannes Hähnlein, Anna Küster

Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik | Ausgabe 3/2023

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Zusammenfassung

Unternehmerisches Handeln in Form von Unternehmensgründungen, v. a. Start-ups, treiben Fortschritt und Innovation auf vielen Ebenen an. Sie sind einer der aktuell meist umworbenen Motoren für den wirtschaftlichen Wohlstand unserer Gesellschaft. Immer mehr wirtschaftspolitische Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, ebendies zu fördern. Jedoch werden regional starke Unterschiede hinsichtlich des Gründungsgeschehens beobachtet. So spielt die Förderung von Gründungen und der Aufbau sogenannter Gründungsökosysteme (Entrepreneurial Ecosystems) auch in der Regionalpolitik eine zunehmend größere Rolle. Es gilt, jeden Wirtschaftsstandort singulär zu betrachten, Besonderheiten zu identifizieren und die Bedürfnisse der regionalen Akteure zu ermitteln, um passende Maßnahmen zur Etablierung eines solchen Ökosystems abzuleiten. Im vorliegenden Artikel wird ein exemplarischer Standort durch die Anwendung eines Gründungsökosystemmodells auf spezifische Determinanten hin untersucht. Stärken, Schwächen und Potenziale des Wirtschaftsstandortes in Bezug auf seine Rahmenbedingungen für Gründungen werden in zwei Gruppeninterviews (Gründer:innen und unterstützende Institutionen) ermittelt. Die Ergebnisse zeigen, dass die zahlreichen Wechselwirkungen eines Gründungsökosystems in den aktuellen Strukturen nicht ausreichend und effizient gesteuert werden und relevante Beteiligte die Effektivität von Ökosystem-Elementen und Fördermaßnahmen differenziert wahrnehmen. Die Untersuchung liefert Erkenntnisse für zukünftige gründungs- und innovationspolitische Maßnahmen und Interventionen in der untersuchten Region und dient damit methodisch als Vorbild zur Untersuchung weiterer regionaler Gründungsökosysteme.
Hinweise
HMD
Praxis der Wirtschaftsinformatik
Call for Papers „Ambidextrie im Innovationsmanagement“ (351)

