Skip to main content

2023 | Buch

Transformative Geographische Bildung

Schlüsselprobleme, Theoriezugänge, Forschungsweisen, Vermittlungspraktiken

herausgegeben von: Eva Nöthen, Verena Schreiber

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

insite
SUCHEN

Über dieses Buch

In einer krisenhaften Zeit, in der globale Herausforderungen wie Klimawandel, Pandemien oder Migrationsbewegungen dazu verpflichten, unser Zusammenleben und unseren Umgang mit der Umwelt zu überdenken sowie eine Transformation aller Lebensbereiche auf den Weg zu bringen, ist eine emanzipatorische Bildung wichtiger denn je. Aus dem Bewusstsein um die Bedeutung von Bildung als tätige Auseinandersetzung mit einer beschädigten Welt ist in der Geographie die Idee einer transformativen geographischen Bildung erwachsen.

Das vorliegende Werk verfolgt das Anliegen, transformativ‐emanzipatorische Zugänge zu geographischen Vermittlungspraktiken aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven zu erschließen. Es zeigt neue methodische Wege und Formen des Forschens und Unterrichtens für eine an den dringlichen Problemen der Gegenwart orientierte Geographiedidaktik auf.

Konkret führt das Handbuch in Schlüsselprobleme der Gegenwart ein (u. a. Biodiversität, Gesundheit, Gewalt, Ressourcen, Ungleichheit) und erschließt gesellschaftstheoretische und bildungsphilosophische Perspektiven zu deren Reflexion (u. a. feministische, antirassistische und ästhetische Bildung, climate justice education). Die Schlüsselprobleme und Theoriezugänge aufgreifend, werden situierte Forschungsweisen vorgeschlagen (u. a. ethnographisch, kartierend, partizipativ und performativ forschen) und Vermittlungspraktiken für ein engagiertes Lehren und Lernen angeboten (u. a. critical science literacy, forschendes Lernen, kollaboratives Schreiben, story-mapping).

Damit bringt das Buch erstmals die zahlreichen, auf eine transformative geographische Bildung zielenden Ansätze in einer Publikation zusammen und bildet so ein Grundlagenwerk für Studierende, Forschende und Lehrende der Geographie und ihrer Didaktik.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Transformative Geographische Bildung. Einleitung

Nie war geografische Bildung wichtiger als heute. Wir leben in einer Welt, die massiv beschädigt ist – und umfängliche Reparaturen einfordert, sofern sie uns Menschen auch weiterhin beherbergen soll. In dieser Situation gilt es, Orientierungen für pädagogisches Handeln zu bieten und Bildungsprozesse so zu gestalten, dass sie zu einer Linderung der planetaren Verletzungen beitragen können. Diesem Buch liegt daher das Anliegen zugrunde, hoffnungsvolle Wege für eine geografische Bildung in Zeiten tiefgreifender sozialer, politischer, ökonomischer und ökologischer Krisen aufzuzei gen.

Verena Schreiber, Eva Nöthen

Schlüsselprobleme

Frontmatter
Biodiversität

Biodiversität ist spätestens seit dem Erscheinen jüngerer Studien zum „Insektensterben“ zu einem Schlagwort in der umweltpolitischen Debatte geworden. Forschende gehen davon aus, dass das heutige globale Artensterben auf die Veränderung der Erdoberfläche durch den Menschen zurückzuführen und damit eine Erscheinung des Anthropozäns ist. Die wissenschaftlichen Ausdeutungen des Begriffs sowie des Phänomens Biodiversität sind vielfältig, beziehen sich aber durchgehend auf die Vielfalt der Interaktionen zwischen den Lebewesen. Im Fokus stehen dabei die Stabilität der Ökosysteme sowie deren ökonomische Bedeutung (Ökosystemleistung).

Martin Lindner
Digitalisierung

Digitalisierung transformiert Gesellschaft. Begriffe wie künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen deuten die veränderte Rolle des Menschen in Konstellationen autonom agierender Technik an. Dieses Kapitel argumentiert, dass Digitalisierung als technische Grundlage und gesellschaftliche Folge der Vernetzung von Computern zu verstehen ist. Mit Automatisierung, Plattformisierung und Dezentralisierung werden drei besonders wirksame Elemente der digitalen Revolution diskutiert.

Marc Boeckler
Finanzialisierung

Dieses Kapitel thematisiert die zunehmende Bedeutung von Finanzakteur*innen, Finanzinstrumenten, Finanzlogiken und Finanzpraktiken in der Wirtschaft. Es bietet zunächst einen Überblick über die Ursprünge und Merkmale dieses Phänomens, das in der wissenschaftlichen Debatte mit dem Begriff der Finanzialisierung beschrieben und erklärt wird, sowie über die dahinter stehenden Akteur*innen. Anschließend werden etablierte Denk-, Sprech- und Visualisierungsweisen in Bezug auf Finanzmarktphänomene problematisiert. Das Kapitel schließt mit einem Fazit zu Perspektiven auf alternative Finanzsysteme.

Tobias Klinge, Stefan Ouma
Gesundheit

Global produzierte gesellschaftliche (Natur-)Verhältnisse machen zunehmend krank und Krankheit ist sozial extrem ungleich verteilt. Etwas Existenzielles wie Gesundheit wird dadurch auch zu einem Schlüsselproblem transformativer Bildung. Der Beitrag stellt relationale Geografien von Gesundheit als eine hier ermächtigende Perspektive vor. Der Vorschlag stützt sich sowohl auf die Tradition der Sozialmedizin als auch auf aktuelle Debatten zur Verschränkung von Mensch und Umwelt, um zu unterstreichen, inwiefern Gesundheit neben der physiologischen Basis des individuellen Lebens immer auch etwas gesellschaftlich Gestaltetes ist. Diese „Gemachtheit“ von Gesundheit in den Blick zu nehmen, erlaubt es, die sozialen und umweltbezogenen Determinanten von Gesundheit transformativ zu gestalten.

