3.2.1 Der Aufstieg der Rāṇā-Dynastie
Infolge von Bhīmasena Tod flüchteten zahlreiche Mitglieder der Thāpā-Familie für einige Zeit ins Exil ins Company Raj. Anfang der 1840er Jahre wurde die Familie aber wieder rehabilitiert und
Māthavara Siṃha Thāpā zum neuen mukhtiyāra ernannt. Mit ihm kehrte auch sein Neffe und Enkel Bhīmasenas, der junge
Vīra Narasiṃha Kũvara nach Kathmandu zurück. In nur wenigen Jahren stieg dieser im Windschatten seines Onkel zum General auf und wurde schließlich sogar Mitglied des königlichen Regierungsrates. Als die internen Machtkämpfe erneut eskalierten und Māthavara Siṃha ermordet wurde, machte sich Vīra Narasiṃha die andauernde Konflikte am Hofe in Kathmandu zunutze.
41 Viele Details der Ereignisse, die sich in der Nacht auf den 15. September 1846 zugetragen haben und in der Historiografie als das sogenannte „Koṭa-Massaker“ bekannt wurden, sind bis heute umstritten. Im Ergebnis aber waren viele Mitglieder der einflussreichsten bhāradāra-Familien tot und Vīra Narasiṃha wurde zum neuen mukhtiyāra und Oberbefehlshaber des Militärs ernannt.
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Er verlor keine Zeit und begann umgehend mit der Konsolidierung seiner Macht, besetzte strategisch bedeutsame Posten in Verwaltung und Militär mit Mitgliedern der eigenen Familie, engen Vertrauten und früheren Weggefährten und schuf sich so eine neue, ihm gegenüber weitaus loyalere Elite. Viele Familien der alten bhāradāra wurden enteignet und ins Exil geschickt. 1847 wurde König
Rājendravikrama Śāha (r. 1816–1847), der in der Zwischenzeit nach Benares geflohen war, entthront und stattdessen sein Sohn
Surendravikrama Śāha (r. 1847–1881) eingesetzt. Daraufhin ließ sich Vīra Narasiṃha 1849 vom jungen Monarchen den Titel
Rāṇā verleihen und nannte sich selbst fortan
Jaṅga Bahādura Rāṇā. Dieser neue Familienname wertete den sozialen Status der ehemaligen Kũvara-Familie auf und ermöglichte es ihnen Ehen mit Mitgliedern der Śāha-Dynastie zu arrangieren. Außerdem ernannte König Surendravikrama Jaṅga Bahādura zum militärischen Oberbefehlshaber und mukhtiyāra auf Lebenszeit, sprach ihm das Recht zu, sämtliche Titel und Ämter auch innerhalb seiner Familie vererben zu können und erklärte die Rāṇās als von der Todesstrafe ausgenommen. Am Ende der 1840er Jahre war die neu begründete Rāṇā-Familie damit der Śāha
-Familie im Prinzip gleichgestellt. Die Śāhas waren nur noch formell die Herrscherdynastie
, während sich alle Macht im Gorkhā-Staat auf die neuen bhāradāra und die Rāṇā-Familie, mit Jaṅga Bahādura im Zentrum, konzentrierte.
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Diese neue Elite sah sich gleich nach ihrer Machtübernahme nicht nur mit Legitimationsdefiziten gegenüber der eigenen Bevölkerung und den Verbündeten der alten bhāradāra sowie gegenüber den Briten und dem Qing-Kaiserreich, sondern zusätzlich noch mit einer weiteren existenziellen Herausforderungen konfrontiert. Das Verhältnis zwischen den Gorkhālī und der EIC war seit dem Ende des Krieges sehr angespannt und von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Auf der einen Seite war den Gorkhālī die rasante Expansion der Briten in Südasien nicht entgangen. Und aufgrund der Annexion des Marāṭhā Sāmrājyas und Avadhs sowie die Kriege gegen die Sikhs, waren die Gorkhālī um ihre eigene Unabhängigkeit besorgt. Als Reaktion hatten sie daher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts militärisch aufgerüstet. Aus britischer Perspektive hatte sich hingegen zum Ende des 18. Jahrhunderts immer deutlicher ein mögliches Bedrohungsszenario herauskristallisiert: eine Allianz zwischen Marathen, Sikhs und Gorkhālī stellte eine ernsthafte Gefahr für ihre eigenen Expansionsbestrebungen in Südasien dar. Mit ihren Siegen über die Gorkhālī 1816 und die Marathen 1818 konnte die EIC dieser potenziellen Bedrohung zuvorkommen. Die Aufrüstung der Gorkhālī schuf aber erneut Misstrauen auf britischer Seite, die daraufhin durch den Residenten Einfluss auf die Entscheidungsträger in Kath-mandu auszuüben versuchten und sogar mit dem Gedanken einer vollständigen Annexion spielten.
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Doch ab Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich die Beziehungen zwischen der britischen Kolonialmacht und den Eliten des Gorkhā-Staates grundlegend und nachhaltig. Bereits am Tag nach seiner Machtübernahme suchte Jaṅga Bahādura den britischen Residenten auf, um ihn über die neuen Verhältnisse im Land zu informieren und seine Kooperationsbereitschaft zu versichern. Er ließ die Armee nach britischem Vorbild restrukturieren, führte Englisch als Befehlssprache ein und ersetzte die von der Gurkaniya-Administration entlehnten Amtsbezeichnung in der Verwaltung durch englische Pendants. Jaṅga Bahādura selbst bezeichnete sich deshalb nicht länger als mukhtiyāra, sondern
Prime Minister,
Commander-in-Chief und
General. Um seinen unbedingten Willen zur Zusammenarbeit noch eindeutiger unter Beweis zu stellen, bot Jaṅga Bahādura der EIC 1848 wiederholt militärische Unterstützung im Krieg gegen das Sikh Rāj an. Sein Angebot wurde allerdings abgelehnt. Nichtdestotrotz initiierte er 1850 in der Funktion eines Botschafters des Monarchen mit einer recht großen Delegation eine Reise nach Europa.