1 Gründungsökosysteme als regionale Innovations- und Wachstumsstrategien

Unternehmensgründungen sind eine Möglichkeit, um Innovationen auf den Weg zu bringen und ökonomische Entwicklung und Wachstum zu fördern (Kollmann et al. 2020; Ratten 2020). Auch etablierte Unternehmen stehen mehr denn je vor der Aufgabe, bestehende Strukturen innovativ durch Unternehmertum zu bereichern und sich stetig weiterzuentwickeln. Sie müssen lernen, mit Start-ups zu konkurrieren oder kooperieren, auf Disruptionen zu reagieren und tätigen manchmal sogar eigene Ausgründungen (Hölzle et al. 2020). Um Unternehmensgründungen zu fördern, wird die Fähigkeit zur Ambidextrie auf verschiedensten Ebenen benötigt. So müssen Unternehmen ihre bestehenden Geschäftsmodelle effizient gestalten und gleichzeitig versuchen, z. B. durch Corporate Entrepreneurship, innovative Geschäftsfelder zu erschließen. Aber auch auf wirtschaftspolitischer Ebene muss organisationale Ambidextrie integriert werden, um optimale Voraussetzungen für etablierte Unternehmen und Technologien zu schaffen und trotzdem Raum und Potenziale für erfolgreiche Disruptionen durch neu gegründete Start-ups zu ermöglichen. Dies trifft gerade auf wirtschaftsstarke Industrienationen wie Deutschland zu.
Hier zeigt sich jedoch, dass der Gründungsstandort Deutschland im Ländervergleich bei der Anzahl der Gründungen im Jahr 2020 nicht besonders gut abschneidet. Bei einem Vergleich im Rahmen des Global Entrepreneurship Monitors (GEM) mit anderen Ländern mit hohem Einkommen belegte Deutschland den drittletzten Platz (Sternberg et al. 2021). In einer Untersuchung der Gründungsaktivitäten über die Jahre 2003 bis 2019 hat das Institut für Mittelstandsforschung enorme Unterschiede in den regionalen Gründungsintensitäten identifizieren können. Diese variiert zwischen 23 und 127 Existenzgründungen je 10.000 Einwohner in 401 Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland (Suprinovič et al. 2021). Dies deutet unter anderem darauf hin, dass in jeder Region die Bedingungen für Unternehmen und Unternehmensgründungen unterschiedlich sind (Guerrero et al. 2021). Gleichzeitig rücken Maßnahmen zur Gründungsförderung seit einiger Zeit auch in das Betrachtungsfeld von Regional- und Wirtschaftspolitik, da Unternehmensgründungen als Treiber des regionalen Wirtschaftswachstums und somit der nachhaltigen Wohlstandssicherung angesehen werden (Bijedić et al. 2020). Eine Vielzahl von wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur regionalen Förderung der Gründungsaktivitäten sind eine Folge dessen (BMWK 2021). Mittlerweile haben sich diverse regionale Ökosysteme entwickelt, die an lokale Stärken anknüpfen (Kollmann et al. 2021; Wallisch et al. 2019).
Entrepreneurial Ecosystems können sich wie natürliche Ökosystem langsam und durch Interaktionen von Akteuren entwickeln (Bottom-Up Ansatz). Im Gegensatz hierzu impliziert der Top-Down Ansatz, dass Ökosysteme von politischen Entscheidungsträger:innen aufgebaut und/oder gestaltet werden können. Das findet vor allem dann statt, wenn mit der Schaffung eines unternehmerischen Ökosystems ein globales, nationales oder auch regionales strategisches Ziel verfolgt wird (Colombo et al. 2019). So wurde z. B. 1998 das EXIST-Programm als bundesweite Fördermaßnahme ins Leben gerufen, um Gründungsnetzwerke, Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie Gründer:innen finanziell und strukturell zu unterstützen (BMWK 2022). Trotzdem sollte jeder Wirtschaftsstandort separat betrachtet werden, um ein individuelles Konzept für die jeweilige Region auszuarbeiten, welches den lokalen Anforderungen entspricht und alle relevanten öffentlichen, aber auch privaten Institutionen berücksichtigt (Wallisch et al. 2019). Um diese Herausforderung zu bewältigen und geplante sowie implementierte Maßnahmen zu überprüfen, bedarf es eines systematischen Monitorings und regelmäßiger kontextspezifischer Überprüfung. An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an. Am Beispiel der bayerischen Stadt Ansbach wird untersucht, inwiefern wirtschaftspolitische Maßnahmen den regionalen Anforderungen auch tatsächlich entsprechen und ein Unterstützungsangebot für Gründer:innen darstellen, das Ansbach nachhaltig und gewinnbringend zur Innovations- und Gründungsregion macht. Folgende Forschungsfragen wurden hierfür identifiziert:
  • Welche Erfolgsfaktoren und Potenziale gibt es für die Konstitution des Gründungsökosystems des Wirtschaftsraums Ansbach?
  • Welche Handlungsempfehlungen können daraus für zukünftige politische Fördermaßnahmen abgeleitet werden?
Die Erkenntnisse der Studie sollen auf übergeordneter Ebene wirtschaftspolitischen und unternehmerischen Entscheidungsträger:innen Handlungsempfehlungen zum Aufbau eines gründungsfreundlichen Umfeldes liefern und als methodische Vorlage zur Untersuchung weiterer Regionen dienen. Damit kann ein erster Teilaspekt der Ambidextrie in diesem Kontext erschlossen werden. Die Analyse der simultanen Berücksichtigung der Exploitation, also die effiziente Gestaltung etablierter unternehmerischer Tätigkeiten, sollte in weiteren Studien erfolgen. Demzufolge dient das Element der Ambidextrie in dieser Arbeit lediglich als rahmengebendes Element und wird in der Untersuchung nicht noch einmal explizit aufgegriffen.