Iris Dzudzek, Henning Füller
Gewalt

Gewalt verschwindet nicht, auch nicht in der modernen Gesellschaft. Jede politische Ordnung, die Gewalt reguliert, übt selbst Gewalt aus. Dies ist die dialektische Beziehung zwischen Gewalt und Ordnung. Neben der direkten, physischen Gewalt gibt es „leisere“ Formen struktureller und kultureller Gewalt, die Ungleichheit und soziale Ausgrenzung betreiben. Direkte physische Gewalt ist besonders sichtbar in fragilen Staaten und in Formen exzessiver Staatsgewalt; im ersten Fall erscheint Gewalt als unreguliert, im zweiten als überorganisiert. Transformative geografische Bildung setzt an allen Formen und Räumen der Gewalt an, indem sie deren Allgegenwärtigkeit, Legitimität und Totalität infrage stellt.

Benedikt Korf, Norbert Frieters-Reermann, Conrad Schetter
Globalisierung

Die zunehmende weltweite Verflechtung von Menschen, Kapital und Waren wird als Globalisierung bezeichnet. Der Globalisierungsschub seit den 1970er-Jahren hat eine komplexe, eng miteinander verflochtene Welt zur Folge gehabt. Dies zeigt sich in den unterschiedlichen Dimensionen der Globalisierung. Dieses Kapitel behandelt die Dimensionen der wirtschaftlichen, informationellen, sozialen und kulturellen Globalisierung. Darüber hinaus werden gegenläufige Trends – beispielsweise der Re-Nationalisierung von Lieferketten – diskutiert, auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und gegenwärtiger Kriege.

Jonathan Everts
Klimawandel

Wir Menschen sind durch die Freisetzung von Treibhausgasen unbestreitbar die wesentliche Ursache für den modernen Klimawandel und die globale Erwärmung seit 1850. Mittlerweile wirken sich die immer rascher voranschreitenden Veränderungen in vielen globalen, regionalen und lokalen Kontexten aus. Die Klimazonen verschieben sich polwärts. Klimaextreme wie Hitzewellen, Dürren und Hochwasser verstärken sich und nehmen zu. Dazu steigt der Meeresspiegel weiter an und die Ozeane versauern. Es ist daher eine entscheidende Zukunftsaufgabe, den negativen Folgen durch Klimaschutz und geeignete Anpassungsmaßnahmen zu begegnen. Eine wesentliche Frage dabei ist, welche Zeit uns dazu noch verbleibt.

Rüdiger Glaser
Migration

Migration wird oft als problembehaftetes Phänomen beschrieben, das außerhalb der Gesellschaft zu stehen scheint. Dem liegt ein veraltetes Verständnis von Nationalgesellschaften und Kulturen als geschlossenen Containerräumen und Sesshaftigkeit als gesellschaftlicher Norm zugrunde. Eine solche Perspektive verstärkt rassistische Ausschlussmechanismen und soziale Ungleichheiten. Wir schlagen in diesem Kapitel vor, einen neuen, anderen Blick auf Migration zu entwickeln, der eine bessere Grundlage für transformativ-emanzipatorische Bildungsprozesse in der Geografie bietet. Dafür greifen wir auf neuere Ansätze der Migrationsforschung zurück, die Migration als konstitutives Element von Gesellschaft denken.

Martina Blank, Catarina Gomes de Matos
Postfaktizität

Falschinformationen, die gezielt eingesetzt werden, um wissenschaftliche Erkenntnisse und aufklärerisch wirkende Medien zu delegitimieren, haben erheblich zugenommen. Obwohl Unwahrheiten in der Politik an sich nichts Ungewöhnliches sind, verweist die gegenwärtige Aufmerksamkeit für Bezeichnungen wie post-truth, postfaktische Zeiten, alternative Fakten oder Fake-News auf etwas, was als „Krise der Faktizität“ (van Dyk, 2017) aufgefasst wird. Das Kapitel stellt eine Krisendiagnose dar und geht hierfür auf Positionen von Hannah Arendt und Michel Foucault zurück. Abschließende Thesen zur Situation in der Geografie drücken ein Unbehagen aus, das sich auf die mangelnde Positionierung des Faches in dieser Krise bezieht.

Jürgen Oßenbrügge
Ressourcen

Mit vielerorts steigendem oder dauerhaft hohem Lebensstandard und einer wachsenden Weltbevölkerung hat auch der Ressourcenverbrauch in den letzten Jahrzehnten rasant zugenommen. Entsprechend zählen Ressourcenknappheit und -übernutzung heute zu den zentralen globalen Herausforderungen. Vorteile und negative Effekte der Nutzung von Ressourcen sind dabei räumlich und sozial oft sehr ungleich verteilt und politisch umkämpft. Das Kapitel skizziert nach einer Einführung in den Ressourcenbegriff zentrale Problemfelder des Ressourcenkonsums. Darauf aufbauend werden konzeptionelle Ansätze vorgestellt, mit denen sich Fragen des Ressourcenverbrauchs kritisch reflektieren und analysieren lassen und damit auch Anknüpfungspunkte für Veränderungen im Alltag bieten.

Sara Faßbender, Annika Mattissek
Ungleichheit

Für geografische Bildung und Forschung ist Ungleichheit in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. In politischen Diskursen gilt Bildung als Heilmittel für soziale Ungleichheit. Studien zeigen aber, dass das Bildungssystem Ungleichheiten nicht abmildert, sondern verstärkt. Für die geografische Bildung stellt sich daher die Frage, welchen Beitrag sie zur Überwindung sozialer Schließung leisten kann. Daneben ist Ungleichheit ein wichtiger Gegenstand sozialgeografischer Forschung. Die zentrale Frage lautet dann, welche Rolle Raum bei der Verfestigung von Ungleichheit zukommt. Der Beitrag führt in Ungleichheitslagen in Deutschland ein, gibt Einblick in Theorien sozialer Ungleichheit und diskutiert die Verräumlichung von Ungleichheiten.

