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24.04.2024 | Vergütung | Schwerpunkt | Online-Artikel

In Deutschland wird geschuftet wie noch nie

verfasst von: Andrea Amerland, dpa

5 Min. Lesedauer

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Die FDP will Lust auf Überstunden machen - und schießt damit wohl übers Ziel hinaus. Nicht nur Gewerkschaften schlagen Alarm. Auch Studien belegen: Die geleisteten Arbeitsstunden erreichen ein Rekordhoch.

Der Tag der Arbeit am 1. Mai ist nicht nur ein Feiertag, an dem Arbeitnehmende ausspannen und die Füße hochlegen können. Historisch betrachtet handelt es sich vielmehr um einen Tag für die Arbeiterbewegung, die traditionell am ersten Tag des Wonnemonats gestreikt hatte. Auf den Weg gebracht hat den Maifeiertag letztendlich die Weimarer Nationalversammlung 1919 - unter anderem für den internationalen Arbeitsschutz.

Daher lohnt es sich gerade rund um den 1. Mai, genauer hinzusehen, wie es aktuell um die Arbeitswelt bestellt ist. Und der Vorstoß von Christian Lindner (FDP), vorgetragen in der ARD-Talkshow Caren Miosga, ist in den Augen vieler Experten eine - pardon - Überstunden-Schnapsidee.

Wie Überstunden steuerfrei werden sollen

Der Gedanke der FDP ist es dabei, dass eine begrenzte Zahl von Überstunden bei Vollzeitbeschäftigten steuerfrei gestellt wird. Denn durch die Progression der Lohn- und Einkommensteuer verringere sich das Gehaltsplus für geleistete Mehrarbeit derzeit oft, heißt es in einem Fünf-Punkte-Papier der Partei zur Stärkung der Wirtschaft. "Um das zu verhindern, könnten sowohl eine begrenzte Zahl von Überstunden wie auch ausbezahlte Überstundenzuschläge steuerfrei gestellt werden", heißt es darin. Ein Gedanke dabei ist es, die Arbeitszeit insgesamt und somit auch die wirtschaftliche Leistung trotz Personalknappheit und fehlender Fachkräfte in den Unternehmen zu erhöhen. 

Lindner verweist gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa) darauf, "in Italien, in Frankreich und anderswo wird deutlich mehr gearbeitet als bei uns." Das liege an Regelungen zur Arbeitszeitverkürzung, der demografischen Entwicklung, aber auch an ungewollter Teilzeit wegen mangelnder Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Dieses Defizit an geleisteten Arbeitsstunden sieht der Bundesvorsitzende der FDP und Bundesminister der Finanzen als Kernproblem der deutschen Wirtschaft. Die steuerfreien Überstunden für Vollzeitbeschäftigte sollen die Arbeitsmotivation erhöhen und ausländische Fachkräfte mit Steuerrabatten anlocken.

Kritik am Überstunden-Vorstoß der FDP

Die Antworten aus den Gewerkschaftsreihen folgten prompt wie vehement. DGB-Chefin Yasmin Fahimi fürchtet, ein solches Vorgehen lade gerade dazu ein, "entweder Vollzeitarbeit zu verdrängen oder die geschlechterungleiche Verteilung von Arbeit noch weiter anzukurbeln", sagte sie der Funke Mediengruppe. Zudem wetterte sie: 

Es ist vollkommen wirklichkeitsfremd, die Arbeitsmoral der Beschäftigten infrage zu stellen: Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland mehr als 1,3 Milliarden Überstunden geleistet, weit mehr als die Hälfte davon war unbezahlt. Hier hat sich in den letzten Jahren ein riesiger Haufen Geld angehäuft, den sich die Arbeitgeber in ihre eigene Tasche stecken."

Auch Verdi-Chef Frank Werneke hielt bei den Funke-Zeitungen dagegen und plädierte dafür, dass Arbeitgeber von vornherein so viel zahlten, dass Überstunden für die Beschäftigten attraktiv sind und der Staat weiterhin Einnahmen erzielt. "Andernfalls erodiert die Einnahmebasis des Staates immer weiter."

