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2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

Spekulative Kommunikation und ihre Stigmatisierung

verfasst von : Oliver E. Kuhn

Erschienen in: Konspiration

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

In der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Diskussion sind Verschwörungstheorien inzwischen ein vielbeachteter Gegenstand. Seit den klassischen Texten von Popper (2003, S. 111 f.) und Hofstadter (1964) sind kontinuierlich einschlägige Untersuchungen erschienen. Nach der Haltung zu ihrem Gegenstand lassen sich zwei Richtungen der Beschreibung von Verschwörungstheorien unterscheiden: Die klassische These versucht, Verschwörungstheorien als eine Form illegitimen, Wahrheit nur anmaßenden Wissens zu präsentieren.

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Fußnoten
1
Diese Beschreibungen „falschen“ Wissens rechnen seine Defizienz auf die Eigenschaften seiner Anhänger zu (für welche es sich natürlich um „wahres“ Wissen handelt).
 
2
Diese Gruppe betont daher historische Beispiele, in denen sich vormals spekulative Theorien über Verschwörung und Dissimulation im Allgemeinen haben beweisen lassen, derartige Theorien mithin als nützliche Erkenntnismittel fungierten („Watergate“, Massenvernichtungswaffen im Irak als Kriegsgrund, Folter von Terrorverdächtigen im Ausland usw.).
 
3
Oder sich zumindest als richtig erwiesen hätten, hätte man ihnen rechtzeitig genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht und sie nicht als „Verschwörungstheorien“ ridikülisiert.
 
4
Für den Fall, dass die Presse eine durch ein geheimes Gruppenhandeln aufgebaute Täuschungskulisse unhinterfragt übernahm, solange nicht anderslautende Daten einen Anlass für Skepsis gaben, gibt es zahlreiche Beispiele. Selbst die (historische) Wissenschaft bedarf oft neuer Daten, z. B. durch die Aufhebung von Archiv-Sperrfristen, um die historische Interpretation von Ereignissen in Richtung der Annahme von Geheimhandeln (wahre Verschwörung) zu revidieren (z. B. „Tonkin-Zwischenfall“).
 
5
Pipes bezeichnet zudem provokativ einige Aussagen als Beispiele für (falsche) Verschwörungstheorien, welche sich nach Meinung vieler Beobachter belegen lassen, etwa die Aussage, die USA verfolgten eine Strategie globaler Hegemonie. Zudem propagiert Pipes die Verschwörungstheorie, Barack Obama sei ein ehemaliger Moslem und verschweige dies (Pipes 2008).
 
6
Übrigens krankt Clarkes Argumentation an dem logischen Widerspruch, gleichzeitig die Unwahrheit (Attributionsfehler) und Unwiderlegbarkeit (degeneriertes Forschungsprogramm) von Verschwörungstheorien zu behaupten.
 
7
Keeley sieht, im Gegensatz zu anderen Permissivisten, im „nihilistischen“ Skeptizismus (Keeley 1999, S. 125) eine plausible Begründung für die Ablehnung des Verschwörungsdenkens, obwohl sich produktive von unproduktiven Thesen durch kein Apriori-Kriterium voneinander unterscheiden lassen.
 
8
Auf die Poppersche Kritik der Kategorie „Verifikation“ (vgl. Popper 1963, S. 33 ff.) können wir aus Platzgründen hier nicht eingehen. In der empirischen alltagstheoretischen Diskussion wird die Kategorie jedenfalls intensiv und ohne methodischen Zweifel genutzt.
 
9
Nimmt man eine Perspektive von den politischen Zentren aus ein, wirkt es zunächst, als sei nur die Macht selbst entscheidend für die Definition von „Orthodoxie“. Dagegen ist einzuwenden, dass die von dort aus „heterodoxen“ Positionen sich selbst natürlich Orthodoxie unterstellen.
 
10
Beispielsweise war der Streit über die Wahrheit der Watergate-Verschwörung ökonomisch nicht besonders bedeutsam, für die Wissenschaft höchstens von randständiger Bedeutung (Alexander 1988), analog für die Sphäre der Familie usw. Die Bedeutung dieses Wissens lag zunächst im politischen, ferner im rechtlichen Bereich, wobei die rechtliche Bedeutung des Einbruchs weit weniger brisant war als die politische.
 