Nadine Marquardt
Urbanisierung

Urbanisierung ist nicht nur als das reine Wachstum von Agglomerationsräumen zu verstehen, sondern als ein komplexer soziodemografischer Prozess, den es aus geografischer Perspektive zu analysieren gilt. Dieses Kapitel betrachtet vier zentrale Aspekte der Urbanisierung, die im Angesicht globaler gesellschaftlicher Herausforderungen (raum-)relevant sind: Ungleiche Städte handelt von der Polarisierung in und zwischen Städten, wohnhafte Städte thematisiert die prekäre Wohnraumversorgung in Ballungsgebieten; vernetzte Städte nimmt die Bedeutung von Globalisierung und Digitalisierung in den Blick und zukunftsfähige Städte stellt die Frage nach Nachhaltigkeit und Resilienz.

Ulrike Gerhard, Judith Keller

Theoriezugänge

Frontmatter
Anarchistische Pädagogiken

In diesem Kapitel werden bildungstheoretische Implikationen anarchistischer Ansätze der Transformation beziehungsweise Revolution diskutiert. Es wird argumentiert, dass Bildung als eine zentrale Methode anarchistischer Praxis aufzufassen ist. Als anarchistische Pädagogiken werden zum einen alternative reformpädagogische Bildungskonzepte und die ihnen zugrunde liegenden Kritiken an bürgerlichen Bildungsinstitutionen, zum anderen Ansätze des informellen Lernens in alltäglichen politischen Praktiken von Anarchist*innen bezeichnet. Vier pädagogische Figuren anarchistischer Selbstbildungspraxis werden abschließend kursorisch vorgestellt.

Ferdinand Stenglein
Ästhetische Bildung

Ästhetische Bildung wird als emanzipationsorientiertes Projekt transformativer Bildung skizziert. Im Fokus der Kritik steht die ästhetizistische Übertünchung des Realen. Sache der Übung ist die Differenzierung der Wahrnehmung. Eine didaktische Annäherung an das spezifische Prinzip allgemeiner Bildung folgt einer gegenstandslogischen und einer methodologischen Aufmerksamkeit: Was erscheint in bestimmter Weise „ästhetisch“ und wie ist dem damit geweckten Befinden verstehend auf die Spur zu kommen? Die expressis verbis vollzogene Explikation sinnlicher Eindrücke wird als Methode skizziert, kritisch-reflexive Wege der Erfahrung subjektiver Selbst- und Weltbeziehungen zu erschließen.

Jürgen Hasse
Bildung für nachhaltige Entwicklung

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zielt auf ein verantwortungsbewusstes gegenwärtiges Denken und Handeln für eine nachhaltige Zukunft ab. Damit ist nachhaltige Entwicklung nicht nur eine Aufgabe von Bildungseinrichtungen, sondern ebenso von Kommunen und Unternehmen. In diesem Kapitel wird BNE im schulischen Kontext aus geografiedidaktischer Perspektive beleuchtet, was bestimmte Akzentuierungen mit sich bringt. Zunächst wird dargelegt, wie sich BNE aus der Umweltbewegung heraus entwickelt hat. Hierbei wird nach einer globalen und nationalen Ebene differenziert. Auf dieser Basis wird exemplarisch aufgezeigt, welche Aspekte BNE aktuell aufweist und welche konkreten Ansätze für BNE zukünftig stärker zu berücksichtigen sind.

Christiane Meyer
Buen Vivir

Die Idee des Buen Vivir beruft sich auf indigene Traditionen eines naturverbundenen und am Gemeinwohl orientierten Lebens. Im Zentrum von Buen Vivir steht das Verhältnis zu Natur und das Bekenntnis zu einem „Biozentrismus“. Politische Beachtung hat Buen Vivir dadurch erlangt, dass es in die Verfassungen von Bolivien (2009) und Ecuador (2008) aufgenommen wurde. In Europa wird im Kontext von Degrowth-Debatten ein transformiertes Buen Vivir rezipiert: „Gutes Leben“ wir dabei nicht als individuelle Glückssuche gesehen, sondern als ein Projekt, das nur in Gemeinschaft verwirklicht werden kann. Die damit verbundene Idee der „Rechte der Natur“ gewinnt gegenwärtig auch für transformative Anliegen in bildungsbezogenen Debatten in Deutschland an Bedeutung.

Thomas Fatheuer
Digitale Bildung

Lernen in einer digitalen Welt bedeutet weit mehr als der Erwerb medienbezogener Kompetenzen, die dem Zurechtfinden im Digitalen dienen. Digitalisierung ist vielmehr das zentrale Momentum, um zukünftige Entwicklungen (mit-)gestalten zu können. Dieser globalen Herausforderung kann im Bildungssektor nur in Form umfangreicher Transformationsprozesse begegnet werden, die auf einem neuen Verständnis des Lehrens und Lernens gründen. Ziel sind tragfähige Bildungserfahrungen, die beim Umgang mit Veränderungen in den Bereichen Digitalisierung und Umwelt dienlich sind.

Uta Hauck-Thum
Ethische Bildung

Vernünftiges Urteilen lässt sich nicht durch Handlungsanweisungen regeln. Dafür sind lebensweltliche Situationen zu vielfältig. Wir müssen in jeder Situation erneut die Bereitschaft aufbringen, zu reflektieren, worin das vernünftige Handeln liegen könnte. Daher kann Geografieunterricht moralische Entwicklung auch nicht garantieren. Er kann aber so gestaltet werden, dass ethische Bildungsprozesse wahrscheinlich werden. Wie gewinnen wir nun Maßstäbe für das Urteilen? Dies ist die Frage nach verbindlichen Normen als Grundlage moralischen Urteilens. Um ethische Bildung zu orientieren, werden die philosophischen Antworten Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Immanuel Kants komplementär zueinander ins Verhältnis gesetzt.