45 Offiziell lautete sein Auftrag:
[…] to carry the King’s respects and assurances of friendship to the Queen; to see the greatness and prosperity of the country, and the state of the people; and to ascertain how far the application of the arts and sciences was available to the comforts and conveniences of life.
(Korrespondenz mit dem britischen Residenten zitiert in Henry Oldfield 1880: 385)
Jaṅga Bahādura verfolgte allerdings drei konkrete Anliegen, wie Captain Orfeur Cavenagh, der britische Begleiter der Delegation, in seinen Memoiren schreibt:
[Jaṅga Bahādura] was extremely anxious that an article should be added to the existing treaty, under which the reciprocal surrender of all criminals, without reference to the nature of the offence, so as to include political offenders and debtors, should be guaranteed; that he should be permitted to engage the services of one or two engineers for the purpose of improving the irrigation of his country; and lastly, that, in the event of the Durbar having reason to be dissatisfied with the conduct of the British Resident, they should have the power corresponding direct with the Home Government.
(Orfeur Cavenagh 1884: 131)
Per Segel- und Dampfschiff ging es von Kolkata (Calcutta) über Sri Lanka, Suez, Alexandria und Malta nach Southampton. Von dort aus reiste die Delegation der Gorkhālī Anfang Juni 1850 mit dem Zug nach London. Jaṅga Bahāduras Verhandlungen mit dem Court of Directors und dem Board of Control der EIC brachten allerdings nicht die erhofften Erfolge.
46 Um die enttäuschten Gäste von einer frühen Abreise abzubringen und die verbesserten Beziehungen zu den Gorkhālī nicht zu gefährden, versuchten die Gastgeber Jaṅga Bahādura und sein Gefolge mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten der viktorianischen Eliten abzulenken und sie mit allen nur erdenklichen zivilisatorischen Errungenschaften zu beeindrucken. Sie besuchten viele Sehenswürdigkeiten Londons und Umgebung, die Oper, das Theater, Pferde- und Bootsrennen, besichtigen Paläste, Landhäuser und das Parlament, Gerichtsgebäude, und die Vorbereitungen der ersten Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations. Bei unzähligen Empfängen trafen sie mit wichtigen Beamten, Ministern der Regierung und Adligen zusammen. Mehrfach empfing Queen Victoria Jaṅga Bahādura zu privaten Audienzen. Ausflüge in die industriellen Zentren des Landes nach Plymouth, Birmingham und Edinburgh, in militärische Einrichtungen, in Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen wurden organisiert, die den Besuchern die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, Technologien sowie die wirtschaftliche und militärische Leistungsfähigkeit der Briten vor Augen führen sollten. Ende August 1850 brach die Delegation schließlich nach Paris auf. Dort trafen Jaṅga Bahādura und seine Begleiter auf den damals amtierenden französischen Staatspräsidenten Charles Louis Napoléon Bonaparte und besuchte neben den zahlreichen Sehenswürdigkeiten der Stadt, auch Fontainebleau und Versailles. Ende Oktober ging es dann mit dem Zug von Paris nach Marseille und von dort aus per Schiff über Bombay und einem Zwischenstopp in Benares, schließlich zurück nach Kathmandu.
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Augenscheinlich waren die Menschen in Großbritannien und Frankreich fasziniert vom ersten Besuch eines Herrschers aus Südasien in Europa, wie die regelmäßige und ausführliche Berichterstattung in den Tageszeitungen nahelegt.
48 Und aus dem retrospektiven Reisebericht der Delegation geht hervor, dass Jaṅga Bahādura wiederum besonders viel Wert darauf legte, von den europäischen Eliten als gleichwertig wahrgenommen zu werden:
The prime minister sahib of Nepal is very ummedār, in the sense that he is handsome, rich, wise, brave and agile. Carefully admitting that he should be aware of all kinds of work (kām-kārkhānā), not afraid to spend money when required, (and) claiming that he is the one to give to others never to take from them. Observing his activities and having heard that what he speaks comes true, observing his speech, gait, laughter the kacahari declared that he has the qualities of our [French] bādśāh and he will be a great man.
(Dixit 1964 [1957]: 60; zitiert in englischer Übersetzung in Gyawali 2018: 21)
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Während die Gorkhālī ab Mitte des 19. Jahrhunderts sehr darum bemüht waren, mit der neuen Hegemonialmacht Südasiens zu kooperieren, entwickelte sich das Verhältnis zum Qing-Kaiserreich in die entgegengesetzte Richtung. Durch das Abkommen von 1792 waren die Gorkhālī in das Tributsystem der Qing-Kaiser eingebunden. Sie mussten alle fünf Jahre eine Mission nach Beijing entsenden und am koutou teilnehmen, um das Loyalitätsverhältnis zum Kaiser zu erneuern. Ende des 18. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt der Machtentfaltung des Qing-Kaiserreichs, war den Gorkhālī noch sehr daran gelegen, den Forderungen des Kaisers nachzukommen und brachten unter großen Anstrengungen zahllose Kostbarkeiten, Pferde, Elefanten und sogar ein kleines Orchester als Tribut bis nach Beijing. 1795 machten sich die Gesandten sogar zwei Jahre früher auf den Weg als nötig, um der Krönung des neuen Kaisers Jiaqing (r. 1796–1820) beiwohnen zu können.
Auf dem Höhepunkt der territorialen Ausdehnung des Gorkhā Rāj zum Ende des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts war man jedoch schon weniger um die Gunst der Qing bemüht. Die Tributmissionen wurden kleiner, reisten unter Vorwand nur noch bis nach Lhasa und übergaben die Tribute dort an die Abgesandten des Kaisers. Erst nachdem die westliche Expansion der Gorkhālī durch die die Sikhs zum Erliegen kam und sich der Konflikt mit der EIC weiter zuspitzte, brachten die Missionen der Gorkhālī ab 1812 ihre Tribute wieder selbst nach Beijing und die Gesandten erneuerten das Loyalitätsverhältnis zum Qing-Kaiser durch ihre Teilnahme am koutou. Obwohl die dadurch erhoffte Unterstützung durch den Kaiser im Krieg gegen die EIC ausblieb, intensivierten sich die Beziehungen bis in die 1840er Jahre zunächst wieder.
