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19.03.2024 | Gesundheitsprävention | Interview | Online-Artikel

"Boreout fliegt sehr weit unter dem Radar von Unternehmen"

verfasst von: Annette Speck

8 Min. Lesedauer

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Michael Kiel war 30 Jahre lang Investmentbanker. Nach einem Boreout sattelte er um und berät heute als Coach Betroffene. Im Interview berichtet er über die tückische Ähnlichkeit von Burnout und Boreout. 

Springer Professional: Sie haben den Beruf gewechselt, weil Sie sich unterfordert und gelangweilt fühlten. Welche Auswirkungen hatte diese unbefriedigende Arbeit auf Sie persönlich und beruflich?

Michael Kiel: Zunächst einmal war ich in einem Zustand der kompletten Orientierungslosigkeit. Beruflich und privat ging es schon länger nicht weiter voran. Das Gefühl der Orientierungslosigkeit kam aber nicht schleichend. Es kam plötzlich und überraschend.

Am Anfang stand die Krankheit, eine chronische Magen-Darmentzündung, zurückzuführen auf zu viel Stress. Als man mich wieder arbeitsfähig geschrieben hatte, war im Job vieles anders. Immer häufiger bohrte die Frage nach dem Sinn in der Arbeit und den nächsten Schritten. Ich war gerade mal 50 Jahre. Für mich viel zu jung, um zu sagen, das Karrierehoch ist erreicht und die nächsten 15 Jahre warte ich auf die Verrentung. Ich hatte noch Ziele, Wünsche, Visionen.

Da der Arbeitgeber das Engagement von Mitarbeitern in diesem Alter nicht teilte und kein Karriereschritt mehr in Aussicht stand, nistete sich ein Gefühl der Unterforderung und Langeweile in meinen täglichen Arbeitsablauf ein. Stetig stieg mein Desinteresse an dem Job, dem Unternehmen, den Kollegen. Im Nachhinein betrachtet, war es ein Gefühl von: Hoffentlich merken die Anderen nicht, dass ich nicht mehr ausgelastet bin. Bloß nicht auffallen in einem Arbeitsumfeld, in dem man nur nach höher, schneller, weiter bewertet wird.

Quantitativ gesehen, hatte ich genug Arbeit. Auch die Zahlen stimmten. Ich übertraf die Ziele seit Jahren deutlich. Aber ich hatte den Wunsch, mehr zu leisten und vor allem die Fähigkeit, es auch über meine derzeitige Aufgabe hinaus zu können. Wenn man mich ließe. Da ich jedoch aus meiner Unzufriedenheit keinen Hehl machte, entschied sich mein Vorgesetzter, jemand anderen an meinen Posten zu setzen. 

Wie lange brauchte es, bis Sie den Boreout erkannten und sich entschieden, etwas zu verändern? Gab es einen Auslöser für den Ausstieg?

Im Sommer 2016 war ich aufgrund der chronischen Entzündung körperlich am Ende, was mich über vier Wochen aus dem Verkehr zog. Das war letztendlich der Zeitraum, in dem die Weichen seitens des Unternehmens anders gestellt wurden. Meine Vorgesetzten haben eine bewusste Belastungssituation für mich geschaffen, der ich nicht entkommen konnte. Ein solches Straining ist eine besondere Art des Mobbings. Die ungute Situation gepaart mit qualitativer Unterforderung spitzte sich zu, sodass es Anfang 2017 zu einem Aufhebungsvertrag kam.

Die endgültige Klarheit, was die Orientierungslosigkeit ausgelöst hatte, kam erst Jahre später. Zwischenzeitlich war immer wieder Burnout diagnostiziert worden. Die Symptome stimmten zwar, aber es fühlte sich im Ganzen nicht stimmig an. 

Einige Jahre später, ich war bereits selbständig, erlebte ich ein ähnliches Gefühl. Viel Arbeit gepaart mit der Sinn-Frage: Willst Du diesen Job die verbleibenden zehn Jahre wirklich machen? Das war der Anlass für mich, nachzuforschen. Das erste Ergebnis war: Burnout ist es nicht. 