Mirka Dickel
Feministische Bildung

In Bildungskontexten werden Ungleichheiten gleichermaßen hervorgebracht wie Möglichkeiten ihrer Überwindung beschritten. An diesem Spannungsverhältnis setzt feministische Bildung an. Sie stellt der Geografie(-didaktik) erstens Konzepte bereit, mit denen sich Machtverhältnisse im Bildungssystem untersuchen und Leerstellen geografischer Wissensproduktion offenlegen lassen. Feministische Bildung gibt zweitens wichtige Impulse für die Entwicklung von Vermittlungsweisen, mit denen emanzipatorische Selbst- und Weltbildungsprozesse angestoßen werden können. Drittens plädiert sie für ein neues Bildungsverständnis als fürsorgliches Bündnis von Menschen und nichtmenschlichen Arten. Diese drei Anliegen machen feministische Bildung für transformatives Lehren und Lernen relevant.

Verena Schreiber
Kritische Bildung

Die kritische Bildungstheorie hat sich im Anschluss an den nationalsozialistischen Faschismus Ende der 1960er-Jahre entwickelt. Sie ist gesellschaftskritisch und orientiert sich an den Postulaten der Solidarität, Freiheit und Gleichheit. Ihr vorrangiges Ziel ist es, Heranwachsenden die Möglichkeit zu geben, kritische Urteilskraft zu entwickeln, um selbstständig aus der Position der Mündigkeit heraus gesellschaftliche Zwänge zu erkennen, sich in einem Akt der Emanzipation selbstbewusst gegen sie zu stellen und eine entsprechende Handlungsfähigkeit zu entfalten. Kritische Bildung ist ausgerichtet an der Humanitas und wendet sich gegen jegliche Form der Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung.

Eva Borst
Postkoloniale Bildung

Postkoloniale Perspektiven bieten eine theoretische Orientierung für eine inklusivere, diversere, gerechtere und machtkritische Bildungspraxis. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche interdisziplinäre Initiativen und Kollektive, die postkoloniale Bildungsarbeit leisten (z. B. ADEFRA e. V., glokal e. V., EOTO e. V., bildungsLab*). Als ein zentrales Anliegen postkolonialer Bildung fokussiert das Kapitel die Dekolonisierung der Wissensproduktion und -vermittlung, also die Auseinandersetzung damit, wo und wie sich in Lehr- und Lernräumen postkoloniale Verhältnisse manifestieren und wie diesen begegnet werden können.

Tania Mancheno, Katharina Schmidt
Rassismuskritische Bildung

Das Kapitel arbeitet die Bedeutung von Rassismus heraus, kontextualisiert seine Entstehung, Kontinuität und Einbettung in strukturelle Verhältnisse. Die in Deutschland verspätet einsetzende Reflexion von Rassismus wird als Erbe des Nationalsozialismus gekennzeichnet. Die Autorinnen plädieren dafür, rassismuskritische Bildungsarbeit zu nutzen, um Subjektpositionen von BIPOC und weißen Menschen auszubuchstabieren, egalitäre Teilhabe zu erweitern und Machtungleichheiten zu bearbeiten. Die Grenzen rassismuskritischer Bildungsarbeit, die auch in der Persistenz historisch gewachsener, kapitalistisch-rassifizierter Strukturen liegen, müssen dabei stets reflektiert werden.

Denise Bergold-Caldwell, Heike Mauer
Resonanzpädagogik

Die Verbindung von Resonanzpädagogik und raumkonzeptionell differenzierter Geografie eröffnet weitreichende Möglichkeiten, geografische Bildung anders zu denken und zu erforschen. Sie führt zu einer Geografie als (Um-)Weltbeziehungsbildung, die ein wechselseitiges Zum-Sprechen-bringen von Subjekt und Umwelt anstrebt. Eine entsprechende Geografiedidaktik räumt der Etablierung von Resonanzachsen eine zentrale Stellung ein und stellt auf Seite der Lernenden die Erfahrung von Selbstwirksamkeit bei der Anverwandlung von Ausschnitten der Welt in den Fokus. Sie motiviert, tragfähige, Leib und Geist integrierende Alternativen zum wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Natur- und Weltverhältnis zu erschließen.

Antje Schlottmann, Hartmut Rosa
Umweltgerechtigkeit

Der Ansatz der Umweltgerechtigkeit bewegt sich in einem Spannungsfeld aus Beschreibung und Analyse umweltbezogener Benachteiligungen und deren normativer Bewertung. Im Kontext zunehmender Umweltzerstörung und oft unsichtbarer Ausbeutungsverhältnisse können diese drei Dimensionen als unterschiedliche Momente transformativer Selbst- und Weltbildung verstanden werden: Die Beschreibung von Ungleichheiten ist Voraussetzung für die Diagnose und Sichtbarmachung von umweltbezogenen Benachteiligungen. Die Analyse struktureller Zusammenhänge ermöglicht deren Erklärung und Kontextualisierung. Die Bewertung erlaubt schließlich eine Positionierung zu bestehenden Verhältnissen und deren Aushandlung.

Benedikt Schmid, Hartmut Fünfgeld
Utopische Bildung

In einem Verständnis von Geografie als Fach der Beschreibung und Analyse der gegenwärtigen Welt sind fiktionale Utopien üblicherweise nicht Gegenstand geografischer Bildung. Sowohl Gesellschaftsutopien als auch reale Utopien der Überwindung gegenwärtiger Gesellschafts-Natur-Verhältnisse bergen jedoch ein transformativ-emanzipatorisches Bildungspotenzial, da sie als Katalysatoren von individuellen und kollektiven Veränderungsprozessen fungieren können. In der geografischen Bildung spielen beide Ansätze bislang keine bedeutende Rolle. Dieses Kapitel ist ein Plädoyer dafür, Utopien in der geografischen Bildung mehr Raum zu geben – sowohl als fiktionale als auch als reale und realisierte Utopien.

