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2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

14. Kommunikationsmacht und kommunikativer Tod

verfasst von : Jo Reichertz

Erschienen in: Kommunikationsmacht

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

„Hilfe, Hilfe. Ich brauche Hilfe. Ich bin hier alleine. Hilfe, Hilfe.“ Die Stimme der Frau, die das laut ruft, ist markant und klar. Die Stimme kommt vom draußen durch das geöffnete Fenster des Raumes an einer süddeutschen Universität, in dem ich mit sechs Universitätskolleg_innen sitze. Wir diskutieren seit zwei Stunden über den Verlust von Kommunikationsmacht bei Menschen mit Demenz. Alle sind Sozialwissenschaftler_innen.

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Fußnoten
1
Cry wolf = Wenn jemand, der keine Hilfe braucht, (zu oft) um Hilfe schreit, wird er keine Hilfe mehr finden, wenn er wirklich Hilfe braucht.
 
2
Früher ist diese Fähigkeit, kompetent kommunikativ zu handeln, gerne als kommunikative Kompetenz bezeichnet worden. Der Begriff war vor allem in den 1970er und 1980er Jahren en vogue. Wissenschaftler, die damals schon Kommunikation nicht auf ‚Sprechen‘ reduzieren wollten, haben darauf hingewiesen, dass ‚Kommunikation‘ mehr und auch anderes ist, als zu einem anderen Menschen zu sprechen (Hymes 1973) und dass man analog zu dem Ansatz der Ethnologen sich um eine Ethnographie des Sprechens bemühen müsse (z. B. Hymes 1979), die dann auch die besondere Fähigkeit, kommunizieren zu können zu rekonstruieren habe. Ins Spiel gebracht wurde der Begriff kommunikative Kompetenz im Jahr 1967 von Dell Hymes (Hymes 1973) – gerade um ihn deutlich von der linguistischen Kompetenz abzugrenzen.
Dennoch haben insbesondere in den 1970er Jahren viele Sozialwissenschaftler, Pädagogen, Didaktiker und Philosophen – und hier folgten sie vor allem der Sicht von Jürgen Habermas, der die kommunikative Kompetenz vor allem auf die Fähigkeit engführte, Sätze angemessen in Situationen zu verwenden (Habermas 1972), also vor allem auf die Sprechleistungen beschränkte. Es herrschte große Einigkeit nicht nur darüber, dass die kommunikative Kompetenz eine Schlüsselkompetenz für Mitglieder moderner Gesellschaften darstellt (weshalb sie auch bald in allen Lehrplänen für den Deutschunterricht und später in jedem Managementtraining auftauchte), sondern auch darüber, dass die kommunikative Kompetenz erheblich komplexer gedacht werden müsse als die linguistische Kompetenz, aber dass sie dennoch mit dem Kompetenz-Performanz-Modell hinreichend gut beschrieben sei.
 
3
Im Unterschied zu Brandom resultiert der Punktestand des Kontos bei der Kommunikationsmacht nicht aus dem Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen, sondern aus Identität. Wer sich mit seinen Aussagen nicht verpflichtet, dem wird zugeschrieben, dass seine Aussagen nicht viel oder nichts bedeuten, was zur Folge hat, dass die Anerkennung der Identität leidet. Mir geht es also nicht um die Sprechakte des Begründens und Verpflichtens, sondern um die aus diesen Sprechakten resultierende Einschätzung der Identität. Es geht nicht um Logik, sondern um Verlässlichkeit, um Einsetzbarkeit und um Koorientierung. Wessen Äußerungen nichts bedeuten, dessen Handlungen bedeuten nichts.
 
4
Siehe zum sozialen Tod auch: Sweeting/Gilhooly 1997, Feldmann 2012 und Gilleard/Higgs 2015.
 
5
In ihrer Feldstudie von 1965, in der Barney Glaser und Anselm Strauss Ärzte und Schwestern in sechs Krankenhäusern bei der Arbeit beobachteten, interessierte sie vor allem, „ob Menschen eher sozial als biologisch sterben können und was das für zwischenmenschliche Beziehungen bedeutet“ (Glaser/Strauss 1974: 9). Demnach ändern Schwestern ihr Verhalten gegenüber Patienten, wenn sie zu wissen glauben, dass der Fall aussichtslos ist. Dann können die Schwestern jedoch „deutlich zeigen, dass sie eine Begegnung zu vermeiden wünschen, d. h. dass sie zwar ihre Pflichten erfüllen wollen, aber keinen persönlichen Kontakt aufnehmen wollen. So werden sie ignorieren, ihn wie einen Gegenstand (d. h. als sozial Toten) behandeln, professionelle Geschäftigkeit entwickeln und jedes Gespräch ablehnen oder ihm ausweichen, indem sie versuchen, ihre Aufgaben schnell zu erledigen und wieder gehen, ehe noch der Patient etwas sagen kann“ (Glaser/Strauss 1974). Unabhängig davon, ob diese Folgerung zutreffend ist oder ob sie nur für amerikanische Krankenhäuser in den 1960-er Jahren gilt, und unabhängig davon, ob die Entwicklung der Palliativmedizin diese Praxis beendet hat, weisen die Ergebnisse von Glaser und Strauss jedoch auf das Phänomen hin, dass man in bestimmten Situationen Menschen als ‚sozial tot‘ behandeln kann. Wenn ich hier den Begriff des kommunikativen Tods benutze, meine ich etwas sehr Ähnliches: der andere ist zwar noch anwesend und sein Körper handelt und zwingt zur Handlungskoordination, aber alle seine kommunikativen Bemühungen werden nicht mehr als solche erkannt oder aber wissentlich missachtet.
 
6
Die Diskussion über den ‚kommunikativen Tod‘ dreht sich in einem anderen Diskurs um die Frage, inwieweit Menschen mit Demenz, insbesondere wenn der Prozess schon länger andauert, überhaupt noch Personen sind oder ob Schritt für Schritt das Person-Sein (genauer: die Zuschreibung vom Person-Sein) graduell abnimmt (Lindemann 2002, siehe auch Schockenhoff/Wetzstein 2013) – parallel zu den Stadien der Krankheit. Auf der Interaktionsebene hat Christian Meyer die verschiedenen Formen der Kommunikation ausdifferenziert, die mit der Unterstellung des Weniger-Person-Seins einhergehen (Meyer 2014).
 
Metadaten
Titel
Kommunikationsmacht und kommunikativer Tod
verfasst von
Jo Reichertz
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-31635-8_14