Doch ebenso wie ihr Verhältnis zur britischen Kolonialmacht, wandelte sich auch die Beziehung zum Qing-Kaiserreich nach der Machtübernahme der Rāṇās ab Mitte des 19. Jahrhunderts grundlegend. Anfänglich bemühten sich die neuen Herrscher in Kathmandu noch um die Aufrechterhaltung des Verhältnisses und entsandten die geplante Tributmission 1847 wie vereinbart. Doch nach ihrer Rückkehr berichteten die Gesandten von einer sich rasch ändernden Situation im Kaiserreich, von Naturkatastrophen, Unruhen, vom wachsenden Einfluss europäischer Mächte und einer steigenden Nachfrage nach Opium.
50 Die Gorkhālī nutzten die sich abzeichnende Destabilisierung des Qing-Kaiserreichs zu ihrem Vorteil und begannen ab 1852 auf ihrer Tributmission selbst Opium ins Land zu schmuggeln, um es unterwegs zu verkaufen. Nach ihrer Rückkehr 1854 berichten die Gesandten von den Auswirkungen des ersten Opiumkrieges und bewaffneten Aufständen in zahlreichen Provinzen des Reiches.
51 Jaṅga Bahādura sah die Chance gekommen als neuer Herrscher seine militärischen Fähigkeiten unter Beweis stellen und dadurch auch die Bedingungen des Abkommens von 1792 neu aushandeln zu können. Erstmals seit 1816 ließ er die Armee der Gorkhālī wieder mobilisieren und im Frühjahr 1856 in Tibet einmarschieren. Der Plan ging auf, denn aufgrund der zahlreichen Herausforderungen im Innern, vermochte es das Qing-Kaiserreich dieses Mal nicht ein Heer zu entsenden. So endete der Krieg nach nur wenigen Monaten im März 1856 mit einem neuen Abkommen, durch das Tibet dem Gorkhā-Staat gegenüber tributpflichtig wurde und den Gorkhālī umfangreiche Handelsprivilegien zuerkannt wurden.
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Jaṅga Bahādura nutzte seinen Erfolg, um den Herrschaftsanspruch der Rāṇās im eigenen Land weiter zu untermauern. Er trat von seinem Amt als Premierminister zurück und ließ stattdessen seinen Bruder
Bam Bahādura, der zuvor schon wiederholt als sein Stellvertreter fungiert hatte, zum Premierminister ernennen. Er selbst ließ sich im August 1856 von Surendravikrama Śāha den Titel
Mahārāja von Kaski und Lamjung (zwei Provinzen des Gorkhā-Staates) verleihen. Als die britische Kolonialverwaltung ihm allerdings die Anerkennung dieses neuen Titels verweigerten und nicht länger gewillt war, mit ihm als Repräsentant des Monarchen zu verhandeln, übernahm Jaṅga Bahādura nach dem unerwarteten Tod seines Bruders Anfang 1857 auch wieder das Amt des Premierministers. Kurz darauf versuchte er sich im Juni 1857 noch die letzten verbliebenen machtpolitischen Privilegien der Śāha-Monarchie anzueignen. Er ließ sich zur höchsten legislativen, exekutiven und juristischen Autorität des Gorkhā-Staates ernennen, wurde ermächtigt das
panjani, die jährliche Erneuerung der Vergabe und Bestätigung aller militärischen und administrativen Ämter im Gorkhā-Staat anstelle des Monarchen durchzuführen und bekam alle außenpolitische Entscheidungskompetenzen übertragen. Darüber hinaus wurde die Erblichkeit der beiden höchsten Ämter von Premierminister und Mahārāja bestätigt und Sukzessionslisten festgelegt. Damit war der Prozess der Machtübernahme zwar abgeschlossen und die Śāha-Dynastie faktisch der Herrschaft der Rāṇās untergeordnet.
53 Dennoch traute sich auch Jaṅga Bahādura nicht die Śāha-Monarchie vollständig zu entmachten und blieb als
śrī tīn mahārāja-adhirāja („dreifach verehrungswürdiger König der Könige“) dem Monarchen als
śrī pāñca mahārāja-adhirāja („fünffach verehrungswürdiger König der Könige“) zumindest formell untergeordnet. Alle Erlasse der neuen Rāṇā-Regierung des Gorkhā-Staates (
lālamohara) wurden auch weiterhin im Namen des Königs ausgestellt und mit dessen roten Siegel bekundet. Ansonsten hatte der Monarch nur noch zeremonielle Funktionen zu erfüllen und spielte bei den jährlichen Festlichkeiten und Ritualen eine unverändert zentrale Rolle.
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In den darauffolgenden Jahren wurde der Staatsaufbau vorangetrieben, Verwaltung, Justiz, Militär und Wirtschaft zunehmend zentralisiert und weiter effektiviert, sodass mit den stetig steigenden Staatseinnahmen auch der immer opulentere Lebensstil der größer werdenden Rāṇā-Familie finanziert werden konnte. Trotz der Verbesserung der Beziehung mit den Briten blieb Jaṅga Bahādura den wirtschaftlichen Interessen der Briten und ihren Ideen von Freihandel gegenüber misstrauisch. Er wusste, dass den Handelsvertretern nicht selten Soldaten folgten, um die britischen Interessen gegebenenfalls auch gewaltsam durchsetzen zu können. Deshalb änderten die Gorkhālī auch weiterhin nicht ihre protektionistische Wirtschaftspolitik. Die Bauern des Landes konnten ausreichend Reis, Gemüse und Getreide anbauen, um die Ernährung der Bevölkerung eigenständig sicherzustellen. Landwirtschaftliches Gerät, Werkzeuge, Waffen und Textilien wurden ebenfalls unabhängig im eigenen Land produziert. Gleichzeitig wurden hohe Importzölle erhoben, der Export von militärischen Gütern verboten und die Reisefreiheit von Europäern im eigenen Land stark eingeschränkt.