Holger Jahnke

Forschungsweisen

Frontmatter
Ethnographisch forschen

Ethnografisches Forschen lädt zum Erkunden, Experimentieren und Reflektieren ein. Es ist ein traditionsreicher und gleichzeitig äußerst wandelbarer Forschungsstil, der konkrete Strategien und Werkzeuge bereitstellt und zugleich offen für verschiedene Kontexte und Zielsetzungen ist, so auch im Sinne transformativer Ethnografien. Das Kapitel stellt zunächst ethnografisches Forschen als wandel- und verhandelbare Praxis vor und reflektiert dann, inwiefern diese Forschungsweise als Instrument gesellschaftlichen Wandels genutzt werden kann.

Alexander Vorbrugg
In Bewegung forschen

In Bewegung forschen spielt auf ein junges Feld der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung an. Unter mobile methods oder mobile ethnography werden Methoden gefasst, die Menschen und Dinge in Bewegung in den Fokus nehmen. Sie haben das Ziel, unterschiedliche Bedeutungszuweisungen an Bewegung zu entschlüsseln. Dementsprechend vielfältig sind die Methoden der Datenerfassung und -auswertung – so gut wie alle Ansätze der empirischen Sozialforschung lassen sich für mobile methods adaptieren. Typisch sind teilnehmende Beobachtungen, leitfadengestützte Interviews oder die Erfassung von GPS-Positionsdaten. Häufig werden die einzelnen Methoden der Datenerfassung kombiniert, etwa Beobachtungen mit Leitfadeninterviews, während Forschende und Proband*innen gemeinsam im Feld unterwegs sind.

Mathias Wilde
Kartierend forschen

Das Kapitel widmet sich ontologischen und methodologischen Bedingungen des Kartierens an den Grenzverläufen von Wissenschaft, Kunst und Aktivismus. „Kartierend forschen“ wird in diesem Kontext als Bildungsgeschehen, das heißt einerseits als Praxis der Kritik und andererseits als Befähigung zur Teilhabe gefasst. Das Kartieren umschreibt hierbei eine prinzipiell nie abgeschlossene, kreative Tätigkeit des Suchens, Aufzeichnens und Kommunizierens individueller wie geteilter räumlicher Erfahrung, um transformative Möglichkeitsräume der Aushandlung und des Wandels zu schaffen. Diese voraussetzungsvolle Praxis wird anhand eines Beispiels kollektiver Kartierung zu Fragestellungen einer sozialökologischen Transformation verdeutlicht.

Fabian Pettig
Kritisch quantitativ forschen

Dieses Kapitel gibt einen Überblick über sozialwissenschaftliche Forschungsansätze, die quantitative Methoden mit kritischen Herangehensweisen vereinen. Es wird eine Taxonomie vorgeschlagen, die unterschiedliche Ansätze der kritischen quantitativen Forschung grob in drei Kategorien sortiert und an Beispielen veranschaulicht: 1.) kritische Forschung mit quantitativen Methoden, 2.) Kritik an angewandten quantitativen Methoden sowie 3.) Kritik an quantitativer Forschung. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Anknüpfungspunkten in und jenseits der universitären Geografie sowie auf den transformativen Ansprüchen an eine kritische quantitative Bildung.

Till Straube
Künstlerisch forschen

Mit künstlerischem Forschen lässt sich eine Praxis beschreiben, die Erkenntnis aus der Verbindung künstlerischen und wissenschaftlichen Tuns gewinnt. Sie erschließt ein breites Spektrum sinnlich-ästhetischer und deutend-semiotischer Wahrnehmungsweisen von raumbezogenen Kontroversen und macht diese verhandelbar. Das Kapitel stellt ein Drei-Schritt-Verfahren vor, welches das Vorgehen im Modus künstlerischen Forschens anleitet. Es werden konkrete Handlungsoptionen aufgezeigt und Überlegungen zur Frage angestellt, wie künstlerisches Forschen aus fachdidaktischer Perspektive dazu beitragen kann, Lehr-Lern-Prozesse im Kontext Schule im Sinne transformativer geografischer Bildung neu zu denken.

Eva Nöthen, Lea Bauer
Narrativ forschen

Narrativ zu forschen bezieht sich auf Forschungsansätze sowie auf Forschungsmethoden. Obwohl Narrationen keinem festen literarischen Genre zugeordnet werden können, weisen sie doch Merkmale auf, die sie von anderen Vertextungsmustern unterscheiden. Daher stellt die narrative Forschung ein eigenes Forschungsfeld dar, das sich sowohl damit befasst, was als auch wie und warum erzählt wird. Erzählungen, ob mündlich vorgetragen, schriftlich verfasst oder visualisiert, tragen dazu bei, persönliche wie soziale und kulturelle Identitäten zu konfigurieren oder gewähren Einblicke in die Konstitution von Zugehörigkeit. Sie generieren Weltbezüge und entwerfen Möglichkeitsräume, die das Potenzial haben, eine Wirkung auf gesellschaftliche Praxis zu entfalten sowie Veränderungen anzustoßen.

Birgit Neuer
Partizipativ forschen

Das Kapitel beschäftigt sich mit Potenzialen und Prämissen partizipativer Forschung für eine transformative geografische Bildung. Partizipative Verfahren versprechen Forschung mit und für, statt nur über Menschen zu ermöglichen und damit die Aushandlungsprozesse inklusiver und transparenter zu machen. In der Forschung eröffnet Partizipation damit Chancen, konventionelle Methoden aufzubrechen und alternative Handlungsoptionen aufzuzeigen sowie Vorstellungen von Beteiligten differenzierter zu erschließen und zu kommunizieren. Gleichzeitig bringt partizipatives Forschen auch Herausforderungen wie den Umgang mit unterschiedlichen Ansprüchen, Unsicherheiten und Machtasymmetrien mit sich.