2 Gründungsökosysteme als Forschungsgegenstand

Die Forschung zu Gründungen und die stetig wachsende Relevanz von Start-ups in der globalen Wertschöpfung sowie von verschiedenen damit verbundenen Disziplinen, die darauf abzielen, unternehmerisches Handeln zu fördern, hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen (Colombo et al. 2019; Guerrero et al. 2021). Die Entrepreneurship-Forschung konzentriert sich zunächst auf die reine Untersuchung von Erfolgsfaktoren für Gründungen wie den Eigenschaften einer Gründerpersönlichkeit, die Teamzusammenstellung und das Geschäftsmodell. Diese Herangehensweise stellte sich als nicht ausreichend aussagekräftig dar (Isenberg 2010; Stam und Van de Ven 2019). Infolgedessen rückten auch die äußeren Rahmenbedingungen für Gründungen mehr und mehr in das Betrachtungsfeld bei der Untersuchung des Gründungsgeschehens, z. B. die Entwicklung von innovativen Technologien an Forschungseinrichtungen, die gezielte Förderung von Gründungsideen an Hochschulen oder die Verfügbarkeit von Gründungskapital. Dabei wurde festgestellt, dass diese sogenannten Umfeldfaktoren für Gründungen regional sehr unterschiedlich sind (Guerrero et al. 2021). Seit Beginn der 2010er Jahre haben sich Untersuchungen verstärkt auf den Einfluss, die Zusammensetzung und das Zusammenspiel dieser Faktoren fokussiert (Wurth et al. 2021). So werden die Erfolgsfaktoren und Rahmenbedingungen um die geographischen und kollaborativen Eigenschaften von Entrepreneurship ergänzt und in einem holistischen Ansatz zusammengeführt (Ratten 2020). In der Literatur wird dabei in der Regel von Entrepreneurial Ecosystems oder Gründungsökosystemen gesprochen (Roundy et al. 2017). Ein Gründungsökosystem kann in diesem Kontext also als eine Zusammenstellung sich gegenseitig beeinflussender Faktoren und Akteure beschrieben werden, die so koordiniert sind, dass sie Unternehmertum in einer bestimmten Region ermöglichen (Spigel und Stam 2018; Stam und Van de Ven 2019). Den Grundstein für die anwendungsorientierte Entwicklung und Forschung von regionalen Gründungsökosystemen haben Daniel J. Isenberg mit seinem Aufsatz „How to Start an Entrepreneurial Revolution“ und dem darauf aufbauenden Modell „Domains of the Entrepreneurship Ecosystem“ sowie Brad Feld mit dem Buch „Startup Communities – Building an Entrepreneurial Ecosystem in Your City“ gelegt (Feld 2012; Isenberg 2010). Mittlerweile umfasst die Literatur eine Vielzahl von Modellen zum Gründungsökosystem. Die größten Unterschiede liegen in dem Grad der Differenzierung und der jeweiligen Reichweite, beinhalten insgesamt aber dennoch weitestgehend dieselben Komponenten (Bijedić et al. 2020).
Das RKW (Rationalisierungs- und Innovationszentrum der Deutschen Wirtschaft) hat auf dieser Basis ein anwendungsorientiertes Modell zur Analyse und Gestaltung von lokalen Gründungsökosystemen entwickelt, das eine adäquate methodische Grundlage für das mit dieser Arbeit in Verbindung stehende Forschungsvorhaben darstellt (Wallisch et al. 2019). Dieses Modell vereint die o. g. Ansätze und bezieht die sogenannte Gründungsszene sowie die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Agierenden stärker mit ein (vgl. Abb. 1). Die lokale Gründungsszene bildet das Zentrum des Modells. Sie spiegelt die Menschen mit ihren individuellen Einstellungen, Kenntnissen und Fähigkeiten wider. Erfolgreiche Gründer:innen fungieren als Vorbilder, entwickeln Netzwerke und werden später manchmal selbst zu Investor:innen, woraus ein sich selbst verstärkender Entwicklungskreislauf entsteht. Potenzielle Gründer:innen sollen in die Gründerszene integriert werden und kommen häufig von Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen oder aus regionalen Unternehmen. Die Förderung durch die Politik stellt eine unterstützende Aufgabe dar, die auf institutioneller Ebene durch Maßnahmen zum Ausdruck kommt. Letztlich entscheidet jedoch die Nachfrage über den Erfolg einer Gründung. Je nach Geschäftsmodell spielen Endkund:innen (B2C) und Geschäftskund:innen (B2B) eine kleine oder große Rolle (Wallisch et al. 2019).