Mehrarbeit als Ausnahme und mit Wertschätzung bitte

Und die Arbeitnehmer? Die reiben sich angesichts der bereits geleisteten Mehrarbeit, die der Gesundheit deutlich schadet, was durch diverse Krankenkassen-Gesundheitsreporte verbrieft ist, verwundert die Augen. "Überstunden sollen die Ausnahme sein, weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Recht auf Gesundheit und auf Freizeit haben", so auch die sozialdemokratische Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katharina Barley. Alles andere schade zudem der Mitarbeiterzufriedenheit und sorge für Fluktuation, so die Untersuchungsergebnisse von Ingrid Luttenberger:

Wer [... ] deutlich mehr leistet als andere (11–15 Wochenüberstunden und darüber), empfindet die "normale", übliche Wertschätzung als unzureichend. [...] Die finanzielle Abgeltung der Überstunden alleine wird hier noch nicht als "fairer Ausgleich" empfunden. Der "faire Ausgleich" ist aber ein Dynamisierungsfaktor für Motivation. Nimmt er ab oder entfällt er, muss gegengesteuert werden. Soll die Motivation der mehr leistenden Mitarbeiter aufrechterhalten werden, ist also für sie ein Mehr an Wertschätzung durch die Führungskräfte als positiver Dynamisierungsfaktor nötig."

Und auch Niklas Shaper, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Paderborn, betont: "Übersteigen die Arbeitsanforderungen die Bewältigungsmöglichkeiten einer Person, kann es zu kurzfristigen sowie anhaltenden Stresszuständen kommen", schreibt er in "Wirkungen der Arbeit".

58 Prozent der Überstunden bleiben unbezahlt

Zudem werden nicht nur bereits sehr viele Überstunden geleistet, sondern sie werden auch leider viel zu oft überhaupt nicht vergütet, wie DGB-Chefin Yasmin Fahimi zurecht moniert. Von fairem Ausgleich oder Wertschätzung also keine Spur. Das trifft konkret auf mehr als die Hälfte der Überstunden zu. So entfielen laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2023 auf jeden Arbeitnehmenden im Schnitt 31,6 zusätzliche Arbeitsstunden, wovon 58 Prozent unbezahlt geleistet wurden.

Immerhin ist den Angaben zufolge das Gesamtvolumen der Überstunden rückläufig. Sammelten Beschäftigte um die Jahrtausendwende noch mehr als 2.000 Millionen Extrastunden an, waren es zuletzt noch 1.329 Millionen Überstunden.

Noch nie so viel Arbeitsstunden wie 2023

Auch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Entwicklung der Arbeitszeiten seit der Wiedervereinigung ergibt, dass das Gesamtvolumen der Arbeitsstunden steigt. Gleichzeitig sinke aber die durchschnittliche Wochenarbeitszeit. So wurde im wiedervereinigten Deutschland mit insgesamt rund 55 Milliarden Stunden trotz Konjunkturflaute noch nie so viel gearbeitet wie im Jahr 2023. 1991 seien es es noch 52 Milliarden gewesen. Als Begründung nennen die DIW-Forschenden, die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) und der Volkwirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) herangezogen haben, das Plus bei den erwerbstätigen Frauen. 

Arbeitsmarktpotenzial von Frauen nutzen

Und genau hier setzt eine der Politikempfehlungen der DIW-Forschenden an: "Um dem Fachkräftebedarf zu begegnen, sollten das Arbeitsmarktpotenzial von Frauen besser genutzt und Fehlanreize behoben werden", befindet Annika Sperling, Studienautorin und studentische Mitarbeiterin im SOEP. Mit Fehlanreizen sind Vergünstigungen und Steuervorteile gemeint, die fördern, dass Frauen zuhause bleiben. Von steuerlichen Anreizen, mehr Überstunden zu leisten, ist dabei als möglicher Lösungsansatz für die schwindende Produktivität von Unternehmen aber keinesfalls die Rede. 

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