Dana Ghafoor-Zadeh
Performativ forschen

Performative Forschung konstituiert kurzzeitig andere Wirklichkeiten. Diese können Wahrnehmungs- und Handlungs-(spiel-)räume zu Schlüsselfragen und -problemen unserer Zeit sichtbar machen und erweitern. Performativ forschen verbindet die Wahrnehmung im situierten, künstlerischen und körperlichen Handeln mit ihrer Reflexion. Sowohl die Art und Weise des Forschens als auch dessen Erkenntnisse werden innerhalb von inszenierten Ereignissen erfahrbar.

Julia Dick, Jane Eschment
Technosozial forschen

Im Zentrum dieses Kapitels stehen transformativ-emanzipatorische Forschungsweisen aus der Perspektive (qualitativer) digitaler Geografien. Unter dem Titel Technosozial forschen diskutieren wir ethisch reflektiertes Forschen zu und vor allem mit digitalen Medien. Geeignete Methoden werden bisher insbesondere im Kontext der Erforschung von digital-mediatisierten Alltagswelten, -räumen und -praktiken von Forschungssubjekten eingesetzt. Wir argumentieren, dass sie sich auch im Rahmen einer mündigkeitsorientierten transformativen Bildung sinnvoll einsetzen lassen, vor allem um das Verständnis junger Menschen für die Mediatisierung ihrer Alltagswelten zu erhöhen.

Andrea Markl, Tabea Bork-Hüffer
Transdisziplinär forschen

In diesem Kapitel werden transdisziplinäres und transformatives Forschen im Allgemeinen eingeführt und ihr Verhältnis zu Forschungsmodi wie Inter-, Multidisziplinarität und Transformationsforschung erläutert. Die Aspekte und Phasen transdisziplinärer und transformativer Forschung werden im Anschluss am Fallbeispiel der Kampagne Naturnah Gärtnern – Für Mensch, Tier & Klima veranschaulicht und greifbar gemacht sowie einige Erfolgsfaktoren und Hürden für transdisziplinäres Forschen dargestellt.

Annika Fricke, Oliver Parodi, Helena Trenks, Somidh Saha

Vermittlungspraktiken

Frontmatter
Critical Science Literacy

Critical Science Literacy beschreibt einen methodischen Ansatz, der eine kritische Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen fördern soll. Dabei geht es nicht um die Vermittlung wissenschaftlicher Fakten oder eines wissenschaftlichen Weltbilds, sondern vielmehr um die Fähigkeit, die Herstellung, den Inhalt und die Verbreitung von wissenschaftlichem Wissen verorten, verstehen und hinterfragen zu können und vor diesem Hintergrund Kritik an sozialer Ungleichheit, Geschlechterhierarchien, Rassismus, Naturzerstörung, neoliberalen, autoritären und postfaktischen Tendenzen und vielem mehr zu formulieren.

Rosa Costa, Iris Mendel
Dekonstruktion

Dekonstruktion ist eine Methode zum Hinterfragen scheinbarer Gegebenheiten. Sie legt auf Basis konstruktivistischer Theorien gesellschaftliche Komplexität sowie die dahinter liegenden Machtbeziehungen offen. Das Kapitel zeigt am Beispiel der Dekonstruktion in der Kartenarbeit auf, wie eine dekonstruktive Praxis durch Leitfragen im Unterricht methodisch gefasst werden kann. Dabei wird Dekonstruktion als Beitrag zu einer mündigkeitsorientierten Bildung nicht nur zur Analyse von (Unterrichts-)Gegenständen und Medien eingesetzt, sondern auch zur Reflexion pädagogischer und didaktischer Praktiken durch sämtliche Beteiligte an Vermittlungssituationen.

Inga Gryl, Michael Lehner
Denken lernen mit Geographie

Denken lernen mit Geografie ist ein unterrichtsmethodischer Ansatz, bei dem das selbstständige problemlösende Denken und das Reflektieren über die eigenen Denk- und Lernprozesse bei der Aufgabenbearbeitung eine zentrale Rolle spielen. Der Umgang mit der faktischen und ethischen Komplexität globaler Schlüsselprobleme verlangt eine spezifische Reflexionsfähigkeit, die durch Methoden wie Mystery, Planen und Entscheiden oder Wertequadrat gezielt gefördert werden kann. Mittels geeigneter Aufgaben können hierbei auch die vielfach unbedachten geografischen Grundlagen unseres alltäglichen Denkens und Handelns zugänglich gemacht und problematisiert werden.

Stephan Schuler
Digitale Spiele

Digitale Spiele können Bildungsprozesse anstoßen. Die interaktive, multimediale Kommunikation im Spiel ermöglicht es, Spielende zu einer Reflexion eigener umweltwirksamer Handlungen zu motivieren. Ziel des Kapitels ist es, digitale Spiele und Digital Location-Based Games als Bildungsmedien vorzustellen, die einen Beitrag leisten können, um Gesellschaft zu transformieren. Ein Digital Location-Based Game zum Schiffshebewerk in Niederfinow (Brandenburg) dient als Fallbeispiel, um vier zentrale Spielelemente zu explizieren.

Robert Lämmchen, Stephan Pietsch
Forschendes Lernen

Der Ansatz des Forschenden Lernens kann als Erkenntnisstrategie Lernender und didaktische Haltung Lehrender verstanden werden, welche durch einen hohen Grad an Selbstbestimmtheit in Anbahnung, Durchführung und Reflexion des Lernprozesses gekennzeichnet ist. Im Beitrag werden ausgehend von bildungstheoretischen Implikationen zum forschenden Lernen methodisch-konzeptionelle Überlegungen angestellt, die sich an der Frage ausrichten, welchen Beitrag forschendes Lernen für eine transformative Bildung leisten kann.