3 Untersuchung und Evaluation des Gründungsökosystems

3.1 Untersuchungsgegenstand

Das Gründungsökosystem des Wirtschaftsraums Ansbach stellt den Untersuchungsgegenstand dieser Forschung dar. Mit rund 41.000 Einwohner:innen ist die kreisfreie Stadt Ansbach im Bundesland Bayern Sitz der Regierung von Mittelfranken und zahlreicher Behörden. Viele kleine Unternehmen im Handwerk und verarbeitenden Gewerbe sowie industrielle Fertigungsstätten prägen die Wirtschaftsstruktur der Region (Stadt Ansbach 2021b). Stadt und Landkreis Ansbach wurden im Landesentwicklungsprogramm Bayern als „Raum mit besonderem Handlungsbedarf“ eingestuft und gelten nach diesem als besonders strukturschwach (StMWi 2018). Diese Räume sind i. d. R. gekennzeichnet vom Bevölkerungsrückgang, Alterung und einer wirtschaftlich schwierigeren Situation (StMWi 2020). Wie in der nationalen Betrachtung war in der Pandemie-Zeit auch in Mittelfranken ein Rückgang in der Anzahl der Gewerbeanmeldungen zu beobachten. 2020 wurden dort 14.815 Gewerbe angemeldet, was der geringsten Anzahl seit 2011 entspricht (IHK Nürnberg für Mittelfranken 2021).
Gerade aus diesem Grund wurde die Innovations- und Gründungsförderung als politisches Ziel ausgerufen. Als Maßnahme wurde bspw. an der Hochschule Ansbach eine Gründungsberatung mit einem breiten interdisziplinären Angebot ins Leben gerufen. Im Jahr 2021 wurde zudem von Stadt und Landkreis Ansbach das ANsWERK – digitales Gründerzentrum Stadt und Landkreis Ansbach mit einem Standort in der Stadt Ansbach und einem Standort in Merkendorf im Landkreis Ansbach eröffnet (Stadt Ansbach 2021a). Mit dieser Ausgangslage steht Ansbach stellvertretend für eine Vielzahl ländlich geprägter Regionen in Deutschland, die aktuell durch verschiedenste politische Förderprogramme versuchen ein Gründungsökosystem zu initiieren.