Zufällig stieß ich auf einen Artikel, der genau meine Symptome beschrieb. Doch Unterforderung, Langeweile und Desinteresse wies ich zunächst von mir. Bis ich deren engen Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn der Arbeit erkannte und mir klar wurde: Ich hatte und habe wieder einen Boreout. 

Was für eine Erkenntnis! Vor allem, weil das Thema absolut nicht präsent ist. Schätzungsweise sind 6 bis 6,5 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Das ist alarmierend, weil viele Betroffene gar nicht wissen, was wirklich mit ihnen los ist. Und schockierend, weil Arbeitgeber und Politik sich kaum um das Thema kümmern. 

Kann Boreout jeden treffen? Oder hängt es zum Beispiel mit bestimmten Tätigkeiten, Umständen oder Persönlichkeitsmerkmalen zusammen?

Boreout, wie auch Burnout, kann jeden treffen. Wichtig ist, dass beide Phänomene in erster Linie ein Führungsthema sind. Vor allem die Unternehmenskultur, Führungsstile und Kommunikationsqualität sind dafür verantwortlich, ob Mitarbeiter in das eine wie das andere Extrem fallen. Das heißt nicht, dass jeder Mitarbeiter, der viel zu tun hat, automatisch einen Burnout bekommt oder ein anderer Mitarbeiter, der wenig zu tun hat, einen Boreout erleidet. Auch das gesellschaftliche Umfeld, die Risikobereitschaft von Mitarbeitern oder die Frage, wie weit Menschen bereit sind, mitzugehen oder ob sie aussteigen, spielen eine Rolle.

Zweifellos fällt der Unternehmenswechsel mit 50 Jahren in der Regel schwerer als in jungen Jahren. Gleichzeitig erhält die Frage nach dem Sinn der Arbeit großes Gewicht: Welchen Sinn sehe ich jetzt eigentlich noch in dem, was ich tue und für wen tue ich es?

Vermutlich ist Boreout bei Verwaltungstätigkeiten verbreiteter als in handwerklichen Berufen. Genaue Studien zu dem Thema gibt es allerdings noch nicht, weil Boreout sehr weit unter dem Radar von Unternehmen, Politik, Gewerkschaften, Krankenkassen und anderen Institutionen fliegt. Selbst die WHO beachtet Boreout nicht, obwohl die Symptome des Boreouts weitgehend identisch sind mit denen des Burnouts - was die Frage aufwirft, warum nur der Burnout 2022 in die ICD-11-Liste zur internationalen Klassifikation der Krankheiten aufgenommen wurde. 

Hier ist sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten, um Boreout aus der Tabuzone zu holen, bekannt zu machen und offen darüber zu kommunizieren - ohne anzuklagen. 

Woran können Arbeitgeber erkennen, ob Mitarbeitende unter Boreout leiden?

Das ist eine sehr gute Frage, denn Mitarbeiter, die unter Boreout leiden, verfolgen fast immer - bewusst oder unbewusst - eine Strategie des Tarnens und Täuschens. Das geht im Extremfall so weit, dass der unterforderte Mitarbeiter einen Burnout vortäuscht, nur aus Angst und Schamgefühl, damit ihm nicht vorgeworfen wird, er sei ein Faulenzer oder Arbeitsverweigerer. 

Daraus erklärt sich auch, dass Menschen, die unter Boreout leiden, oft morgens die ersten auf der Arbeit sind und abends die letzten, die gehen. Man stelle sich den permanenten Stress vor, den die Angst vor Ertappung bedeutet. Ein Stress, der Menschen auf Dauer krank macht.