Nicole Raschke
Gegenkartieren

Methodische Ansätze des Gegenkartierens (engl. Counter Mapping) haben innerhalb der letzten zehn Jahre einen festen Platz in den kritischen Geografien erworben. Sie leisten einen Beitrag, marginalisierte Themen und Perspektiven gesellschaftlich sichtbarer zu machen und dadurch homogenisierende Lesarten von Raum aufzubrechen. Hierbei ist der Prozess, klassische Karten kritisch zu hinterfragen und zu dekonstruieren, ebenso zentral wie selbst andere Verständnisse von Welt zu mappen und durch diese Praxis hegemoniale Raumverständnisse herauszufordern. In diesem Kapitel möchten wir durch die Diskussion von konzeptionellen Hintergründen und praktischen Beispielen zum Gegenkartieren mit jungen Menschen anregen.

Katrin Singer, Helene Heuer
Geopoesie

Geopoesie als Vermittlungspraxis zielt im Kern darauf, lyrische Texte für die Auseinandersetzung mit geografischen Fragestellungen und Themen fruchtbar zu machen. Im Kapitel wird zunächst die Begrifflichkeit „Geopoesie“ vorgestellt. Im Weiteren wird der Frage nachgegangen, welche Einsatzmöglichkeiten für Dozent*innen, Lehrer*innen, aber auch für Forscher*innen in Bezug auf diese Praxis konkret bestehen. Aufgezeigt werden mindestens drei Verwendungsweisen, die sich zu den Schlagwörtern „Verfassen“, „Verwenden“ und „Erforschen“ verdichten lassen. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer für einen stärkeren Einsatz von Lyrik in der geografischen Bildung.

Daniel Grummt
Kollaboratives Schreiben

Kollaboratives Schreiben bedeutet, dass mehrere Autor*innen durch gemeinsame Planung, Interaktion und Aushandlung einen Text produzieren. Nach einem Überblick zum Verständnis und zu verschiedenen Varianten kollaborativen Schreibens werden drei Vorschläge unterbreitet, mittels derer die Anliegen transformativer geografischer Bildung unterstützt werden können. Dabei wird deutlich, wie groß das Potenzial kollaborativen Schreibens für das Hervorbringen diverser Perspektiven einerseits ist und wie wenig dieses Potenzial andererseits bislang im Bereich geografischer Bildung ausgeschöpft wird.

Anna Oberrauch, Andreas Eberth
Philosophieren

Das Kapitel fragt danach, inwiefern Philosophieren als „Kulturtechnik“ und Unterrichtsprinzip Eingang in den Geografieunterricht finden kann und sollte. Dafür wird die Eignung eines Fragens für eine philosophische Nachdenklichkeit am Beispiel des Gedankenexperiments entwickelt und seine Bedeutung für eine didaktische Umsetzung der Ansätze transformativer Bildung verdeutlicht. Transformatives Lernen wird dabei als kritische Reflexion von impliziten Bedeutungsperspektiven verstanden, die als orientierungsgebend für das eigene Handeln gelten können.

Eva Marie Ulrich-Riedhammer, Jochen Laub
Raumerzählungen

Dass nur ein Bruchteil der Straßen in unseren Städten nach Frauen und der weit überwiegende Teil nach Männern benannt ist, ist kein Zufall, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die sich im öffentlichen Raum unter anderem durch bestehende oder fehlende Erinnerungs- oder Gedächtnisorte manifestieren. Mit diesen „Orten“ und deren Ausgestaltung werden hegemoniale Geschichte/n sowie dominante Les- und Erzählweisen kommuniziert und (re-)produziert. Gleichzeitig werden alternative Erzählungen marginalisiert oder ignoriert. Raumerzählungen als Vermittlungspraxis für eine transformative geografische Bildung zu fokussieren, zielt auf eine kritische Beschäftigung mit erinnerungs- und gedächtnispolitischen Fragen des Räumlichen und setzt dabei an der unmittelbaren Lebenswelt der Lernenden an.

Christiane Hintermann
Relief Maps

Relief Maps, entwickelt von Maria Rodó-de-Zárate, sind eine Möglichkeit der Visualisierung von intersektionalen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen bezogen auf Orte und Gefühle. Die Methode eignet sich sowohl zur Datenerhebung und -analyse als auch zum Einsatz in transformativen und machtkritischen Lehr-Lern-Kontexten. Letztere Verwendung steht in diesem Kapitel im Vordergrund. Relief Maps stellen einen Ausgangspunkt für die individuelle oder gemeinsame Reflexion von Positionierungen dar und unterstützen die aktive und kritische Auseinandersetzung mit Prozessen der Normierung und Hierarchisierung.

Inken Carstensen-Egwuom
Schüler*innenlabor

Schüler*innenlabore sind Orte, an denen die Prinzipien Learning by Doing und „Forschen statt Pauken“ (Engeln & Euler, 2004) gelten. In diesem Kapitel werden Zielsetzungen, Arbeitsweisen und Entstehungszusammenhänge diskutiert, wobei zwischen naturwissenschaftlich-technischen, geistes- und sozialwissenschaftlichen sowie inter- und transdisziplinären Laboren unterschieden wird. Ob und inwiefern Schüler*innenlabore als Orte einer transformativen (geografischen) Bildung gelten können, bemisst sich daran, in welcher Art sie experimentierendes und forschendes Lernen ermöglichen, welche Themen eröffnet und welche Perspektiven eingenommen werden.