55 Ungeachtet dessen intensivierten sich die Beziehungen zu den Briten kontinuierlich weiter. Diese Entwicklung erreichte 1857–1858 einen vorläufigen Höhepunkt als Jaṅga Bahādura und einige seiner Brüder persönlich Truppen nach Lucknow und Gorakhpur führten, um die Briten bei der Niederschlagung der „großen Rebellion“ zu unterstützen.
56 Nachdem die EIC in Folge dieser Ereignisse aufgelöst und fast der gesamte südasiatische Subkontinent zur britischen Kronkolonie wurde, erhielten die Gorkhālī zum Dank für ihre Unterstützung einige Gebiete im Tarai zurück, die sie 1816 hatten abtreten müssen. Zur Würdigung seines Beitrags empfing Jaṅga Bahādura 1859 die Insignien des
Knight Grand Cross of the Order of the Bath.57
Die kontinuierliche Annäherung zu den Briten bereitete wiederum dem Qing-Kaiserreich Sorgen, das sich ab 1856 erneut im Krieg mit dem britischen und französischen Imperium befand und eine weitere Destabilisierung der tibetischen Grenzregion fürchtete. Deshalb entsandte Kaiser Xianfeng (r. 1850–1861) 1857 erstmals eine Delegation mit wertvollen Geschenken nach Kathmandu. Im Frühjahr 1860 erreichten dann zwei chinesische Wissenschaftler Kathmandu, die Flora und Fauna des Landes studieren wollten, gefolgt vom kaiserlichen Amban aus Tibet im Sommer desselben Jahres. Unter Kaiser Tongzhi (r. 1861–1875) wurde diese Politik der diplomatischen Avancen fortgesetzt und 1862 erreichten drei chinesische Architekten Kathmandu, um die Gorkhālī bei der Reparatur und Pflege buddhistischer Tempelanlagen zu unterstützen. Von August bis Oktober 1864 hielt sich eine weitere kaiserliche Delegation in Kathmandu auf, die sich über die Himalaya-Politik der Briten informieren ließ und Jaṅga Bahādura überzeugte, die Tributmissionen nach Beijing wieder aufzunehmen, die aufgrund der Unruhen und Aufstände im Kaiserreich nach 1852 ausgesetzt worden waren.
Die Gorkhālī folgten der Bitte des Qing-Kaisers und so macht sich 1866 wieder eine Tributmission auf den Weg nach Beijing. Allerdings erreichten sie ihr Ziel nicht wie geplant, sondern wurden auf halbem Wege gezwungen ihre Tribute an Beamte des Kaisers zu übergeben und umzukehren. Nur wenige Gesandte kehrten lebend zurück und von chinesischer Seite wurden die muslimischen Aufstände in den westlichen Provinzen für das Scheitern der Tributmission verantwortlich gemacht. Tatsächlich schien aber der Versuch der Gorkhālī große Mengen an Opium zu schmuggeln der eigentliche Grund für das Scheitern des Unterfangens gewesen zu sein. Um aber das Loyalitätsverhältnis mit den Gorkhālī nicht weiter zu gefährden und einer weitere Annäherung zu den Briten zu verhindern, entsandte der Qing-Kaiser 1870 und 1871 erneut diplomatische Delegationen nach Kathmandu, die wertvolle Geschenke mitbrachten und Jaṅga Bahādura den kaiserlichen Ehrentitel
T’ung-ling-ping-ma-Kuo-Kang-wang verliehen. Infolgedessen entspannten sich Beziehungen wieder.
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3.2.2 Die Herrschaft der Śamśera Rāṇās
Nach zwei Jahrzehnten innenpolitischer Stabilität kam es nach Jaṅga Bahāduras Tod 1877 zu erneuten Machtkämpfen im Gorkhā-Staat. Eigentlich war dessen Nachfolge so geregelt, dass das Amt des Premierministers seine Brüder und Neffen erben, während das Amt des Mahārāja seine Söhne übernehmen sollten. Aber
Raṇoddīpa Siṃha, sein ältester noch lebenden Bruder, beanspruchte sogleich beide Ämter für sich und in den darauffolgenden Jahren begannen die Söhne Jaṅga Bahāduras mit den Söhnen seines jüngsten Bruders
Dhīra Śamśera um die Nachfolge zu konkurrieren. Als Dhīra Śamśera 1884 schließlich starb, eskalierte der sich zuspitzende Machtkampf zwischen den
Kũvara Rāṇās und
Śamśera Rāṇās zunehmend. Im November 1885 ermordeten die Śamśera Rāṇās ihren Onkel Raṇoddīpa Siṃha und ein paar andere einflussreiche Verwandte Jaṅga Bahāduras. Seine vier verbliebenen Söhne und ihre Familien konnten sich in der britischen Residenz in Sicherheit bringen. Nach diesem gewaltsamen
Coup d’État mussten die Śamśera Rāṇās ihre neuen Herrschaftsansprüche gegenüber der eigenen Bevölkerung sowie den Briten und dem Qing-Kaiserreich legitimieren. An die Strategien ihres Onkels anknüpfend, ließ sich daher Vīra Śamśera, der älteste Sohn Dhīra Śamśeras, zunächst zum Premierminister und Mahārāja ernennen. Anschließend restrukturierten die Śamśera Rāṇās den Staatsapparat, besetzten die wichtigsten Ämter mit Familienmitgliedern und reorganisierten die Nachfolgelisten, während die überlebenden Kũvara Rāṇās und ihre Sympathisanten enteignet und exiliert wurden.
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Wie schon Jaṅga Bahādura verfolgte auch Vīra Śamśera nach der gewaltsamen Machtübernahme eine Außenpolitik der Kooperation und Annäherung. Bereits 1886 wurde eine Tributmission nach Beijing entsandt und obwohl diese wieder erhebliche Mengen Opium zum Verkauf mitschmuggelte, erreichten die Gesandten der Gorkhālī dieses Mal ihr Ziel wie geplant. Im Gegenzug erkannte Kaiser
Guangxu (r. 1875–1908) die Herrschaft Vīra Śamśeras als legitim an und verlieh ihm 1889 ebenfalls den Ehrentitel T’ung-ling-ping-ma-Kuo-Kang-wang.