11
Diese Beispiele werden hier in ihren Ausmaßen nicht gleichgesetzt. Identifiziert wird nur die strukturelle Gemeinsamkeit des Verschwörungsvorwurfs. Es ist historisch nicht unumstritten geklärt, inwieweit diese Verschwörungstheorien „geglaubt“ oder strategisch eingesetzt wurden (eine weitere Unterscheidung, hinsichtlich derer die relativistische Definition indifferent ist).
 
12
Es besteht natürlich die Möglichkeit, eine Verschwörung ohne vorherige Vermutungen (Spekulation) „auf frischer Tat“ zu entdecken, beispielsweise durch den Verrat eines Insiders. Bei Berichten darüber handelt es sich freilich um verifizierte Aussagen über Verschwörung, nicht um Verschwörungstheorie.
 
13
Es gibt unterschiedliche Verschwörungen. Manche sollen dem Sinn des Verschwörungshandelns nach für immer unentdeckt bleiben (die mutmaßliche Vortäuschung von 9/11 beispielsweise), andere werden durch die Verschwörer selbst aufgedeckt, um ihre Wirkung zu entfalten (Al Qaida bekannte sich), (Beispiel bei Coady 2012, S. 118).
 
14
Das gilt etwas abgeschwächt für sehr vorsichtige Spekulationen, welche die Möglichkeit ihrer Falsifikation mitbedenken. Dennoch ruft schon die Unterstellung möglicher Verschwörung bei politisch relevanten Themen drastische Abwehr hervor (z. B. eine „vorsichtige“ Spekulation, die Massenvernichtung der Juden in den Konzentrationslagern sei von jüdischen Interessengruppen nur vorgetäuscht worden).
 
15
Bei dieser (relativistischen) Argumentation muss die einfache Tatsache präsent bleiben, dass sich auch die Experten der Orthodoxie in ihrer Einschätzung der Falschheit oder Spekulativität von Verschwörungstheorien irren können. Immerhin finden sich auch auf „verschwörungstheoretischer“ Seite Experten. Dass ich für die Darstellung vom Urteil der Orthodoxie ausgehe, es handle sich um falsche oder spekulative Thesen, präjudiziert nicht eine mögliche Revision dieses Urteils.
 
16
Wenn sich Aussagen über Verschwörung im Mainstream durchgesetzt haben, werden sie von dort nicht als Verschwörungstheorien angesehen. Wenn es dann noch Widerspruch gibt, muss es die Peripherie übernehmen, die Behauptungen der gesellschaftlichen Einflusszentren (Massenmedien, politische Zentren) über Verschwörungen als unwahr zu kritisieren.
 
17
Dieser Begriff wird hier rein beobachterrelativ genutzt: Die These deutet Daten, welche in externer Perspektive die Aussage widerlegen mögen, anders als ihre Kritiker, nämlich als Effekt der Verschwörung selbst, also intern völlig konsistent. Zugleich bieten sie, wollen sie nicht „rein spekulativ“ und damit beliebig bleiben, auch plausibilisierende Anzeichen, die widerlegbar sind. In der Popperschen Methodologie wird „Immunisierung“ dagegen nicht ausreichend auf Beobachterpositionen relativiert, sondern so gehandhabt, als wäre die Eigenschaft von Aussagen, eine Theorie falsifizieren zu können, ihrerseits theorieunabhängig. Dies ist m. E. ein inakzeptabler versteckter Dogmatismus des kritischen Rationalismus. Konsequent durchgeführt dürfte der Falsifikationismus nicht kritisieren, dass Theorien die Kriterien ihrer Widerlegung intern festlegen, seine Kritik sollte sich auf die Weigerung der Festlegung von Widerlegungskriterien beschränken (Nachweis von Beliebigkeit).
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Spekulative Kommunikation und ihre Stigmatisierung
verfasst von
Oliver E. Kuhn
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43429-8_21