Die wenigen Ratgeber zum Thema Boreout empfehlen Betroffenen als erste Maßnahme: Sprechen Sie mit Ihrem Vorgesetzten. Mein dringender Appell: Tun Sie das nicht. Die meisten Vorgesetzten sind mit dem Thema komplett überfordert. Viele sehen den unter Boreout leidenden Menschen zuvorderst als unproduktiven Kostenfaktor. Was meistens absolut nicht zutrifft. Manche Führungskräfte fühlen sich auch persönlich angegriffen durch den impliziten Vorwurf, das Potenzial ihrer Mitarbeiter nicht zu erkennen, wenig empathisch zu sein und die Arbeit ihrer Untergebenen nicht wertzuschätzen. 

Die wenigsten Vorgesetzten werden das Angebot erkennen, das ihnen Boreout-Betroffene machen: mehr Verantwortung zu übernehmen, kreativ zu sein, mehr leisten zu wollen. Und die wenigsten Chefs werden sagen: Danke für deine Ehrlichkeit, wir werden das Richtige für Dich finden. 

Dabei würde gerade letzteres wirklich weiterhelfen. 

Welche Maßnahmen können Unternehmen ergreifen, um Boreout vorzubeugen beziehungsweise Angestellten in einer Boreout-Situation zu helfen?

Meine erste Empfehlung lautet: Schlau machen. Habe ich als Unternehmer oder Führungskraft alle Informationen über das Thema oder brauche ich gegebenenfalls Beratung dazu. Nur wer informiert ist, kann richtige Entscheidung treffen. 

Als nächstes muss möglichst exakt evaluiert werden, wie verbreitet Boreout im Unternehmen ist. Das kann beispielsweise durch eine Art Checkliste erfolgen oder je nach Unternehmensgröße auch in direkten Gesprächen. Für letzteres empfehle ich, einen anonymen, geschützten Raum zu etablieren – bestenfalls außerhalb des Betriebs. Ein erfahrener Coach übernimmt dort die Gespräche und ist sehr schnell in der Lage, das Ausmaß zu verifizieren. Die Ergebnisse der Checklisten / Befragungen werden anonymisiert zusammengefasst und der Geschäftsleitung präsentiert. 

Im Anschluss geht es um die umfassende Aufklärung des gesamten Führungsteams. Dabei muss klar gemacht werden, dass Führungskräfte, die auf individuelle Weise das Problem zu lösen versuchen, mit Konsequenzen rechnen müssen. Denn die Arbeit an Boreout hat vor allem mit Verantwortung und Vertrauen zu tun. 

Was können Beschäftigte selbst tun, um sich vor Boreout zu schützen?

Leider wissen die meisten Betroffenen gar nicht, dass sie einen Boreout haben. In meinen Beratungsgesprächen zeigt sich immer wieder, dass Menschen erst viel später erkennen, was mit ihnen los war oder ist. Sie handeln irgendwann intuitiv oder werden durch die Umstände zum Handeln gezwungen wurden.

Ich arbeite mit einem Werkzeug, das aus der japanischen Philosophie kommt. Es nennt sich IKIGAI und ist die japanische Formel für ein erfülltes Leben. Sie bezieht sich dort keineswegs allein auf die Arbeitswelt, wenngleich dies in der westlichen Welt häufig so interpretiert wurde. Die vier Kernfragen des IKIGAIS sind: 

  1. Worin bist Du gut?
  2. Wofür wirst Du bezahlt?
  3. Was braucht die Welt?
  4. Was liebst Du? 

An den Schnittstellen 

  • 1 zu 2 ergibt sich die Profession 
  • 2 zu 3 ergibt sich die Berufung 
  • 3 zu 4 ergibt sich die Mission und 
  • 4 zu 1 ergibt sich die Passion 

Wenn alle vier Kernaussagen zusammentreffen, bildet sich das IKIGAI und nur wenn alle vier Punkte voll erfüllt sind, zeigt sich, wo der Sinn des eigenen Lebens oder der Arbeit liegen kann. Und erst, wenn der ursprüngliche Sinn des Lebens und der Arbeit wiederentdeckt ist, kann der nächste Schritt folgen. 

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