60 Weitaus essenzieller für den Machterhalt der Śamśera Rāṇās war aber die Anerkennung ihres Herrschaftsanspruchs durch die britische Kolonialregierung. Das ausgesprochen gute Verhältnis der Briten zu Jaṅga Bahādura und die Tatsache, dass seine ins Exil geflüchtete Familie versuchte die britische Politik gegenüber dem Gorkhā-Staat zu beeinflussen versuchte, stellte für Vīra Śamśera eine nicht zu vernachlässigende Bedrohung dar. Den Briten war die unvorteilhafte Verhandlungsposition der neuen Machthabenden im Gorkhā-Staat bewusst und nutzten sie zur Durchsetzung der eigenen Interessen.
61 Sie rekrutierten schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts ohne Zustimmung der Regierung des Gorkhā-Staates junge Männer im Hügelland des zentralen Himalaya für die sogenannten Gurkha-Regimenter der British Indian Army.
62 Im Austausch für ihre Anerkennung des Herrschaftsanspruchs der Śamśera Rāṇās erhielt die britische Kolonialregierung die lang ersehnte Erlaubnis zur legalen Rekrutierung und die jungen Rekruten wurden fortan zur „diplomatischen Währung“ dieser Beziehungen.
63
Nach dem Tod Vīra Śamśeras 1901 folgte ihm sein Bruder
Deva Śamśera. Infolge der weiter voranschreitenden Destabilisierung des Qing-Kaiserreichs und dessen Niederlage im Krieg gegen das expandierende Japan 1894–1895 hatten die herrschenden Eliten der Gorkhālī begonnen sich zunehmend auch am Beispiel der sogenannten Meiji-Restauration in Japan zu orientieren. Inspiriert von den umfangreichen Reformen ab 1868 und der rasant wachsenden geopolitischen Bedeutung Japans versuchte auch Deva Śamśera einige für damalige Verhältnisse progressive Reformvorhaben im Gorkhā-Staat anzustoßen. Er ließ beispielsweise als Erster die allgemeine Bevölkerung bei öffentlichen Audienzen Vorschläge für Veränderungen der administrativen und justiziellen Strukturen unterbreiten, versuchte die Sklaverei zu regulieren, ein allgemeines Bildungswesens zu initiieren und gründete die erste öffentliche Zeitung des Landes –
Gorkhāpatra. Sogar eine Delegation junger Gorkhālī sollte zum Studium nach Japan entsandt werden. Allerdings missfielen die zahlreichen Reformvorhaben seinen weitaus konservativeren Brüdern, die darin eine potenzielle Bedrohung für ihren Herrschaftsanspruch sahen. Nach weniger als vier Monaten im Amt wurde Deva Śamśera entmachtet und ins Exil ins British Raj geschickt.
64
Stattdessen übernahm sein Bruder
Candra Śamśera die Herrschaft im Land. Und obwohl er die progressiven Reformvorhaben seines Bruder als Vorwand für dessen Absetzung und die eigene Machtübernahme ausgenutzt hatte, griff Candra Śamśera einige dieser Vorhaben auf und stieß zahlreiche weitere selbst an. Er begann die Verwaltung und Justiz zu dezentralisieren und systematisieren, delegierte Kompetenzen an neu geschaffenen administrative und justizielle Institutionen, sodass nicht mehr ausnahmslos alle noch so kleinen Entscheidungen vom höchsten Amtsträger der Rāṇā-Administration getroffen werden mussten.
65 Zur Umsetzung dieser Reformen wurde aber ausgebildetes Personal benötigt. Deshalb nutzte Candra Śamśera einige Ideen und Vorarbeiten seines Vorgängers und gründete Bildungseinrichtungen, um die notwendigen Beamten und Richter für die wachsende staatliche Verwaltung und Justiz ausbilden zu können.
66 1902 entsandte er auch die Gruppe von jungen Studenten nach Japan und auch die Zeitung Gorkhāpatra blieb als Amtsblatt erhalten, um die vielen Restrukturierungsmaßnahmen der Bevölkerung kommunizieren zu können.
67 Selbst die mittlerweile sehr große Rāṇā-Familie wurde reorganisiert und in die sogenannten A-, B- und C-Class-Rāṇās aufgeteilt, von denen ausschließlich die A-Class-Rāṇās Anspruch auf die höchsten Ämter des Staates hatten.
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Neben der internen Reform des Gorkhā-Staates, suchte Candra Śamśera sehr gezielt die Kooperation mit der britischen Kolonialregierung. Er selbst hatte Ende des 19. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt imperialer Machtentfaltung des British Empire
, an der Calcutta University studiert und stand aufgrund seiner Vertrautheit den Briten äußerst aufgeschlossen gegenüber. Auf der anderen Seite genoss Candra Śamśera selbst auch das Wohlwollen der britischen Kolonialverwaltung, nicht nur wegen seines Bildungshintergrunds, sondern weil er außerdem einen weniger ausschweifenden Lebensstil pflegte, einen bewunderten Arbeitsethos an den Tag legte und im Gegensatz zu seinen Brüdern abstinent und monogam lebte.
69 In den Worten des britischen Historikers Perceval Landon war Candra Śamśera: “[…] the man whom the British Empire has delighted to honour above all living foreigners.” (Landon 1928, Vol. II: 96). Dahingegen galt beispielsweise sein älter Bruder Deva Śamśera als:
[…] a luxury-loving and lazy man. Immediately after his succession he wasted both time and money in a series of darbars, triumphal processions, and other celebrations. The magnitude of the task entrusted to him was never realized. He spent his time in sport and amusements, and left the government of Nepal without a directing head.
(Perceval Landon, Vol. II: 81)
Candra Śamśera hatte den damaligen
Governor-General und
Viceroy of India Nathaniel Curzon (r. 1899–1905) als höchster Repräsentant der Rāṇā-Administration bereits im April 1901 bei einer Großwildjagd im Tarai kennengelernt und sich angeblich schon zu diesem Zeitpunkt dessen Unterstützung für die geplante Machtübernahme sichern können. 1903 folgte Candra Śamśera der Einladung Curzons zum
Delhi Durbar und der Krönung Edward VII als
Emperor of India.