3.2 Methodisches Vorgehen und Ablauf der Untersuchung

Bei der Anwendung des Gründungsökosystem-Modells des RKW stellt eine qualitative Untersuchung in Form von interaktiven Gruppeninterviews die geeignetste Methodik dar (Misoch 2019; Wallisch et al. 2019). Hierbei wird die Erhebung verbaler Daten mit Gruppeninteraktionsprozessen und Gruppendynamiken verbunden, wobei das Erkenntnisinteresse in den Inhalten und nicht in der Analyse gruppeninteraktiver oder -dynamischer Beobachtungen liegt (Misoch 2019). Es wird davon ausgegangen, dass sich die Befragten gegenseitig stimulieren, ergänzen und korrigieren, was zu weniger redundanten Ergebnissen als bei Einzelinterviews führt (Lippold 2020; Misoch 2019). Von der Durchführung von Einzelinterviews wird außerdem Abstand genommen, um eine opportunistische Beantwortung der einzelnen Proband:innen zu vermeiden (Wallisch et al. 2019).
Zur Analyse eines regionalen Ökosystems auf Basis dieses Modells hat das RKW ein Canvas entwickelt, dessen Bearbeitung durch das Beantworten von standardisierten, offenen Fragen erfolgt. Die Proband:innen wurden für die Befragung in zwei Gruppen (Gruppe 1: Gründer:innen, Gruppe 2: Institutionen) eingeteilt und getrennt voneinander interviewt. Hierdurch sollen asymmetrische Beziehungen und Zielkonflikte unter den Teilnehmenden vermieden werden und gleichzeitig alle Mitglieder des Ökosystems ihre Perspektive konstruktiv einbringen können (Misoch 2019; Wallisch et al. 2019). Das Sampling orientierte sich an den im RKW Gründungsökosystem enthaltenen Komponenten. Die darauf aufbauend ausgewählte Stichprobe berücksichtigt Gründer:innen aus der Vorgründungsphase (1x), Gründungsphase (3x) und Nachgründungsphase (2x) sowie unterschiedliche Geschäftsmodelle (IT, Industrie, Dienstleistung und Gastronomie). Die Auswahl der teilnehmenden Institutionen umfasst 8 Proband:innen von regionalen Gründungs- und Wirtschaftsförderern, Bildungseinrichtungen, Finanzinstituten und regionaler Industrieunternehmen, wobei die Akquise durch Kontaktaufnahme und Anfrage bei den entsprechenden Institutionen erfolgte.
Die Interviews wurden mittels Videotelefonie durchgeführt. Die digitale Erhebung ist in der empirischen Sozialforschung mittlerweile weit verbreitet und etabliert (Misoch 2019). Die Teilnehmer:innen notieren ihre Gedanken und Ideen in einem digitalen Kollaborationstool, auf das alle gleichzeitig zugreifen können. Während sich virtuelle Räume für Diskussionen weniger eignen, bietet sich ein solches Brainwriting besonders gut an, um Informationen zu sammeln und Ideen zu bewerten. Gruppenphänomene werden hierbei weitestgehend umgangen (Schmitt 2020). Außerdem geht das Brainwriting mit einer Gleichwertigkeit der Aussagen der Teilnehmenden einher, da alle aufgeführten Punkte dieselbe Präsenz gegenüber Wortmeldungen haben (Lippold 2020). Die Teilnehmenden erhielten drei Minuten Bearbeitungszeit für die Beantwortung der Leitfragen jeder Kategorie bzw. jedes Feldes. Die Antworten wurden auf digitale Haftzettel geschrieben und durch die Verwendung von unterschiedlichen Farben Stärken, Schwächen und Potenzialen zugeordnet. Jeder Haftzettel wird mit einem Namenskürzel versehen, um sicherzustellen, dass die Antworten zuordenbar sind. Nachdem alle Fragen beantwortet waren und damit jedes Feld bearbeitet wurde, wurde abschließend der Handlungsbedarf auf Basis der gesammelten Inhalte von den Teilnehmenden als hoch, mittel oder gering bewertet.
Anschließend wurden die Antworten und Bewertungen entlang der forschungsleitenden Fragestellungen untersucht beschrieben. Es wurde außerdem die Bewertung für die Ausgestaltung der Maßnahmen bzw. Elemente mit den zugehörigen durchschnittlichen numerischen Bewertungen des Handlungsbedarfs verglichen, die gemäß der Klassifizierung in Tab. 1 einzuordnen sind.
Tab. 1
Bedeutung des numerischen Bewertungsdurchschnitts der ausgewerteten Kategorien
Bewertungsdurchschnitt
Bedeutung
2,6–3
Hoher Handlungsbedarf
1,6–2,5
Mittlerer Handlungsbedarf
1–1,5
Geringer Handlungsbedarf

