Die digitale Transformation führt in der Regel zu einer hohen Qualität der Logistik, der Lieferfähigkeit, der Kundenzufriedenheit und der Gesamtleistung des Unternehmens (vgl. Grosse
2023, S. 8; Winkelhaus und Grosse
2020, S. 26). Im E‑Commerce hat die effiziente Abwicklung von Retouren mittlerweile eine zentrale Rolle eingenommen, da eine Vielzahl an Personen bestellte Ware retournieren und der Retourenprozess somit einen ähnlichen Einfluss auf die Kundenzufriedenheit besitzt, wie der Kauf selbst (vgl. Bold
2021). Im Zuge des Wachstums der einhergehenden Rücksendungen stehen Versandhändler vor der Herausforderung, Vorhersagemodelle für Retouren und Retourenanzahlen zu entwickeln, die historische Kunden‑, Bestell- und Rechnungsdaten nutzen (vgl. Liang et al.
2014). Die Resultate können verwendet werden, um den Bearbeitungsprozess der Retouren zu verbessern oder um geeignete Maßnahmen und Strategien zu entwickeln, um Retouren zu vermeiden (vgl. Trippner
2021). In der wissenschaftlichen Literatur wird im Bereich des Retourenmanagements häufig auch das Management von Beständen oder die Beschaffungs- und Produktionsplanung in den Fokus gerügt. Beispielsweise werden in Toktay et al. (
2004) die Vorhersagen von Rücksendungen für operative Entscheidungen in der Bestandskontrolle verwendet. Auf diese Weise kann eine genauere Planung und Steuerung der Lagerbestände durchgeführt werden, um eine optimale Bestandsführung zu gewährleisten. In Krapp et al. (
2013) wird bspw. für das Lagerbestandsmanagement ein generischer Ansatz für die Prognose von Produktretouren in geschlossenen Lieferketten bereitgestellt. In Clottey et al. (
2012) werden die Vorhersagen als Grundlage für Beschaffungsentscheidungen genutzt und dann auf Basis der Beschaffungen die Produktionsplanung optimiert. Das in Zhou et al. (
2016) beschriebene Modell zielt darauf ab, die Menge, Zeit und Wahrscheinlichkeit von Produktretouren zu prognostizieren und darauf aufbauend die wiederverwendbaren Teile, Komponenten und Materialien sowie die erforderlichen Entsorgungsaktivitäten im Zusammenhang mit den Retouren zu identifizieren. Zudem wird in der Arbeit von Wang et al. (
2021) untersucht, inwieweit sich die Prozesse des Reverse Logistik und der Retourenbearbeitung outsourcen lassen. Um Retouren vorherzusagen, kommen mathematisch-statistische Methoden, (Meta‑)heuristiken oder Methoden der KI zum Einsatz (vgl. Yang et al.
2022; Zhu et al.
2018). In Cui et al. (
2020) werden Anzahlen von Produktretouren auf Einzelhändler‑, Produkttyp- und Zeitebene vorhergesagt. Durch die Nutzung eines umfangreichen Datensatzes, der detaillierte Informationen für jeden Einzelhändler und jede Produktgruppe enthält, können robuste datengetriebene Modelle entwickelt und getestet werden. Der Umgang mit großen Datenmengen auf Produktebene ist eine Herausforderung und ebenfalls für die vorliegende Arbeit relevant. Vorhersagemodelle im E‑Commerce werden nicht nur für die Retouren entwickelt, sondern auch z. B. für die Nachfrageprognose auf Artikelebene. Dai et al. (
2022) verwenden dabei einen zwei-stufigen Random-Forest-Ansatz, um Features für die Vorhersage auf Artikelebene zu ermitteln. Die Betrachtung der Artikelebene ist auch bei der Klassifikation in dieser Arbeit von Bedeutung.
Im Rahmen der Literaturrecherche ist aufgefallen, dass die Bearbeitung der Retourenpakete anhand von Retourenscheinen nicht explizit thematisiert wird. Laut Girschner (
2022) gilt allerdings der im Paket beigelegte Retourenschein als State-of-the-Art-Lösung für viele mittelständische Onlinehändler. Um die negativen Auswirkungen von Retouren auf Geld, Zeit und Kundenbindung zu minimieren, könnte bspw. auch die Implementierung eines umfassenden Retourenportals vorgesehen werden (vgl. Ager
2021). Angesichts der begrenzten finanziellen Ressourcen mit denen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) konfrontiert sind, ist ein Retourenportal häufig keine Option. Auch der Einsatz komplexer und weniger transparenter Methoden, wie z. B. fortschrittliche KI-Algorithmen, ist für KMU ohne eine Data Analytics-Abteilung nicht praktikabel. Stattdessen können einfache statistische und regelbasierte Modelle verwendet werden, die im Bereich der Retourenprozesse Handlungsempfehlungen aufzeigen und leicht interpretierbare Ergebnisse liefern (vgl. Asdecker und Karl
2018, S. 45). Zudem ist zu sagen, dass der betrachtete Kooperationspartner ein selbst-entwickeltes ERP-System besitzt. Ein Retourenportal müsste daher auch selbst implementiert werden. Aus finanziellen Gründen werden somit weiterhin Retourenscheine im Paket vorgesehen, sodass sowohl der erste Prototyp aus Stevenson und Rieck (
2022) und auch das neue Software-System mit dieser Vorgabe umgehen muss. Demzufolge sind vor dem Öffnen eines Retourenpaketes die rückgelieferten Artikel nicht bekannt. Digital vorhanden sind nur die bestellten Artikel der Kund:innen in den Bestelldaten des ERP-Systems. Durch die Verwendung der Bestellhistorie zu den Retourendaten ist eine Vorhersage der retournierten Artikelanzahl dennoch möglich, indem die eingetroffenen Pakete durch die Lagermitarbeitenden gescannt und die Daten im Software-System ausgewertet werden.