70 Nachdem die Gorkhālī 1904 den britischen Tibet-Feldzug logistisch unterstützt und zwischen britischen und chinesischen Interessen vermittelt hatten, wurde 1906 auch noch eine Tributmission nach Beijing entsandt.
71 Aber für die Rāṇā-Administration war das Verhältnis zum Qing-Kaiserreich Anfang des 20. Jahrhunderts kaum noch von Bedeutung und stattdessen forcierten sie die Annäherung zum British Empire.
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Deshalb wollte Candra Śamśera, wie schon sein Onkel Jaṅga Bahādura vor ihm, selbst eine Reise nach Europa unternehmen. Im Mai 1908 wurde er schließlich mit seiner Entourage als Staatsgast auf Kosten der britischen Regierung in Großbritannien empfangen.
73 Candra Śamśera hatte ein umfangreiches Reiseprogramm ausarbeiten und über den britischen Residenten an die zuständigen Stellen nach London weiterleiten lassen. Dieses ließ klar erkennen, dass ihm sehr daran gelegen war, das Programm seines Onkels zu wiederholen und sogar zu übertreffen. Nach einem formellen Empfang von Edward VII. zum Auftakt der Reise, besichtigten die Gäste in den darauffolgenden Wochen die Werft in Portsmouth, Fabriken in Edinburgh, den Marinestützpunkt in Dover und verbrachten einen ganzen Tag an Bord des neuesten Schlachtschiffes. Neben zahlreichen Ausflügen zu den Sehenswürdigkeiten Londons und Umgebung, besuchte die Delegation auch Theater und Oper sowie mehrmals die White City der
Franco-British Exhibition. Besonders geschmeichelt fühlte sich Candra Śamśera von der sehr luxuriösen Unterkunft, den königlichen Kutschen und der Einladung Edward VII. ihm in der königlichen Loge bei den Olympischen Spielen sowie bei einem Empfang des Präsidenten der Französischen Republik Gesellschaft zu leisten. Auf Dringen von Nathaniel Curzon, der mittlerweile aus Südasien zurückgekehrt und 1907 zum Kanzler der Oxford University gewählt worden war, wurde Candra Śamśera auch noch ein Ehrendoktortitel der Universität verliehen. Zum Abschluss wurde sogar die Abreise der Gorkhālī kurzfristig verschoben, damit der englische König Candra Śamśera persönlich den Titel als Knight Grand Cross of the Order of the Bath verleihen konnte.
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Die Machtdemonstration und endlosen Schmeicheleien der Briten verfehlten ihre Wirkung nicht und in Folge der Europareise wurde die Kooperation mit der Rāṇā-Administration weiter intensiviert. Im Austausch gegen Luxusgüter aller Art sowie Waffen und Munition durften die Briten immer mehr Rekruten für ihre Gurkha-Regimenter anwerben. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges erreichten die Rekrutierungsmaßnahmen einen bis dahin nie dagewesenen Höhepunkt und die Rāṇā-Administration unterstützte die Bemühungen der britischen Militärs mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Die bisherige Begrenzung von Rekrutierungskontingenten wurden komplett abgeschafft, erstmalig wurden auch Rekrutierungszentren innerhalb des Gorkhā-Staates selbst eingerichtet und trotz umfassender monetärer Anreize für Freiwillige kam es mitunter auch zu Zwangsrekrutierungen. Schätzungsweise konnten so zusätzlich knapp 55.000 Soldaten mobilisiert werden, die für Großbritannien auf den Schlachtfeldern Europas und Asiens kämpften. Insgesamt sollen knapp 200.000 junge Männer aus dem Gorkhā-Staat während des Ersten Weltkriegs in der British Indian Army gedient haben. Davon ließen etwa 20.000 ihr Leben, und viele mehr wurden verwundet oder gerieten in Kriegsgefangenschaft.
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Durch diese Unterstützung erreichte die Annäherung zwischen der Rāṇā-Administration und den Briten in Folge des Ersten Weltkriegs ihren Zenit. Seit 1816 blieb die Beziehung politisch nur vage definiert und die Eliten er Gorkhālī war daher konstant in Sorge um die eigene Souveränität. 1923 wurde mit einem neuen Abkommen endgültig klare Verhältnisse geschaffen und die vollständige Unabhängigkeit sowie die territoriale Integrität des Gorkhā-Staates, der in diesem Dokument erstmals offiziell als Nepal bezeichnet wurde, formell von der britischen Regierung anerkannt. Außerdem wurden Handelsbeschränkungen der Briten für den Import von Kriegswaffen nach Nepal aufgehoben, insofern die Rāṇā-Regierung Nepals wiederum zusicherte, importierte Waffen nicht weiter zu verkaufen. Zuletzt wurde die Regierung Nepals von allen Einfuhrzöllen von importierten Waren von außerhalb des British Rajs befreit.
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Während die Regierung des Gorkhā-Staates unter Candra Śamśera ihren bislang größten außenpolitischen Erfolg verbuchen konnte, gerieten die Śamśera Rāṇās im ersten Quartal des 20. Jahrhunderts innenpolitisch zunehmend unter Druck. Der Sieg Japans über Russland 1905 in der Seeschlacht von Tsushima das Ende des Qing-Kaiserreichs 1911 hatten den
Fin de Siècle des langen 19. Jahrhunderts und das Ende des Zeitalters der Imperien eingeleitet.
77 Durch die Schrecken des Ersten Weltkriegs wurde die postulierte zivilisatorische Überlegenheit Europas und damit auch dessen globale Hegemonialansprüche grundsätzlich infrage gestellt. Im Zuge dieser weltweiten Wandlungsprozesse erhielten nationalistische Unabhängigkeitsbewegungen in den europäischen Kolonialgebieten in Asien und Afrika kontinuierlich mehr Zulauf. Auch im British Raj wurde der Widerstand gegen die britische Kolonialregierung immer radikaler und katalysierte auch die Entstehung einer Widerstandsbewegung gegen die Rāṇā-Administration im Gorkhā-Staat.