4 Das Gründungsökosystem-Canvas als aggregierte Ergebnisdarstellung

In Abb. 2 und 3 werden die wichtigsten Erkenntnisse der Gruppeninterviews aus der forschungsleitenden Perspektive beschrieben. Dabei wurden die entsprechenden Antworten in eine logische Verbindung gebracht und analog zum Aufbau des Canvas, nach Kategorien sortiert, wobei Stärken durch „+“, Schwächen durch „−“ und Potenziale durch „↑“ kenntlich gemacht sind.
Um die Ergebnisse zusammenzuführen und zu vervollständigen fasst Abb. 4 die gerundeten, durchschnittlichen Bewertungen, also die Höhe des Handlungsbedarfs der jeweiligen Kategorie pro Gruppe noch einmal übersichtlich zusammen. Gruppenspezifische Gemeinsamkeiten, aber auch Abweichungen werden schnell ersichtlich.
Die in diesem Kapitel zusammengefassten Antworten aus den Gruppeninterviews spiegeln in vielen Punkten die Einschätzung des Landesentwicklungsprogramms Bayern wider, die Ansbach als struktur- und gründungsschwache Region mit großem Handlungsbedarf einstufen. Die daraus für Politik und Gründer:innen resultierenden Chancen sowie Herausforderungen werden durch die systematische Betrachtung der Rahmenbedingungen mit Hilfe des Gründungsökosystemmodells eindeutig formuliert und nachfolgend erläutert.