Claudia Wucherpfennig
Science Slam

Der Science Slam stellt eine vergleichsweise neue Praxis für die Wissensaneignung und -weitergabe an interessierte Öffentlichkeiten dar. Das Besondere dieser Vermittlungspraxis besteht darin, dass sie in einen fachlichen Wettbewerb auf einer Bühne eingebettet ist, bei dem verschiedene Beteiligte auftreten und am Ende eine Siegerin oder ein Sieger gekürt wird. Insofern liegen die Herausforderungen bei einer Science-Slam-Teilnahme vor allem darin, die eigene wissenschaftliche „Echokammer“ zu verlassen und die jeweiligen Fachkenntnisse dergestalt zu transformieren, dass auch interessierte Lai*innen damit etwas anfangen können.

Daniel Grummt
Story Mapping

Das Kapitel stellt Story Mapping als eine neue Form der Wissensvermittlung vor, diskutiert Hürden und Hindernisse in der kollaborativen Erstellung von Story Maps durch Lehrende und Lernende und zeigt schließlich auf, welche transformativen Potenziale die Arbeit mit Story Maps für die Geografie und die geografische Lehre zu bieten hat. Als alternative Form geografischen Arbeitens begreift das Kapitel Story Mapping als eine von vielen Möglichkeiten, wie sich in universitären und schulischen Vermittlungskontexten Erzählformate umsetzen lassen, die es zugleich erlauben, geografische Themen für eine breite Öffentlichkeit optisch ansprechend und zugänglich aufzubereiten.

Sarah Klosterkamp
Themenzentrierte Interaktion

Ruth Cohn versteht die von ihr begründete Themenzentrierte Interaktion (TZI) als einen gesellschaftstherapeutischen Ansatz. Aus ihrer Biografie als jüdische Deutsche gespeist, formuliert sie humanistische Grundlagen für die Gestaltung, Analyse und Planung von Bildungsprozessen mit dem Ziel eines guten Lebens. Seit den 1970er-Jahren hat sich die TZI an Schulen, Universitäten, Institutionen und Unternehmen verbreitet. TZI kann sowohl als allgemeindidaktisches Modell verstanden werden als auch als Anspruch, seinen Teil dazu beizutragen, dass „Auschwitz nicht noch einmal sei“ (Adorno, 1967).

Stefan Padberg
Trouble Making

Das Kapitel zu Trouble Making als praktischer Vermittlungszugriff im Geografieunterricht regt dazu an, mit Lernenden über die problematisierende Analyse von Dualismen zu einer Unruhestiftung zu gelangen. Dabei kann in vier Schritten vorgegangen werden: Kennenlernen, Erkennen, Analysieren und „Kompostieren“ von Dualismen. Das „Kompostieren“ soll dazu einladen, neugierig und kreativ Ideen zu spinnen, die das Miteinander-Klarkommen behandeln. Für diese Form des Unruhig-Bleibens, getragen von Ideen experimenteller Gerechtigkeit, stehen keine allgemeingültigen Lösungen im Vordergrund. Vielmehr soll sie Raum für verantwortungsvolle Projekte/Projektideen für das miteinander Leben und Sterben ermöglichen. Individuelle und gemeinschaftliche Erkenntnisse und Einfälle werden dabei in einem begleitenden Reflexionsjournal dokumentiert.

Kirstin Stuppacher
Um-Wege gehen

Im bewussten Spazieren setzen wir uns intensiv mit unserer Umwelt auseinander. Das aufmerksame Zu-Fuß-Gehen führt zu einer erweiterten Wahrnehmung und kollektiven Erfahrung. Wir verfallen einer Entdeckungs- und Beobachtungslust, sammeln impliziertes Wissen und werden Teil der Szenerie selbst. Schritt um Schritt hinterfragen wir, was diesen erfahrbaren Raum ausmacht, in dem wir leben. In dieser Resonanz entwickelt sich eine mannigfache Beziehung mit der Umwelt, die nicht nur konventionalisierte Sichtweisen und Verhalten aufbricht, sondern auch Aufschlüsse über die eigene Wahrnehmung und Denkmuster aufzeigt.

Simone Etter
Wildniscamp

Wildniscamps in Großschutzgebieten, Wäldern, Brachflächen und Gärten ermöglichen das intensive Erleben verwildernder Natur. Sie stellen damit zentrale Orte der Wildnisbildung dar, in denen an die aktuelle Wildnisdebatte aus öffentlicher, naturschutzfachlicher und -politischer Perspektive angeknüpft wird. Durch das bewusst einfache Leben sowie den Verzicht auf alltägliche Standards bietet der Aufenthalt im Wildniscamp Kontrasterfahrungen und Anlässe für Reflexionsprozesse zum individuellen und gesellschaftlichen Mensch-Natur-Verhältnis im Sinne einer transformativen Bil dung.

Anne-Kathrin Lindau
Zukunftswerkstatt

Zukunft verweist immer auf etwas, das vor uns liegt – und doch ist sie gegenwärtig. Mal Verheißung, mal Bedrohung, ist sie immer von Unsicherheiten geprägt und will gleichzeitig gestaltet werden. Somit stellt die (explizite) Befassung mit der Gestaltung von Zukünften gerade in Zeiten globaler Krisen ein herausforderndes, teils beunruhigendes, jedoch lohnenswertes Unterfangen dar. Um sich dieser Aufgabe konstruktiv zu stellen, bieten Zukunftswerkstätten die Möglichkeit, gesellschaftliche Herausforderungen durch eine kreative, kollektive und kritische Aushandlung verschiedener Zukünfte zu lösen. Hierdurch gewinnt die Methode insbesondere für transformative Bildungsprozesse an Bedeutung.

Antonia Appel
Metadaten
Titel
Transformative Geographische Bildung
herausgegeben von
Eva Nöthen
Verena Schreiber
Copyright-Jahr
2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Electronic ISBN
978-3-662-66482-7
Print ISBN
978-3-662-66481-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66482-7