Diese Bewegung nahm ihren Anfang mit einer Gruppe von Intellektuellen, deren Eltern Ende des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach Bildungsmöglichkeiten aus dem Gorkhā-Staat in Städte im Norden des British Raj migriert waren. Anfang des 20. Jahrhunderts begann diese Gruppe sich für die Anerkennung ihrer Sprache als Nepālī einzusetzen.
78 Sie veröffentlichten hauptsächlich von Darjeeling und Benares aus Bücher, Zeitungen und Zeitschriften.
79 Im Laufe der Zeit schufen sie auf diese Weise eine Nepālī-sprachige Öffentlichkeit im British Raj und „[…] contributed to the development of a clearly articulated, self-aware, and delimited sense of Nepali social consciousness and community belonging.“ (Chalmers 2003: 2). In den 1920er Jahren begann die stetig wachsende Anzahl von Autoren und Herausgebern auch öffentliche Kritik an der Herrschaft der Śamśera Rāṇās zu üben. Auf Grundlage eines neu definierten Geschichtsverständnisses betrachteten sie die Rāṇās als illegitime Usurpatoren und Autokraten, welche die rechtmäßige Śāha-Monarchie entmachtet hatte.
80
Nach dem Tod Candra Śamśeras 1929 und der Machtübernahme seines jüngeren Bruders
Bhīma Śamśera begann sich auch innerhalb des Landes oppositionelle Kräfte gegen die Herrschaft der Śamśera Rāṇās zu formieren. Diese Entwicklung wurde begünstigt, da sich zur selben Zeit die Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen der Rāṇā-Familie wieder intensivierten, nachdem Bhīma Śamśera seine C-Class-Söhne und -Enkel auf die Sukzessionslisten für die höchsten Ämter des Staates setzen ließ.
81 Nach dessen plötzlichen Tod übernahm 1932 der jüngste der Brüder,
Juddha Śamśera, die Macht im Land und seine Herrschaftszeit war zunächst durch die Folgen eines verheerenden Erdbebens im Jahr 1934 geprägt. Obwohl es die Rāṇā-Administration vermochte, schnell und ohne Inanspruchnahme zusätzlicher Hilfen von außen umfangreiche Wiederaufbaumaßnahmen durchzuführen, erhielten oppositionelle Gruppen immer mehr Zulauf. So formierten sich Ende der 1930er und zu Beginn der 1940er Jahre einige konspirative Gruppierungen in Kathmandu, die versuchten die Bevölkerung gegen die Herrschaft der Śamśera Rāṇās zu mobilisieren und dabei mitunter auch von einigen ehemaligen Verwaltungsbeamten oder Militärs, den exilierten Kũvara Rāṇās, den C-Class-Rāṇās oder dem Monarchen
Tribhuvana Śāha unterstützt wurden.
82 Beispielsweise gelang es den Mitgliedern des
Nepal Praja Parishad („Nepals Volksversammlung“) eine Druckmaschine zur Handzettelvervielfältigung nach Kathmandu zu schmuggeln und damit ihre oppositionellen Botschaften zu verbreiten. Allerdings wurden sie gefasst und die meisten von ihnen 1941 hingerichtet.
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Wie seine älteren Brüder setzte auch Juddha Śamśera seine Hoffnungen für den Machterhalt der Rāṇā-Familie in fortdauernde enge Zusammenarbeit mit den Briten und unterstützte die British Indian Army im Zweiten Weltkrieg mit mehr als 200.000 Soldaten.
84 Nach Ende des Krieges trat er von all seinen Ämtern zurück und verbrachte den Rest seines Lebens zurückgezogen in den Bergen des Himalaya. 1945 übernahm deshalb Bhīma Śamśeras Sohn,
Padma Śamśera das Amt des Premierministers. Er bemühte sich den Forderungen der wachsenden Opposition in mancherlei Hinsicht entgegenzukommen. Diese operierte zu dieser Zeit hauptsächlich in den Städten im Norden des British Raj und bündelte ihre Kräfte mit der Gründung einer gemeinsamen Oppositionspartei im Januar 1947, dem
Nepali National Congress. Nachdem die neue Partei im April 1947 nach dem Vorbild des
Indian National Congress zu einer Kampagne zivilen Ungehorsams aufgerufen hatte und die Rāṇā-Administration von dessen Wirkung überrascht wurde, verkündete Padma Śamśera in einer Rede im Mai 1947 seine Reformbereitschaft. Mit Hilfe von einer Delegation aus dem eben erst unabhängig gewordenen Indien wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und am 26. Januar 1948 unter dem Titel
Nepāl sarkārko vaidhānik kānūn („Legitimes Gesetz der Regierung Nepals“) verkündet.
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Doch kurz vor dem geplanten Inkrafttreten der neuen Verfassung am 14. April 1948 floh Padma Śamśera unter dem Vorwand einer medizinischen Notwendigkeit selbst nach Indien und
Mohana Śamśera, Candra Śamśeras ältester Sohn, übernahm die Macht im Land. Gemeinsam mit seinen Brüdern
Babara Śamśera und
Keśara Śamśera versuchten sie die oppositionellen Kräfte und das sich ankündigende Ende der Herrschaft der Rāṇā-Familie gewaltsam aufzuhalten. Als aber im November 1949 König Tribhuvana Śāha mit seiner Familie nach Indien floh, der Druck seitens des indischen Regierung kontinuierlich zunahm, sich der Nepali National Congress mit der zweiten großen Oppositionspartei, dem
Nepali Democratic Congress im April 1950 zum
Nepali Congress zusammenschlossen und zum gewaltsamen Widerstand gegen die Rāṇās aufrief, war Mohana Śamśera im Januar 1951 schließlich bereit zu verhandeln. Im
Delhi Agreement wurde er zwar für kurze Zeit noch als Premierministers im Amt belassen, aber sämtliche Sonderrechte der Rāṇās wurden annulliert und ein zehnköpfiges Kabinett als neue Regierung eingesetzt, dem viele der Anführer des Nepali Congress angehörten. Es wurde vereinbart eine Wahl für eine verfassungsgebende Versammlung durchzuführen, die innerhalb von zwei Jahren eine demokratische Verfassung ausarbeiten sollte. König Tribhuvana Śāha wurde als staatliches Oberhaupt eingesetzt. Damit endete die Herrschaft der Rāṇās und die Śāha-Monarchie war wieder die zentrale Macht im Staat Nepal.