5 Regionalstrategie, Kooperation und Bedürfnisorientierung als Schlüsselfaktoren

Die Ergebnisse der Untersuchung machen erkennbar, dass insgesamt eine eher geringe Zufriedenheit der Gründer:innen mit dem Gründungsökosystem im Wirtschaftsraum Ansbach herrscht. Die relevanten Institutionen bewerten die Rahmenbedingungen nicht so kritisch wie die Gründer:innen, sind sich der Optimierungsbedarfe in vielen Kategorien aber ebenfalls bewusst. Die am häufigsten genannten Kritikpunkte der Gründer:innen spielen entweder auf das Mindset der regionalen Akteure und Bevölkerung, den nicht-integrativen Ansatz der Maßnahmen sowie das Fehlen von Netzwerken, Kontakten und Vorbildern, um eine Gründungsszene etablieren zu können, an.
Aus der Kritik beider Gruppen lässt sich herauslesen, dass Angebot und Nachfrage der gründungsfördernden Maßnahmen häufig nicht zusammenpassen. Das digitale Gründerzentrum fördert vorrangig digitale Gründungen, während die Anzahl an MINT-Studierenden in Ansbach zurückgeht. Daher scheint die Fokussierung auf digitale Gründungen in und für Ansbach keine naheliegende Strategie zu sein, wenn es darum geht, die etablierte, regionale Wirtschaft zu ergänzen. Vor allem im Bereich Medien sowie Agrar- und Lebensmitteltechnologie scheint viel Gründungspotenzial vorhanden, welches noch nicht ausgeschöpft ist.
Von den Befragten wird außerdem beobachtet, dass viele der Maßnahmen nicht hinreichend aufeinander abgestimmt sind. Sie scheinen sich zu wenig zu ergänzen und für die Zielgruppen unübersichtlich zu sein. Die Gründer:innen haben den Eindruck, dass es mehr darum gehe, durch staatliche Mittel geförderte Maßnahmen auch tatsächlich durchzuführen, anstatt eine tatsächliche Wirkung zu erzielen. Aus dem Interview mit den Institutionen wird außerdem erkenntlich, dass diese zu wenig miteinander kooperieren. Jedoch scheinen alte Strukturen und lange gelebte Prozesse so eingefahren, dass dies kaum zu überwinden möglich ist. Außerdem wird von den Institutionen selbst hinterfragt, inwiefern diese überhaupt dafür geeignet und qualifiziert sind, Gründer:innen zu beraten.
Auffällig ist die signifikant unterschiedliche Wahrnehmung zwischen den befragten Gruppen in den Kategorien Politik und Trends. Während die Institutionen die durch die politischen Instrumente entstehenden Möglichkeiten als besonders positiv bewerten sowie insgesamt der Meinung sind, dass die politischen Rahmenbedingungen überwiegend gründungsfreundlich sind, sehen die Gründer:innen Herausforderungen in den durch die Politik definierten Prozessen sowie der Ausrichtung der Fördermaßnahmen und stellen die Eignung politischer Akteure zur Beurteilung und Entwicklung gründungsförderlicher Rahmenbedingungen in Frage. Diese Beobachtung deutet ebenfalls darauf hin, dass das Angebot an Maßnahmen nicht immer gut zu den Bedürfnissen von Gründer:innen passen. Sie scheinen sich von politischen Institutionen nicht richtig verstanden zu fühlen. Die unterschiedliche Wahrnehmung in der Kategorie Trends kann einerseits darauf zurückzuführen zu sein, dass die Interviewgruppen insbesondere in Bezug zum Alter, der Bildung und dem Gefühl regionaler Verbundenheit in sich eher homogen, untereinander aber heterogen sind. So sehen die Institutionen besondere Chancen in dem starken Regionalbewusstsein, während die Gründer:innen dieses eher vor Herausforderungen stellt.
Abgeleitet aus diesen Erkenntnissen, lassen sich folgende Handlungsempfehlungen formulieren:
  • Attraktivitätssteigerung: Der Großteil der potenziellen Gründer:innen in Stadt und Landkreis Ansbach sind die Studierenden der Hochschulen, die nach ihrem Studium selten bleiben wollen. Daher sollte die Aufwertung des Standorts für junge Menschen fokussiert werden.
  • Strategiedefinition: Der Erfolg jeglicher Maßnahmen setzt voraus, dass eine ganzheitliche und mit allen Institutionen abgestimmte Strategie zur gesamtheitlichen Entwicklung der Region vorhanden ist. Eine solche Strategie sollte die Grundlage für ein Gründungsförderungskonzept sein.
  • Talentmanagement: Der bisher weniger beachtete, sehr spezifische regionale Talent- und Gründungspool, bestehend aus ausgebildeten Handwerker:innen, Studierenden mit Fokus Agrar- und Lebensmitteltechnik und aus Heimat-Rückkehrer:innen sollte näher untersucht werden, da gerade in diesen Personengruppen und Fachbereichen erhöhtes Gründungspotenzial vermutet werden kann.
  • Organisationsentwicklung: Da eine weitere Problematik in der mangelnden Abstimmung und Kooperation der Institutionen liegt und damit eine unzureichende Übersicht der von ihnen angebotenen Maßnahmen einhergeht, wird empfohlen, eine konkrete, übergreifende Verantwortlichkeit für die Gründungsförderung der Region zu definieren und entsprechende personelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Um die Handlungsempfehlungen abzuschließen, kann festgehalten werden, dass alle bestehenden sowie geplanten Maßnahmen besser aufeinander und auf die Bedürfnisse der Gründer:innen abgestimmt werden sollten.