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Ganzheitlich betrachtet war diese Phase der Staatsbildung im zentralen Himalaya eine Zeit der Konsolidierung. Nach dem Ende der Expansion standen die herrschenden Eliten Gorkhālī vor den Ruinen ihres Gorkhā Rāj und fürchteten die vollständige Annexion durch die in Südasien expandierende EIC. Die seit 1806 herrschende Thāpā-Familie vermochten es zwar noch eine Weile an der Macht zu bleiben, um die Grundlage für den Übergang von der expandierenden zur konsolidierende Phase der Staatsbildung zu legen. Aber nach dem Tod Bhīmasenas eskalierten die Machtkämpfe zwischen den bhāradāra-Familien. Schließlich konnte sich Vīra Narasiṃha Kũvara gegen die anderen Familien durchsetzen und als Jaṅga Bahādura die Herrschaft der Rāṇā-Dynastie etablieren. Die Śāha-Monarchie spielte infolge dieser Ereignisse nur noch eine zeremonielle Rolle im Gorkhā-Staat. Die neuen Herrschenden waren nicht mehr mit den Legitimationsdefiziten konfrontiert, die aus der territorialen Expansion erwachsen waren. Das unwegsame Gelände der Gebirgsregion begünstigte eine autarke Lebensweise der Menschen außerhalb des Kathmandu-Tals und erschwerte die Herrschaftsausübung in diesen Regionen. Daher beschränkte sich die Administration des Gorkhā-Staates weitestgehend auf rudimentäre militärische, fiskalische und justizielle Aufgaben. Ansonsten wurde grundsätzlich eine Politik der sozialen und kulturellen Nichteinmischung verfolgt.
Daraus resultierten im Verlauf des 19. Jahrhunderts einigermaßen stabile Verhältnisse und es gab kaum Widerstand seitens der Bauernschaft gegen die Herrschaft der Rāṇās. In einem Brief vom 24. Mai 1845 berichtete beispielsweise der britische Resident Henry Lawrence dem Governor General Lord Auckland etwas überschwänglich, die Gorkhālī seien:
[…] the best masters I have seen in India. Neither in the Tarai, nor in the hills, have I witnessed or heard of a single act of oppression since I arrived here a year and a half ago; and a happier peasantry I have nowhere seen.
(Henry Lawrence 1845, zitiert in Whelpton 1991: 139)
Da die britischen Kolonialbeamten sich lediglich im Kathmandu-Tal aufhalten konnten, lässt diese Bewertung keine Rückschlüsse auf die Situation im Rest des Landes zu. Allerdings sind bislang noch keine anderen historischen Quellen erschlossen worden, die grundsätzlich Gegenteiliges belegen. Und wenn es doch zu Konflikten mit der staatlichen Verwaltung kam, entschieden sich die Menschen in den Dörfern meist zur Emigration.
87 Bisher ist der Aufstand von 1876 im Distrikt Gorkhā der einzig dokumentierte Fall von gewaltsamen Widerstand „von unten“ im Verlauf des 19. Jahrhunderts.
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Die größte Bedrohung für die Rāṇā-Herrschaft stellten zu dieser Zeit hauptsächlich die konkurrierenden Fraktionen der Eliten dar. Die entmachteten bhāradāra-Familien und die Śāha-Dynastie nahmen Jaṅga Bahādura als illegitimen Usurpator wahr. Regelmäßig gab es deshalb Intrigen, Verschwörungen und Attentatsversuche. Nach und nach verloren die rivalisierenden bhāradāra machtpolitisch jedoch immer mehr Bedeutung und nach Jaṅga Bahāduras Tod entbrannten stattdessen die Sukzessionskonflikte innerhalb der Rāṇā-Familie.
89 In Folge ihres Coup d’État waren die Śamśera Rāṇās schließlich gezwungen ihren Herrschaftsanspruch innerhalb der Rāṇā-Familie, gegenüber der eigenen Bevölkerung und insbesondere auch der britischen Kolonialverwaltung zu legitimieren. Diese erkannte die Unabhängigkeit der Gorkhālī noch bis in die 1920er Jahre nicht an und vertrat die Auffassung, der Gorkhā-Staat sei Teil des British Raj. Lord Curzon beschrieb die Situation in geheimer internen Kommunikation mit anderen Kolonialbeamten am 10. Dezember 1902 folgendermaßen:
The position of Nepal is anomalous and peculiar. But I hold most unquestionably that the State is under the suzerainty (admitting an elastic rather than a too stringent definition of the term) of the British Crown. […] though I doubt not that if it were academically raised with the Nepalese Darbar, they would energetically contest it.
Unter Candra Śamśera gelingt es den herrschenden Eliten noch den externen Legitimationsdefiziten zu begegnen und die offizielle Anerkennung der Souveränität des Staates Nepal auszuhandeln. In einem internen Schreiben des
Chief Secretary to the Government of Bihar und Orissa vom 24. Juni 1925 weist dieser den Empfänger J.D. Sifton auf diesen Umstand hin und bittet deshalb um die zukünftige Vermeidung der Bezeichnung „Nepal Darbar“ in der offiziellen Korrespondenz der britischen Kolonialverwaltung:
Please refer to your letter […] in which the Government of Nepal is referred to as the “Nepal Darbar”. As Nepal is now an independent State outside India, I am to request that the use of the word “Darbar” in official correspondence may be avoided.
(Chief Secretary to the Government of Bihar und Orissa am 24. Juni 1925)
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In den folgenden Jahrzehnten wird die Legitimität der Śamśera Rāṇās aber immer häufiger von oppositionellen Aktivisten und der eigenen Bevölkerung hinterfragt, bis 1950 schließlich ihre Herrschaft und mit ihr auch das überlange 19. Jahrhundert endete.