6 Das Axiom der individuellen und kritischen Betrachtung von Ökosystemen

Die Untersuchung von regionalem Gründungsgeschehen, den Einflussfaktoren und Gestaltungmöglichkeiten umfasst einen umfangreichen Themenkomplex und integriert ganzheitliche Ökosysteme sowie gesellschaftliche, kulturelle und psychologische Aspekte mit zahlreichen Wechselwirkungen. In Verbindung mit wirtschaftspolitischen Lenkungsinstrumenten beeinflussen diese sich auf unterschiedliche Weise. Sie werden in der Forschung und Wissenschaft noch immer viel diskutiert und sind noch nicht abschließend untersucht (Wurth et al. 2021). In der Praxis sind regionale Unterschiede im Gründungsgeschehen zweifelsfrei signifikant und auf ein komplexes Konstrukt von Einflussfaktoren zurückzuführen. Daher besteht der Bedarf an regionsspezifischen Untersuchungen und forschungsbasierten Interventionen für jeden geographischen Raum individuell und so lange, bis sich selbst regulierende Ökosysteme etabliert haben. Die beschriebenen Ergebnisse der dafür durchgeführten Untersuchung unterstreichen, dass wirtschaftspolitische Strategien nicht immer hinreichend auf regionale Gegebenheiten abgestimmt sind und durch ein konsequentes und stetiges Monitoring begleitet werden sollten. Gerade in dieser Erkenntnis liegt der größte Gewinn der vorliegenden Studie. Aus diesem Grund soll der vorliegende methodische Ansatz Vorbild für weitere Regionen für eine niedrigschwellige und gleichzeitig erkenntnisreiche Evaluation des regionalen Gründungsökosystems dienen.
Trotzdem sollten für zukünftige Forschungsarbeiten weitere Aspekte berücksichtigt werden, die im Zuge der vorliegenden Studie evident wurden. So bedarf ein funktionierendes Ökosystem einer kritischen Masse an Akteuren, die in Beziehung zueinanderstehen. Wenngleich diese kritische Masse nicht durch einen Messwert berechnet werden kann, lohnt es sich, zu verstehen, auf welcher regionalen Ebene (Stadt, Landkreis, Bundesland etc.) und in welchen Bereichen die geeignetsten Voraussetzungen für die Konzeption einer sinnhaften Entwicklungsstrategie und der Entwicklung eines Gründungsökosystems vorherrschen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern Gründungsgeschehen regional einzugrenzen ist. Vor allem Aspekte wie eine verstärkte Standortunabhängigkeit bei der Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle und die Entwicklung neuer Arbeitsweisen (z. B. örtlich flexibel) werden das Ökosystemmodell auf geographisch regionaler Ebene vermutlich mittel- bis langfristig stark verändern.
Darüber hinaus konnten methodische Verbesserungspotenziale für zukünftige Untersuchungen identifiziert werden. Trotz der genannten positiven Aspekte von qualitativen Gruppeninterviews können auch Nachteile entstehen. Interaktionsprozesse und Dynamiken innerhalb der Gruppe haben das Verhalten der Gesprächsteilnehmenden zweifelsfrei beeinflusst. Daher erscheint es sinnvoll, die Erhebung um qualitative Einzelinterviews mit den Beteiligten zu ergänzen, um potenzielle inhaltliche Lücken zu schließen und den Einfluss von potenziellen Biases auf die Ergebnisse zu minimieren. Da es sich bei der vorliegenden Studie um die Abbildung einer Momentaufnahme handelt, empfiehlt es sich nach der Einschätzung des Autorenteams außerdem, die Analyse in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, um Entwicklungen zu erfassen und dynamische Wirkungsbeziehungen und noch konkretere Maßnahmenempfehlungen formulieren zu können. Um zudem ein vollständiges Bild der organisationalen Ambidextrie auf wirtschaftspolitischer Ebene, aber auch bei einzelnen Akteuren, wie z. B. Forschungseinrichtungen oder Unternehmen, zu erschaffen, sollten zukünftig auch die Herausforderungen zur Förderung und Steuerung bestehender Geschäftsmodelle berücksichtigt und stärker in Untersuchungen integriert werden.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Innovationstreiber oder strukturpolitischer Irrglaube?
Regionale Gründungsökosysteme zur Förderung der Wirtschaftskraft
verfasst von
Johannes Hähnlein
Anna Küster
Publikationsdatum
20.04.2023
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 1436-3011
Elektronische ISSN: 2198-2775
DOI
https://doi.org/10.1365/s40702-023-00972-2

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